Der Spiegel - 21.03.2020

(Michael S) #1
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Birol Uçan, Berlin

»Hab Gottvertrauen«


Wir haben jetzt Alkohol mit Zitro-
nenduft für den Alltag, zum Desinfi-
zieren. Zum Beten nehmen wir Rosen-
wasser. Das Freitagsgebet hier in der
Omar-ibn-Al-Khattab-Moschee findet
weiterhin statt, aber nur unter 50 Per-
sonen und mit Anwesenheitsliste. Die
meisten bleiben zu Hause. Wir geben
uns nicht mehr die Hand. Alle Pilger-
fahrten nach Mekka sind abgesagt.
Viele können nicht mehr zu ihren
Familien in die Türkei, in den Liba-
non, nach Tunesien oder Marokko.
Das habe ich noch nie erlebt. Wir mer-
ken: Hier passiert etwas Großes. Ich
dachte immer: Das ist Deutschland!
Kein Krisengebiet! Jetzt sehen wir im
Fernsehen Menschen mit Gasmaske
einkaufen gehen. Wir leben nicht iso-
liert. Wir Gläubigen sind sehr reinlich.
Wir waschen uns die Hände vor dem
Gebet, vor dem Essen. Wer krank ist,
kann zu Hause beten. Wir finden in
unseren Überlieferungen auch Regeln
zum Umgang mit Seuchen. So soll der
Prophet verboten haben, Orte, an
denen die Pest ausgebrochen ist, zu
betreten oder zu verlassen. Eine gute
Quarantäneregel. Wir haben Gott -
vertrauen, wir glauben an die Vorher-
bestimmung. Wenn es uns trifft, dann
soll das so sein. Wir erzählen der
Gemeinde vom Propheten. Den hat
jemand gefragt, ob er sein Reittier
anbinden oder Gottvertrauen haben
soll. Und der Prophet hat geantwortet:
Binde es an und hab Gottvertrauen.

Ich bin Inhaber des Hülsta-Studios
Scharbau im Hamburger Stadtteil
Barmbek, ich mache das seit 14 Jahren.
Hauptsächlich bin ich im Büro, aber ich
gehe auch jeden Tag durch die Ausstel-
lung, 3000 Quadratmeter, etwa 30 klei-
ne Wohnwelten auf drei Etagen. Seit
Anfang März kommt kein Kunde mehr.
Ich habe 15 Mitarbeiter, davon allein
fünf Einrichtungsberater. Unsere Stärke
sind Ausbauten von Wand zu Wand, wir
haben eine eigene Tischlerei mit im
Haus. Die Kunden warten ab. Sie sind
unsicher, ob sie überhaupt etwas planen
sollten. Ich verstehe das. Ich fühle mich
ja auch so. Langsam werde ich trotzdem
unruhig. Ich habe jeden Monat Kosten
von rund 70 000 Euro, ich frage mich,

wie es weitergeht. Noch ist Substanz da,
aber wie lange noch? Heute habe ich bei
der Bundesagentur für Arbeit angerufen.
Ich habe eine Registrierungsnummer
bekommen, zum allerersten Mal. Unser
Steuerberater könnte mit der Nummer
Kurzarbeit anmelden. Die Wirtschafts-
behörde hier in Hamburg hat eine Hot -
line eingerichtet von 9 bis 17 Uhr, wir
haben jetzt Nachmittag, und bislang war
da immer besetzt. Von der Handels -
kammer hören wir leider gar nichts. Das
ärgert mich. Seit Jahren zahle ich als
Mitglied Beiträge. Mit der Bank habe
ich auch telefoniert, um nach einem
Kredit zu fragen, aber die sagte: Sie
werden 62, wie wollen Sie das Geld
denn zurückzahlen?

Ich als Leiter des Tropen-Aquariums
vermisse die Besucher vom Tierpark
Hagenbeck sehr, die meisten Tiere ver-
missen sie wahrscheinlich eher nicht.
Wenn hier eine Schulklasse durchgeht,
dann ist es nicht nur laut, es entstehen
Vibrationen, für die manche Tiere, vor
allem Schlangen, sehr empfindlich sind.
Die Basilisken flitzen jetzt auf Mauern,
auf denen sie normalerweise nicht ren-
nen, ich gehe davon aus, dass sie die
zusätzliche Freiheit genießen. Die Vögel
trauen sich mehr zu, die Finken gehen
jetzt auch tagsüber in die Reptilien -

gehege hinein und suchen nach Insekten,
das machen sie sonst nur, wenn die Be -
sucher weg sind. Den Flughunden ist die
Schließung vermutlich egal, sie sind
nachtaktiv, nur die Kattas wundern sich,
warum überhaupt keiner da ist. Für sie
waren die Besucher eine willkommene
Abwechslung, die sind den Leuten auch
mal auf die Schulter gesprungen. Gut ist,
dass wir nun vieles entspannt machen
können, was wir früher in Nachtschich-
ten erledigen mussten, Sand in den
Gehegen austauschen, Bohlen wechseln,
Leitungen im Aquarium absaugen.

Guido Westhoff, Hamburg

»Die Vögel trauen sich mehr zu«


Frank Scheppmann, Hamburg

»Noch ist Substanz da, aber wie lange noch?«


PHILIPP SCHMIDT / DER SPIEGEL

Protokolle aufgezeichnet von Uwe Buse, Barbara Hardinghaus, Felix Hutt, Timofey Neshitov,
Dialika Neufeld, Yannick Ramsel, Jonathan Stock
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