Der Spiegel - 21.03.2020

(Michael S) #1
schulterzuckend oder lächelnd umgehen
lassen.
Ihre Mutter sei »geistig total gut drauf«,
erzählt Jutta Calgéer, aber sie verstehe
einfach nicht, dass Menschen stille
Überträ ger des Virus sein können, ohne
dabei Krankheitssymptome zu zeigen. Cal-
géers Schwiegermutter, Oma Hildegard,
ebenfalls über 90 Jahre alt und sehr rüstig,
tat sich anfangs noch schwerer, den Ernst
der Lage zu begreifen.
Dass sie sonntags nicht mehr in die Kir-
che gehen dürfe, sei ihr noch zu vermitteln
gewesen. Als ihre Kinder und Enkel sie
aber baten, auf das Konzert ihres Lieb-
lingspianisten im Festsaal der Neuen Aula
der Universität zu verzichten, erklärte sie
trotzig: »Das entscheide ich!« Das Konzert
wurde abgesagt. »Zum Glück«, sagt
Schwiegertochter Calgéer.
Vielen, die da jetzt von ihren erwachse-
nen Kindern durch die Krise geleitet wer-

den, gefällt die neue Form der Fürsorge
nicht. Sie fühlen sich bevormundet und
ins Abseits gestellt. Oder sie meinen, dem
Virus mit jenem Eigensinn trotzen zu kön-
nen, der sie bislang noch immer durchs Le-
ben gebracht hat.
Und so hängen deutschlandweit erwach-
sene Kinder am Telefon, schreiben Mails,
schicken Sprachnachrichten, betteln, wüten,
schimpfen, flehen und argumentieren, da-
mit ihre Eltern sich bloß an das neue Gebot
halten: Abstand! Und die Alten merken oft
nicht, dass ihre Kinder sie gerade jetzt viel
lieber ausgiebig besuchen würden, weil mit
den Schreckensbildern aus Italien auch die
Verlustängste zugenommen haben.
Vielleicht verhalte sich ihre Schwieger-
mutter so uneinsichtig, weil sie glaube, so-
wieso nicht mehr viel Lebenszeit zu haben,
mutmaßt die 48-jährige Alexandra, die in
Brandenburg lebt und in der IT-Branche
arbeitet. Ihren Nachnamen möchte sie
nicht nennen, weil sicherlich nicht alle An-
gehörigen begeistert wären, wenn ihre Fa-
milienkonflikte öffentlich würden. Vor ei-
nigen Jahren sei die Schwiegermutter an
Krebs erkrankt, erzählt Alexandra. Sie
habe sich zwar wieder erholt, aber ihr Im-
munsystem sei geschwächt. Dennoch ver-
lasse sie nach wie vor unverdrossen die
Wohnung, um einzukaufen oder ihre Be-
kannten in Cafés zu treffen.
»Es regt mich furchtbar auf, dass sie den
Ernst der Lage nicht versteht«, sagt Ale-

im Hintergrund die quengelnden Töchter
und Söhne.
Kein Fußballtraining, keine Turnstunde,
keine Probe mit der Band – und wenn die
Familien die Isolation so ernst nehmen wie
vorgesehen, auch keine Treffen mit den
Freunden.
Stattdessen Gereiztheit und strapazierte
Nerven. Die Sorgen um die Gesundheit
nehmen zu; die Zukunftsängste, aber auch
die Furcht, bald keinen Job mehr zu haben.
Und die rüstigen Großeltern, Tanten oder
Nachbarn im besten Alter, die bisher noch
in jedem Ernstfall einsprangen und zudem
Trost spendeten, dürfen nicht ran.
Im Gegenteil: Man müsse Enkel und
Großeltern auf Abstand halten und ältere
Menschen auch sonst vor Außenkontakten
schützen, forderte einer der gefragten Er-
klärer dieser Pandemie, der Virologe
Christian Drosten von der Berliner Chari-
té, bereits in der vergangenen Woche. In
ihrer Ansprache am Mittwoch schloss sich
die Bundeskanzlerin der Mahnung an.
Schon Menschen in einem Alter zwi-
schen 50 und 60 Jahren gehören zur Ri -
sikogruppe, Menschen mit einem ge-
schwächten Immunsystem, Krebsleiden,
Zuckerkrankheit oder Problemen an Herz,
Lunge oder Leber gelten ohnehin als ge-
fährdet, Männer und Frauen ab 80 wie
Edith Becker noch einmal mehr.
Die Altersangaben waren in den ver -
gangenen Tagen so oft zu hören und lesen,
dass viele sie mittlerweile auswendig her-
sagen können. Doch nun das eigene Leben
danach umzurüsten bringt selbst krisen -
erprobte Familien an ihre Grenzen.
Brächen überall verlässliche Strukturen
weg, reagierten viele Menschen verunsi-
chert, ängstlich oder wütend, sagt die
Kommunikationspsychologin Regine Hei-
land. Noch mehr als sonst müsse man da-
rauf achten, respektvoll und wertschät-
zend miteinander umzugehen – selbst
wenn einzelne Familienmitglieder die Be-
drohung unterschiedlich einschätzten, sagt
Insa Fooken, die als Psychologin Senior-
professorin an der Goethe-Universität in
Frankfurt am Main ist. Und Hartmut Ra-
debold, 84 Jahre alt und emeritierter Pro-
fessor für Klinische Psychologie in Kassel,
urteilt selbstkritisch: »Vor allem vielen al-
ten Menschen fällt es in einer Situation
wie dieser schwer, sich angemessen zu ver-
halten.«


Es fehlt eine Blaupausefür den Umgang
mit einer globalen und unsichtbaren Be-
drohung wie dem Coronavirus – in Kran-
kenhäusern, Regierungsrunden oder an
der Frankfurter Börse nicht anders als im
Alltag der Familien. Die üblichen Strate-
gien für Problemlagen helfen nicht weiter.
Inmitten der angstbesetzten, unsicheren
Lage drängen vielmehr Konflikte an die
Oberfläche, die sich in heitereren Zeiten


DER SPIEGEL Nr. 13 / 21. 3. 2020 51


»Es regt mich furcht-


bar auf, dass sie


den Ernst der Lage


nicht versteht.«


xandra, jedes Telefonat zwischen den
beiden sei in den vergangenen Tagen ähn-
lich verlaufen. Alexandra spreche an, wie
wichtig es sei, zu Hause zu bleiben – und
die Schwiegermutter wiegele genervt ab:
Sie lasse sich in ihrer Freiheit nicht be-
schränken.

Wer unter Freunden, Nachbarinnen und
Kollegen herumfragt, hört von ähnlichen
Konflikten: Betagte Mütter, die ihre run-
den Geburtstage wie geplant im großen
Kreis zu feiern gedenken. Großeltern, die
schmallippig die Telefonate beenden, weil
sie ihre Enkel auf unbestimmte Zeit nicht
treffen dürfen.
Natürlich, das gehört ebenfalls zur
Wahrheit, sind keinesfalls alle älteren Men-
schen so verbohrt. Viele verhalten sich um-
sichtig und überlegt, auch weil sie ihren
Kindern in der ohnehin angespannten Si-
tuation keine zusätzlichen Sorgen und Pro-
bleme bereiten wollen. Manche besuchen
nicht einmal die Beerdigungen guter
Freunde. Und nicht selten lassen sich die
unterschiedlichen Sichtweisen von Jung
und Alt doch irgendwie versöhnen.
Hartmut Radebold, der in Deutschland
als Nestor für die Psychotherapie Älterer
gilt, weiß den vermeintlichen Starrsinn sei-
ner Generation zu erklären. »Sie bringt
leider keine guten Vorerfahrungen für die-
se Krise mit«, sagt er. »Und die anschlie-
ßenden Jahrgänge ebenfalls nicht.« Rade-
bold meint: »Wir haben als Kinder oder
Jugendliche den Zweiten Weltkrieg miter-
lebt und wurden dazu erzogen, unserem
Körper keine Schwäche zuzugestehen.
Dieses Erziehungsideal reichte bis in die
Sechzigerjahre.«
Seine Frau und er hätten sich nun in
selbst gewählte Quarantäne zurückgezo-
gen, erzählt er, einmal in der Woche brin-
ge ein Lieferservice Lebensmittel. Man
verlasse das Haus nur noch für einsame
Spaziergänge. «Doch in meiner Alters-
gruppe gilt solch ein Verhalten oft als über-
trieben vorsichtig.« Zäh wie Leder, hart
wie Kruppstahl: Dieses Ideal Hitlers habe
das Selbstverständnis geprägt und wirke
noch immer nach. »Wer am eigenen Leib
erlebt hat, dass er schlimmsten Hunger,
Bombenangriffe und eisige Kälte überste-
hen kann, hält Prävention für eher ver-
zichtbar.« Und im Vergleich mit der Co-
ronakrise erschienen vielen die Kriegs -
erfahrungen wesentlich schlimmer. »Heu-
te sieht alles um uns herum nach wie vor
heil aus«, sagt er.
Dazu komme ein weiterer Punkt, meint
die Seniorprofessorin Insa Fooken, 72 Jahre
alt. »Wann immer man in den vergangenen
Jahren über die Anhebung des Rentenalters
oder die Verlängerung der Lebensarbeits-
zeit diskutierte, galten die Senioren in die-
sem Land als die neuen belastbaren Alten.
Und nun auf einmal sollen sie zu Hause
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