Der Spiegel - 21.03.2020

(Michael S) #1

bleiben, sich von der Fürsorge ihrer Kinder
abhängig machen und sind nicht einmal
mehr als Bezugspersonen für ihre kleinen
Enkel gefragt. Das schürt die im Alter ver-
breitete Angst, eben doch kaum mehr zu
etwas nütze zu sein.«


Fooken hat die Muster in Beziehungen
zwischen Eltern und erwachsenen Kin-
dern untersucht, sie versteht die Konflikte
um den richtigen Umgang mit Corona
auch als Ausdruck unterschiedlicher Blicke
auf die Welt.
»Zahlreiche Großeltern von heute sind
die Achtundsechziger von gestern«, sagt
sie. »Sie haben gegen die Notstandsgesetz-
gebung und überhaupt gegen staatliche
Bevormundung gekämpft. Nun finden sie
sich in einer Situation wieder, in der per-
sönliche Freiheitsrechte mit jedem Tag wei-
ter eingeschränkt werden – und ihre Kin-
der nehmen es nicht nur hin, sondern hal-
ten es für zwingend notwendig.«
Vielleicht könne diese Kindergeneration
die Wucht der gegenwärtigen Bedrohung
tatsächlich besser einschätzen, meint die
Wissenschaftlerin. »Die Jüngeren sortie-
ren die Informationen über die Krise un-
bewusst nach einem anderen Raster, weil
sie bereits mit der Welt der Computer und
künstlichen Intelligenz aufgewachsen sind.
Der Gedanke, dass unsichtbare, unver-
ständliche Viren alles infiltrieren und ent-
setzlichen Schaden anrichten können, ist
ihnen vertrauter.«
Doch nicht nur unterschiedliche Gene-
rationen, auch viele Paare ringen gerade
um das angemessene, das richtige Verhal-
ten. Weil Corona den Menschen vorführt,
in welchem Ausmaß sie voneinander ab-
hängig sind, entstehen Spannungen vor al-
lem dort, wo sie besonders eng zusammen-
leben.
Steffen Winter, SPIEGEL-Korrespon-
dent in Dresden, hat es beispielhaft erlebt
und für diesen Text aufgeschrieben:
»Donnerstag letzter Woche kam meine
Frau zu mir und sagte: ›Heute Vormittag
kommt ein Mann wegen des Geschirrspü-
lers. Der pumpt nicht mehr ab.‹ Sie weiß
genau, dass ich seit Corona niemanden
mehr sehen will.
Der Mann kam, schaute kurz auf das
Gerät und meinte, er werde mal ein Er-
satzteil bestellen. Er gab mir seinen Stift,
ich unterschrieb. Könne dauern, sagte er.
›Sie wissen schon, Corona.‹
Ich wusste und begleitete ihn hinaus.
Meine Frau erklärte mir abends, ich solle
mich nicht so haben, und sie treffe übri-
gens am folgenden Tag eine Freundin. Die
Freundin ist Lateinlehrerin, sie hatte zu
dem Zeitpunkt täglich Kontakt mit hun-
dert Schülern und vielen Kollegen. Ich
merkte dies an, aber meine Frau sagte be-
stimmt: ›Ich lass mir doch nicht mein gan-
zes Leben einschränken.‹ Die anschließen-


de Debatte führte zu einem weitgehend
getrennt verbrachten Abend.
Montag rief der Techniker an. Er könne
erst mal nicht kommen. Er habe gerade er-
fahren, dass er vor einiger Zeit schon mit
einem Infizierten Kontakt gehabt habe.
Das Testergebnis stehe aus.
Kurz darauf meldete sich die Freundin
meiner Frau. Es gebe einen Fall an ihrem
Gymnasium. Sie sei nun in Quarantäne.
Meine Frau hat inzwischen Grippe-
symptome. Der Hausarzt hat mir einen
Corona-Test zukommen lassen, wir warten

auf das Ergebnis. Debatten bringen nichts
mehr. Ich habe meine Frau umarmt.«
Jeder Mensch verfolge eigene Strate-
gien, um gegen Gefühle von Angst und
Unsicherheit anzugehen, sagt der Psycho-
therapeut Oskar Holzberg, der als Autor
von Kolumnen über Paarkonflikte be-
kannt ist. »Es ist hilfreich, sich das bewusst
zu machen: Dem einen hilft es, den An-
schein von Normalität so lange wie mög-
lich aufrechtzuerhalten, den anderen be-
ruhigt der größtmögliche Rückzug aus
dem Alltag.« Und während es manche
Menschen entlaste, die eigenen Sorgen im-
mer wieder durchzusprechen, würden an-
dere die Probleme lieber erst einmal von
sich fernhalten und sich noch gar nicht
damit beschäftigen wollen.

»Im Moment schwingt in solchen Ge-
sprächen auch noch die Frage nach
dem Überleben mit«, sagt Holzberg. »Das
sind natürlich konfliktträchtige Situatio-
nen.«
Er glaubt: »Wir stehen erst am Anfang
eines großen Experiments. Die sozialen
Situationen, die auf uns zukommen, kön-
nen sich anfühlen, als befände man sich in
einem Dampfkochtopf, in dem einem die
Konflikte um die Ohren fliegen.«
Wie sich verhindern lässt, dass es so
weit kommt? Wichtig sei, dem anderen zu
verstehen zu geben, dass man seine Sicht
und Bedürfnisse ernst nehme – auch wenn
es viel Geduld erfordere, meinen die Ex-
perten. Den erwachsenen Kindern emp-
fiehlt der Altersforscher Radebold, an die
Fürsorge der älteren Generation zu appel-
lieren: an die aus früherer Zeit vertraute
Rolle. »Es hilft Großeltern zu hören, dass
sie auf sich aufpassen sollen, weil die Enkel
sie noch brauchen«, sagt er.
Auch zu Experimenten mit anderen For-
men von Nähe in dieser Zeit der Isolation
raten die Fachleute. »Küsse gegen die Fens-
terscheibe, kurze tägliche Videofilme,
Briefe vom Enkel oder auch mal mehrere
Telefonate am Tag«, zählt Psychologin
Fooken auf.
Überhaupt könne es sinnvoll sein, sich
nun rasch neue Strukturen aufzubauen,
die einem Halt bieten könnten: regelmä-
ßige Spaziergänge, solange sie nicht unter-
sagt sind. Morgens die Gymnastikmatten
im Wohnzimmer ausrollen und turnen.
Wer eigenständig handelt, fühlt sich weni-
ger ausgeliefert.
Auch über Rückzugsmöglichkeiten solle
man nachdenken. Denn nicht nur Einsam-
keit, auch ein andauerndes, unfreiwilliges
Gemeinschaftsleben kann belastend wer-
den. »Bereits eine Stunde unterm Kopf -
hörer kann hilfreich sein. Oder man zieht
beim Kochen die Küchentür hinter sich zu,
um mal ohne Familie zu sein«, empfiehlt
Regine Heiland.
Schon Kindern im Grundschulalter kön-
ne man vermitteln, dass Auszeiten für El-
tern ab sofort zwingend dazugehören,
meint die Kommunikationspsychologin.
»Stellen Sie eine Uhr auf, besprechen Sie,
auf welche Zahl der große Zeiger wandern
muss, und verabreden Sie, wie Ihr Kind
die Zwischenzeit verbringt.«
Und vielleicht müsse man sich in diesen
Tagen immer wieder mal gemeinsam aus-
malen, dass man wie auf einer langen
Schiffsreise unterwegs sei, sagt Heiland.
»Man kann das Boot nicht verlassen, legt
aber gewiss irgendwann wieder an und fin-
det dann die Freunde, den Spielplatz und
den Lieblingseisladen wieder. Darin steckt
für alle ein Trost.«
Laura Backes, Anna Clauß, Katja Thimm,
Steffen Winter

52 DER SPIEGEL Nr. 13 / 21. 3. 2020


STEFAN THOMAS KROEGER
Psychoanalytiker Radebold
»Alles um uns sieht nach wie vor heil aus«

»Debatten bringen


nichts mehr.


Ich habe meine


Frau umarmt.«

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