Der Spiegel - 21.03.2020

(Michael S) #1

A


m vorigen Samstag haben sie
hier bis in die Nacht Eröffnung
gefeiert, in der neuen Blauen
Blume in Hamburg-Altona. Eine
Champagnerflasche steht noch auf dem
Tresen und erinnert an die Sause. »Es war
proppenvoll«, sagt Gastronomin Karin
Wege. Ein paar Tage ist das erst her. Es
klingt wie aus einer anderen Zeit.
Wege und ihr Kompagnon betreiben die
Blaue Blume, ein Lokal für Bratkartoffeln
und Bier, seit 17 Jahren. Vor einem halben
Jahr wurde ihnen der Mietvertrag gekün-
digt, sie fanden gleich um die Ecke einen
neuen Standort, einen Altbau mit Bogen-
fenstern und freigelegten Backsteinwän-
den. »Die Location ist ein Gottesge-
schenk«, sagt Wege – der Start hingegen
könnte in keine schlechtere Zeit gefallen
sein. Wege steht hinter dem Zapfhahn und
schaut müde in den leeren Raum.
Seit Mittwoch müssen Gaststätten in
Deutschland um 18 Uhr schließen. Ein
Schlag für das Gewerbe, ein Desaster für
die Gastwirtin und die zehn Mitarbeiter.
Monatelang hat sie geschuftet, den Umzug
organisiert, die Holztische abgeschliffen,
eine neue Küche einbauen lassen – und
jetzt das. Sie habe irrsinnig viel investiert,
sagt Wege. Nun trudeln die Rechnungen
der Handwerker ein. Aber die Einnahmen
bleiben aus.
Wie lange sie wohl durchhalten kann?
Wochen? Monate? Die Geschäftsführerin
möchte sich nicht festlegen. Sie will kämp-
fen. »Zumachen ist keine Option«, sagt sie
fast trotzig.
Wochen? Monate? Die Frage stellen
sich derzeit alle: Unternehmer, Bürger,
aber auch Regierungen und Zentralban-
ken. Wie lange wird es dauern, bis die
Corona-Pandemie gestoppt ist? Und wie
lange kann die Wirtschaft eine solche
Zwangspause überleben?
Niemand weiß eine Antwort. Die Ge-
sundheit geht vor, die Wirtschaft muss sich
fügen. Doch die Folgen sind verheerend.
Die Prognosen der Konjunkturforscher fal-
len von Tag zu Tag düsterer aus. An den
Börsen herrscht Panik, die Kursgewinne
vieler Jahre haben sich binnen weniger
Wochen in Luft aufgelöst: Einen so steilen
Absturz in so kurzer Zeit gab es noch nie.
Diese Krise ist einmalig, das macht sie
so einmalig gefährlich. Sie erfasst Land für


Land, Branche für Branche, Unternehmen
für Unternehmen.
Aus dem Coronavirus, das zuerst in Chi-
na aufgetreten ist, erwuchs eine Pandemie,
und aus der Wirtschaftskrise, die zunächst
nur China und seine Handelspartner betrof-
fen hat, ist eine Weltwirtschaftskrise gewor-
den. Komplette Volkswirtschaften werden

nahezu lahmgelegt, um die Ausbreitung
des Virus zu stoppen. Läden und Kinos
sind geschlossen, Veranstaltungen abge-
sagt, Unternehmen legen die Produktion
still. Den Betrieben brechen die Einnahmen
weg, während die Kosten weiterlaufen.
»Das ist die größte Krise, die wir in der
Nachkriegszeit hatten«, sagt der langjäh-

Coronakrise

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Schlimmer als Lehman


WeltwirtschaftEinen Notstand wie diesen gab es noch nie: Die Epidemie legt ganze
Volks wirtschaften lahm, Regierungen und Zentralbanken versuchen mit allen Mitteln, den Kollaps

des Systems zu verhindern. Doch wie lange lässt sich eine solche Zwangspause durchhalten?


VICTOR LLORENTE / THE NEW YORK TIMES / LAIF
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