Der Spiegel - 21.03.2020

(Michael S) #1

»Sehr geehrte Damen und Herren«,
schrieb sie, »die Wartezimmer von Arzt-
praxen, Krankenhäusern sowie Kranken-
transporte werden zu einem wichtigen
Zentrum zur Verbreitung des Coronavirus,
falls nicht umgehend entsprechende Maß-
nahmen getroffen werden.«
In dem Schreiben forderte sie techni-
sche und finanzielle Unterstützung für
Videosprechstunden, dazu Spots zur Auf-
klärung der Öffentlichkeit im Fernsehen,
eigene Wartezimmer für Infizierte in allen
Praxen, ein Fünfpunkteplan.
Am 13. März antwortete die Pressestelle
des Robert Koch-Institutes: »Vielen Dank
für Ihre Anfrage. Viele Informationen und
Erläuterungen bezüglich Ihrer Hinweise
finden Sie auf den Seiten ...«. Eine Ant-
wort in fünf Sätzen. Sie seien gar nicht
auf ihre Fragen eingegangen, sagt Katzen-
stein.
Keiner habe sie ernst genommen.
Sie hat sich alle Maßnahmen selbst
auferlegt, keine Türklinken, kein Hände-
schütteln, möglichst Telefon- und Video-
sprechstunden. Seitdem kümmert sie sich
selbst.
Als die Deutschen noch mit Flugzeugen
flogen und zur Arbeit fuhren, hat Katzen-
stein eine Waschmaschine gekauft. Ihre
Mit arbeiter sollten die kontaminierten
Arztkittel nicht mit nach Hause nehmen
müssen. Als die Kinder noch zur Schule
gingen und ins Kino, fuhr sie in den Elek-
tromarkt und besorgte zwei Laptops. Für
Videosprechstunden.
Sie organisierte Corona-Test-Kits aus
dem Labor, mit dem sie zusammenarbei-
tet. Sie besuchte Talkshows und sagte, die
Behörden seien überlastet, es wäre gut,
wenn mehr Hausärzte Tests anbieten wür-
den. Sie rief alle ihre Patienten ab 70 an
und sagte anstehende Termine ab. Sie gab
ihnen eine Notfallnummer, die sie wählen
sollten, wenn etwas sei. Sie sagte ihnen,
es würde nun eine andere Zeit anbrechen.
Nicht alle glaubten ihr.
»Also, ich war ja vor ein paar Monaten hier,
wegen meiner schmerzenden Füße«,sagt
der Patient. Er ist 71 Jahre alt, Stamm -
patient, rheumatische Beschwerden. Er
hat einen Termin.


»Sie sollten gar nicht hier sein«,
antwortet die Ärztin.
»Mir geht’s gut, ich bin in Ordnung«,
sagt der Patient.
»Das ist schön. Jetzt sind Sie hier, wo-
rum geht’s denn?«
»Ich habe seit einigen Wochen wie-
der diese Morgensteifigkeit ...«
»Nehmen Sie noch Ihre Medikamen-
te?«
»Ich habe bald keine mehr, ich brau-
che neue Rezepte von ...«
»Schreibe ich Ihnen aus. Sie müssen
zu Hause bleiben. Es ist wichtig.«

soll ich jetzt tun? Ich habe eine Infizierte
geküsst, und nun? Wie funktioniert die
Quarantäne? Kann ich mein Badezimmer
noch normal benutzen?«
Die Leute seien nicht ausreichend infor-
miert, sagt Katzenstein. Sie will das über-
nehmen, das sei ihr Job.
Ein Freund ihres Bruders steht im Be-
sprechungsraum, er hält eine Kamera, sie
drehen ein Video. Einen Erklärfilm für
Patienten: »Corona-infiziert – was nun?«
Sie simulieren einen Verdachtsfall, es gibt
kein Skript. Eine Freundin spielt die Be-
troffene, sie sitzt in einem Sessel und hus-
tet, jemand ruft sie an, sagt, er sei infiziert.
»Das war nicht gut«, sagt der Kamera-
mann, »noch mal.« Katzenstein in ihrer
Rolle, am Schreibtisch, delegierend, »das
muss mit mehr Gefühl«, sagt sie zu der
Betroffenen.
Den Film will Katzenstein auf YouTube
stellen, da gibt es schon einen von ihr. Er
hat mehr als 9000 Klicks. Ein Do-it-Your-
self gegen Corona aus einer Berliner Arzt-
praxis. »Wir improvisieren hier alles«, sagt
Katzenstein.
Im Lager hat Katzenstein noch sechs
Atemschutzmasken. Von der Kassenärzt-
lichen Vereinigung habe sie gehört, dass
sie sich selbst um Schutzmaterial küm-
mern müsse, sie sei als Ärztin schließlich
freie Unternehmerin. Leider, sagt Katzen-
stein, sei kein Schutzmaterial mehr zu be-
kommen.
Von oben komme nichts, sagt Katzen-
stein, »Kassenärztliche Vereinigung, Äm-
ter – kein Material, kaum Richtlinien, kein
Geld.« Wenn es so weitergehe, fielen in
wenigen Wochen auch viele Hausärzte
aus. Deshalb handle sie jetzt.
Solange sie noch kann, ruft sie ihre Pa-
tienten persönlich an. Katzensteins erster
positiver Test ist ein Mann, der mit Frau
und Kind in Südtirol Ski fahren war. Alle
drei müssen in Quarantäne. Auch die jun-
ge Patientin, die in England war, ist positiv.
Am Telefon fragt Katzenstein sie, ob sie
jemanden habe, der für sie zum Einkaufen
gehe.
In Berlin sind inzwischen die Schulen
geschlossen. Die Klubs, die Bars, die Cafés,
die Wettbüros, die Schwimmbäder, Thea-
ter, Museen. In Katzensteins Praxis brennt
weiterhin jeden Morgen um acht Uhr das
Licht.
Sie hat an manchen Vormittagen knapp
70 Patienten, in dreieinhalb Stunden.
Sie hat sich eine Eieruhr auf den Schreib -
tisch gestellt, die sollte sie nach 15 Minuten
daran erinnern, das Gespräch mit dem
Patienten zu beenden, da das Infektions-
risiko nach einer Viertelstunde deutlich
höher wird, das hat sie in einer Studie
gelesen. Die Uhr klingelte nie. Sibylle Kat-
zenstein hustet in ihren Ellenbogen. »Biss-
chen trockener Hals«, sagt sie.

DER SPIEGEL Nr. 13 / 21. 3. 2020 63

»Kein Material,


kaum Richtlinien,


kein Geld.«


Nachts schlafe sie schlecht, neulich habe
sie von einer Patientenschlange vor ihrer
Praxis geträumt, unendlich lang, sagt sie.
Eine Patientin, Mitte vierzig, medizi-
nisch-technische Assistentin in einer Nach-
barpraxis, steht vermummt mit Schal und
Mütze in ihrem Sprechzimmer.

»Um was geht’s denn?«, fragt die
Ärztin.
»Ach, der linke Brustkorb tut mir
wieder weh«, antwortet die Patientin.
»Tut weh beim Atmen?«, fragt die
Ärztin.
»Ja.«
»Fühlst du dich krank?«
»Ja, ich habe Atemnot.«
»Aber du bist nicht krank?«
»Leicht erkältet, aber das ist bei mir
immer, intervallmäßig ...«
»Ich teste dich nicht.«
»Was soll ich jetzt machen? Soll ich
zu Hause bleiben?«
»Ich kann dich krankschreiben, wenn
du willst. Mehr kann ich nicht tun.«
»Sollen wir nicht doch auf Corona
testen?«, fragt die Patientin.

Es seien immer dieselben Fragen, sagt Kat-
zenstein, die die Patienten ihr stellten: »Ich
hatte Kontakt zu einem Infizierten, was

»Eins noch. Wie ist es mit dem Coro-
na-Test? Wenn ich mich krank fühlen
würde, sollte ich nicht lieber ...«
»Wir können nicht jeden durchtesten.«

Katzenstein sagt, sie sei aus »irgendeinem
blauäugigen Gedanken« damals Ärztin ge-
worden, sie habe einfach Menschen helfen
wollen. Als sie noch junge Ärztin war und
in einer Londoner Rettungsstelle verarz-
tete, wen die Krankenwagen brachten,
kam einmal eine Schwangere, nicht zu ret-
ten, aber mit Zwillingen im Bauch, so er-
zählt sie es. Die Babys lebten wahrschein-
lich noch, aber die Ärzte hätten gezögert,
sie aus dem Bauch zu schneiden. Vielleicht
hätten die Ärzte die Babys holen können,
vielleicht wären sie gesund gewesen. Aber
sie taten es nicht. Mutter und Ungeborene
starben. Das werde sie nie vergessen, das
habe etwas in ihr verändert, sagt sie.
Heute hat Sibylle Katzenstein selbst drei
Kinder, ihr Mann ist Lehrer und organisie-
re jetzt den Heimunterricht. Gerade sei es
schwierig zu Hause, sagt sie, alle sorgten
sich, und, ja, auch sie sorge sich.

Coronakrise
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