Der Spiegel - 21.03.2020

(Michael S) #1

66 DER SPIEGEL Nr. 13 / 21. 3. 2020


V


or fast genau neun Jahren erklärte mir eine Japanerin
in der Evakuierungszone, die um das Kernkraftwerk
von Fukushima gezogen worden war, wie sie ihre Zwie-
beln vor radioaktiven Strahlen schütze. Sie wickelte sie in Zei-
tungspapier und ließ sie acht Tage liegen. Ich stand gemeinsam
mit ihrem Sohn in ihrem kleinen Garten. Der Sohn war ein
junger Modemacher, der aus einem Notlager in Tokio angereist
war, um seine Familie davon zu überzeugen, ihren Heimatort
zu verlassen. Sie wollten nicht weg. Sie hatten ihre Hausmittel.
Gestern hat mir eine Frau aus dem Gazastreifen erklärt,
wie sie sich auf das Coronavirus vorbereite. Sie esse viel Zi-
tronen. Wichtig seien auch
Kräuter und Gewürze. Kamil-
le, Basilikum, Anis, Thymian,
Minze und Ingwer.
Japan ist ein Inselstaat, der
Gazastreifen in gewisser Hin-
sicht auch. An drei Seiten ste-
hen schwer bewachte Sperr-
anlagen, an einer Seite ist das
Meer. Fast zwei Millionen
Menschen sind auf einem
Streifen Land eingesperrt.
Nur wenige dürfen rein oder
raus. Sie sind damit Teil des
Sicherheitskonzepts einer et-
was größeren Insel geworden.
Der Insel Israel. Im Norden
sind der Libanon und Syrien,
im Osten liegt Jordanien, im
Süden Ägypten, im Westen
das Mittelmeer. Das sind alles
unberechenbare Nachbarn.
Die Israelis verlassen sich
vor allem auf sich selbst. Sie
haben eine eigene Sprache ge-
schaffen, sie haben einen der
besten Geheimdienste der
Welt, sie haben »Iron Dome« erfunden, ein System, das feind-
liche Raketen abfängt, sie haben ein eigenes Navigations -
system entwickelt. Und sie bauen viel von dem Gemüse, Ge-
treide und Obst, das sie essen, selbst an. In den Läden be-
kommt man, was gerade geerntet wird: in der Orangenzeit
Orangen, in der Mangozeit Mangos.
Dieser Teil erinnert mich an die DDR, auch ein inselartiger
Staat. Ich kannte in meinem ersten Leben keine Mangos, und
Erdbeeren gab’s nur im Sommer. Im Winter aßen wir Kohl
und Rüben und verschrumpelte Äpfel. Das Jahr über gab es
sogenannte Kuba-Apfelsinen, die schmeckten, als hätten wir
die ebenfalls selbst hergestellt. Ich bin ein großer Fan der
Selbstversorgung. Leider kann man sich mit ihr auch einre-
den, man komme sehr gut allein zurecht. Wenn man das
lange genug gemacht hat, wirkt der Rest der Welt wie eine
Gefahr.
Israel ist eines der ersten Länder, die eine Quarantänepflicht
für Reisende aus dem Ausland eingeführt haben. Ausgenom-
men waren zunächst die US-Amerikaner, weil Minister -
präsident Benjamin Netanyahu eine gutes Verhältnis zu US-

Präsident Donald Trump hat. Er versuchte, verschiedene Bälle
in der Luft zu halten. Dann wurde alles Mögliche geschlossen,
zuletzt Restaurants und Cafés, mit Ausnahme einiger Gast-
stätten im mehrheitlich ultraorthodoxen Bnei Brak bei Tel
Aviv. Netanyahu wollte seine Partner nicht verschrecken,
jetzt, wo gerade neue Bündnisse geschlossen werden. Die
Welt geht unter, aber er klammert sich an seine Macht.
Sein Justizminister erklärt mitten in der Nacht den Not-
stand an den Gerichtshöfen, sodass auch Netanyahus Prozess
verschoben wird, der am Dienstag gegen ihn hätte beginnen
sollen. Ein paar Nächte später beschließt sein Kabinett, dass
die Handys aller Israelis geortet und verfolgt werden können,
um die Ausbreitung des Virus und die Einhaltung der Qua-
rantäne zu überwachen. Es ist ein Notkabinett. Das Par -
lament wird nicht gefragt. Der Verteidigungsminister lässt
die Unterbringung von Corona-Patienten überwachen, auch
wenn sie nur leichte Symptome zeigen, eine Taskforce mit
Gefechtstruppen der Grenzpolizei soll Quarantänebestim-
mungen und auch die Ausgangssperre durchsetzen, die in-
zwischen verhängt wurde. Die Polizisten, die die besetzten
Gebiete in Schach halten,
kümmern sich jetzt auch um
das eigene Land.
Im Osten Deutschlands
nannten sie es »Sozialismus in
den Farben der DDR«. Die ost-
deutschen Inselmenschen dach-
ten, sie könnten alles selbst ma-
chen. Eine Weltraumkamera,
Rockmusik, die schnellsten
Schwimmerinnen der Welt und
am Ende sogar Hamburger. Die
Rolling Stones des Ostens hie-
ßen Pankow, der Hotdog Ket-
wurst. Es gab Selbstschussan -
lagen, Sperrgebiete und den
zweitbesten Geheimdienst der
Welt. Für den Fall von Atom-
schlägen lernte ich als Soldat
der Nationalen Volksarmee,
wie man sich unter eine grüne
Plasteplane hätte hocken sollen.
Natürlich arbeiten die Isra -
elis auch an einem eigenen
Impfstoff gegen Corona. Ich
habe mit dem Chef des For-
scherteams gesprochen, Chen
Katz, einem Mikrobiologen aus dem Norden des Landes. Er
hat mir alles ganz langsam erklärt. Sie haben eigentlich an ei-
nem Vakzin gegen eine infektiöse Geflügelbronchitis gearbei-
tet. Als sie die Nachrichten von der Corona-Epidemie in China
hörten, stellten sie fest, wie ähnlich die Viren sind. In drei,
vier Wochen hätten sie den Impfstoff fertig, dann könnten die
Tests beginnen, sagte Katz. Und die Tests seien nicht das Pro-
blem, sondern die Bürokratie, die Genehmigungsphase. Es
gebe Länder, die eine Art Katastrophenrecht für Fälle wie die
Corona-Pandemie geschaffen hätten. Mit ihnen sei sein Institut
im Gespräch. Ich nehme an, Deutschland gehört nicht dazu.
In wenigen Monaten habe man einen einsatzfähigen Impf-
stoff, sagte er. Ein Vorteil ihres Vakzins sei, dass es billig und
in großen Massen hergestellt werden könne. Schließlich sei
es ja ursprünglich für Hühner entwickelt worden. Er lachte.
Ich lachte auch. Er verkörperte alles, was ich an diesem Land
mag. Er war direkt, einfallsreich und auch ein bisschen rück-
sichtslos. Ich fühlte mich ganz sicher, aber auch wie ein Huhn.
Bis jetzt gibt es keinen bekannten Corona-Fall in Gaza.
Schwer zu sagen, was man daraus lernen soll. 

Zitronen-Therapie


LeitkulturAlexander Osang über nationale
Hausmittel in Katastrophenzeiten

AMEERA AHMAD HARRODA
Obststand in Gaza

Coronakrise
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