Der Spiegel - 21.03.2020

(Michael S) #1
rungen. Die einen fluten die Märkte mit
Geld, die anderen verabschieden Hilfspro-
gramme, wie es sie in dieser Form noch
nie gegeben hat. Whatever it takes – was
immer es braucht: Das geflügelte Wort, mit
dem der damalige Präsident der Europä -
ischen Zentralbank, Mario Draghi, die Euro -
krise stoppte, ist Leitmotiv des Regierungs -
handelns geworden, auch des deutschen.
Was die Unternehmen derzeit vor allem
brauchen, ist Liquidität. Ganze Branchen
wurden durch die Maßnahmen zur Be-
kämpfung des Coronavirus quasi in ein
künstliches Koma versetzt. Wenn die Wirt-
schaft jetzt nicht mit dem Nötigsten ver-
sorgt wird, wird sie irreparable Schäden
davontragen, sobald der Shutdown einmal
beendet sein wird. Und was dann?
Tom Neukirchen hat seinen Betrieb
Fundgiver schon »auf Notbetrieb« umge-

rige Präsident des Münchner Wirtschafts-
forschungsinstituts Ifo, Hans-Werner Sinn.
»Sie stellt selbst die Lehman-Krise in den
Schatten.«
Der Corona-Schock trifft auf eine Wirt-
schaft, die schon vor der Pandemie schwä-
chelte, und auf ein Finanzsystem, das sich
von den Folgen der Finanzkrise nie wirk-
lich erholt hat. Wird den Unternehmen
nicht rechtzeitig geholfen, droht ein Domi -
noeffekt, der alles mitreißt, was vor ein
paar Wochen noch zu stehen schien. Ban-
ken gerieten in Schieflage, Eurostaaten
müssten wieder gerettet werden. Aus der
globalen Rezession, die schon jetzt unver-
meidbar ist, würde womöglich eine lang-
anhaltende Depression – wie nach dem
Crash an der Wall Street 1929.
Wie dramatisch die Situation ist, zeigt
die Reaktion der Notenbanken und Regie-


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stellt, wie er sagt. In diesen Tagen wollte
er zu einem zweitägigen Workshop nach
Berlin reisen, dann zu einem Weiterbil-
dungskurs nach Würzburg. Neukirchen
berät schon seit mehr als 20 Jahren Orga-
nisationen, wie sie effektiv Spenden ein-
werben können.
Die Termine wurden abgesagt, neue
Aufträge kamen nicht herein, seinem Mit-
arbeiter hat er zum 1. Juni gekündigt. Er
habe die Finanzkrise als Unternehmer er-
lebt und überstanden, doch diesmal zeich-
ne sich schon jetzt ein viel längerer, gra-
vierenderer Auftragseinbruch ab. »So wie
mir geht es gerade vielen«, sagt er, »die
Regierung sollte bei ihren Entscheidungen
auch die wirtschaftlichen Auswirkungen
stärker im Blick haben, sonst folgt der vira -
len bald eine ökonomische Pandemie mit
Millionen Arbeitslosen.«
Neben BMW, Opel und Daimler hat
auch Volkswagen angekündigt, seine Wer-
ke in Europa für mindestens zwei bis drei
Wochen zu schließen. Der weltgrößte Auto -
hersteller, der eben noch einen Rekord -
gewinn verkündet hat, stellt sich nun auf
eine tiefe Krise ein. Der wichtigste Wachs-
tumsmotor der deutschen Wirtschaft, die
Autoindustrie, fällt bis auf Weiteres aus.
»In vielen europäischen Märkten ist das
Geschäft praktisch zum Erliegen gekom-
men«, heißt es in einem Brief von VW-Vor-
stand und -Betriebsrat an die Mitarbeiter,
»die Nachfrage geht spürbar zurück.« Um
die Arbeitsplätze zu sichern, müsse die
Fertigung aber irgendwann wieder anlau-
fen: Volkswagen sei zwar ein starkes
Unternehmen, »aber auch wir können
nicht beliebig lange jede Last tragen«. Um
die Folgen des Produktionsstopps abzu-
mildern, will der Konzern nun Kurzarbei-
tergeld beantragen.
»Das allerwichtigste Ziel der nächsten
Monate ist, Insolvenzen zu vermeiden«,
sagt ein hochrangiger Manager aus der Au-
toindustrie. Wenn die Produktion bei den
Autoherstellern wieder starte, müssten
auch Lieferketten und Absatzkanäle sofort
wieder funktionieren. Außerdem gelte es,
Teilelieferungen aus Europa in andere
Weltregionen wie China, wo bereits wie-
der gefertigt wird, sicherzustellen.
Doch selbst wenn Zulieferer, Hersteller
und Händler ihre Arbeit bald wieder auf-
nehmen: Niemand kann heute sagen,
wann die Kunden wieder Autos kaufen.
In der Branche ist bereits von einem welt-
weiten »Nachfrageschock« die Rede, der
den Herstellern zum Teil erhebliche Ver-
luste einbringen dürfte.
Kleinunternehmer wie Neukirchen,
Großkonzerne wie Volkswagen und mit
ihnen die ganze Auto- und Zulieferindus-
trie: Die Krise hat die ganze Bandbreite

Fachkräfte bei Desinfektion an Börse New York
Gewinne von Jahren in Luft aufgelöst
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