Der Spiegel - 21.03.2020

(Michael S) #1

S


ibylle Katzenstein steht in ihrem
Sprechzimmer und sagt, hier wer-
de bald nichts mehr so sein, wie
es mal war. Sie läuft mit strengem
Blick durch ihre Praxis, 230 Quadratmeter
in Berlin-Neukölln, Holzdielen, Rattan -
stühle, Unisex-Toilette. Gerade war sie im
Baumarkt, Sperrholz holen, Winkel, Dü-
bel, Schrauben und Plexiglas – Zuschnitte,
groß wie Balkontüren. Sie müsse sich vor-
bereiten, die Praxis umbauen, sagt Kat-
zenstein. »Das Land ist nicht bereit.«
In ihrem Sprechzimmer sind die Wände
karg, dort steht eine blaue Patientenliege,
gegenüber ihr Schreibtisch aus dunklem
Holz. Den Stuhl für die Patienten hat
Katzenstein seit ein paar Tagen in die an-
dere Ecke des Raums gestellt, maximale
Distanz.
Am Montagmorgen, 10.15 Uhr, sitzt
eine Patientin auf diesem Stuhl, sie ist 17
Jahre alt, hat schwarzes Haar, trägt Jog-
ginghose und Mundschutz.


»Wie kann ich helfen?«,fragt die
Ärztin.
»Ich weiß nicht, ob’s Corona ist, ich
habe starke Gliederschmerzen, und
beim Atmen tut’s mir weh«,ant -
wortet die Patientin.
»Wann hat das angefangen?«
»Letzte Woche.«
»Keinen Kontakt zu anderen Men-
schen?«
»Nicht, dass ich wüsste.«
Sie presst ihre Knie zusammen.
»Ich habe Angst, dass es Corona ist«,
sagt sie.
»Auslandsreisen?«,fragt die Ärztin.
»Ich war nur in England, aber das ist
ja kein Risikogebiet.«
»Da gibt es schon viele Fälle. Und
dann hatten Sie ja auch sozialen
Kontakt.«
»Ja. Okay, stimmt.«
»Wir machen den Test. Sie gehen
jetzt nach Hause. Sie bleiben dort.
Wir melden uns.«

Katzenstein ist 53 Jahre alt und Hausärz-
tin. Ihre Praxis ist in diesen Tagen ein Ort,
an den Menschen kommen, die sich sonst
nicht versorgt fühlen.
Die Berliner Hotline für Verdachtsfälle
ist nahezu pausenlos besetzt. Die Charité


hat im Wedding weiße Zelte aufgestellt,
davor stehen Menschen in Schutzmontur.
Schon morgens bilden sich hier Schlangen.
»Die Stadt kommt nicht mehr hinter-
her«, sagt Katzenstein. Seit rund zwei
Wochen testet sie ihre Patienten selbst auf
Corona. Dazu streichen die Patienten mit
einer Art Wattestäbchen selbst den Ra-
chenbereich hinter ihren Mandeln ab. Die
bürokratische Bearbeitung übersteige den
Aufwand eines Tests bei Weitem, sagt Kat-
zenstein. Für jeden einzelnen Test müsse
sie dreimal eine fünfstellige Ziffer für die
Kassenärztliche Vereinigung eintragen,
das könne sie zeitlich nicht mehr leisten.
Vor der Pandemie habe sie maximal an-
derthalb Stunden täglich mit Dokumenten
verbracht, nun brauche sie mehrere Stun-
den. Deshalb lasse sie das meiste liegen.
Bis wann?
»Bis das hier vorbei ist.«
Draußen an der Praxis hängen Warn-
schilder, bei akutem Infekt solle man eine
E-Mail schreiben oder anrufen. Wer sich
trotzdem behandeln lassen will und fürch-
tet, sich infiziert zu haben, solle den sepa-

raten Eingang nutzen. Auf dem Empfangs-
tresen stehen die Plexiglasscheiben aus
dem Baumarkt. Katzenstein hat jetzt ein
Wartezimmer für mögliche Infizierte, statt
Magazinen und Zeitungen liegen dort Des-
infektionsmittel und Einmaltücher auf den
Tischen. Die drei Stühle stehen mit 1,80
Meter Abstand zueinander, der Raum hat
einen eigenen Eingang zur Straße. An die
Wände sind Regale geschraubt, dort ste-
hen Kartenlesegeräte, die Patienten sollen
ihre Krankenkassenkarten selbst durchzie-
hen. Mit der Stichsäge will Katzensteins
Bruder in die Tür zum Wartezimmer ein
Loch sägen, es soll eine Durchreiche wer-
den, für Corona-Tests, wie beim Nacht-
schalter an der Tankstelle. Ihre Hausarzt-
praxis hat Katzenstein in diesen Tagen um-
gebaut in eine Corona-Station.
Am Empfang klingelt das Telefon unun-
terbrochen, die Sprechstundenhilfe nimmt
nur noch sporadisch den Hörer ab. Im
Wartezimmer sitzen Menschen mit Mund-
schutz. In diesen Tagen sind es nicht nur
die Stammpatienten, die Katzenstein um
ihren Rat fragen.
Die nächste Patientin an diesem Mor-
gen trägt Mantel und Brille, sie ist zwei -
fache Mutter, vielleicht Mitte vierzig. Sie
betritt das Sprechzimmer, stellt sich in
eine Ecke, den Mantel lässt sie zu. Sie hat
Tränen in den Augen. Das Gespräch dau-
ert sieben Minuten. Als Katzenstein raus-
kommt, sagt sie: »Ich kannte die Patientin
nicht. Sie hatte gehört, dass ich Tests
anbiete. Sie ist gleich in Tränen ausgebro-
chen. Sie sagte, sie habe Angst. Auch um
ihre Kinder. Sie weinte und bat mich, sie
zu testen. Ich fragte sie, ob sie krank sei.
Sie antwortete, nein, nur etwas Schnup-
fen. Ich sagte, ich könne sie leider nicht
testen. Wir können nicht jeden testen.«
Die Sprechstundenhilfe trägt Schieber-
mütze und Dreitagebart, er sagt, wenn die
Leute im Café bald keinen Cappuccino
mehr bekämen, sei das total egal. Nicht
egal sei aber, ob Katzenstein sich infiziere.
Deshalb hat er das ganze Wochenende lang
die Halterungen für das Plexiglas gesägt.
Während er sägte, fuhr Katzenstein ih-
ren Renault-Kastenwagen vor die Praxis,
27 Pakete Klopapier, Espresso, Kosmetik-
tücher, Geschirr-Tabs, Batterien, Dosen-
suppen – Spargelcreme, Tomate – Scho-
kolade, Einmalhandschuhe. Praxisbedarf.
Sie habe China verfolgt, sagt Katzen-
stein, im Januar, da habe sie sich gegru-
selt. Wie sie dort alles dichtmachten und
mit Desinfektionsmittel die Straßen ein-
nebelten. Aber sie habe nicht geglaubt,
dass es in Deutschland so weit kommen
würde.
Dann kam das Virus nach Italien, da
habe sie es gespürt. Sie rief nach Hilfe,
schrieb Mails an die Kassenärztliche Ver-
einigung, das Robert Koch-Institut und
weitere, am 1. März war das.

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Coronakrise

Vor dem Ansturm


VersorgungDie Hausärztin Sibylle Katzenstein behandelt
täglich Menschen, die glauben, sich infiziert zu haben. Sie rüstet ihre
Wartezimmer mit Plexiglas aus und hat nur noch sechs

Atemmasken im Lager – wie lange kann das gut gehen? Von Max Polonyi


MILOS DJURIC / DER SPIEGEL
Medizinerin Katzenstein
Knapp 70 Patienten in dreieinhalb Stunden

DER SPIEGEL Nr. 13 / 21. 3. 2020
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