Der Spiegel - 21.03.2020

(Michael S) #1

Kreditinstitute notleidend werden, will
die Bundesregierung den Soffin wieder -
beleben. Für Selbstständige, die keine Auf-
träge mehr bekommen, will sie ein üppig
aus gestattetes Sondervermögen mit dem
programmatischen Namen »Solidaritäts-
fonds« auflegen.
Die Pläne des Finanzministers bedeuten
den endgültigen Abschied von der schwar-
zen Null. Der Bund wird enorme Schulden
machen müssen, um das Abrutschen der
Wirtschaft wenigstens einigermaßen ab -
zubremsen. Ein hoher Beamter der Regie-
rung spricht von »multiplem Organver -
sagen«, das Wirtschaft und Gesellschaft
gerade heimsuche.
Volker Brühl, Geschäftsführer des Cen-
ter for Financial Studies der Frankfurter
Goethe-Universität, sieht das Risiko einer
Depression mit deflationären Tendenzen,
sollte das Coronavirus Märkte und Wirt-
schaft bis ins zweite Halbjahr hinein trau-


matisieren. Hinter dem Begriff Deflation
verbirgt sich ein ökonomisches Horror -
szenario. Die Nachfrage bleibt hinter dem
Angebot zurück, die Preise sinken, die
Wirtschaft schrumpft immer weiter.
Auszuschließen ist eine solche Situation
nicht. Vor allem, wenn die verordnete Läh-
mung der Wirtschaft monatelang andau-
ern sollte. Helfen könnte dann nur noch
der Staat. Er könnte mit einem giganti-
schen Konjunkturprogramm versuchen,
die Wirtschaft wieder anzuschieben.
Finanzminister Scholz wäre dazu bereit,
und er verfügt über ausreichend Potenzial,
Mittel in nie gesehener Größenordnung
zu mobilisieren. Im Gespräch ist ein Volu-
men von bis zu fünf Prozent des Brutto -
inlandsprodukts. In absoluten Zahlen
wären das rund 180 Milliarden Euro.
Die Summe ließe sich nach Einschät-
zung von Regierungsexperten je nach
Bedarf nahezu beliebig steigern. »Selbst
wenn wir wie in der Finanzkrise die Staats-
verschuldung in kurzer Zeit auf 80 Pro-
zent schrauben, bekäme Deutschland bei


den Ratingagenturen immer noch die Best-
bewertung«, sagt ein hoher Regierungs -
beamter. »Das hatten wir alles schon.«
Bis der Staat diese Schwelle erreicht,
könnte er mehr als 700 Milliarden Euro
zusätzlich an neuen Krediten aufnehmen.
»Wir denken über Größenordnungen nach,
die es so noch nicht gegeben hat«, sagt ein
Scholz-Zuarbeiter.
Aber wer kann sich das außer Deutsch-
land leisten? In Italien, das am schwersten
unter der Corona-Pandemie leidet, beträgt
die Staatsverschuldung schon jetzt gut
130 Prozent der Wirtschaftsleistung. Und
an den Finanzmärkten steigen die Risiko-
prämien italienischer Staatsanleihen.
Die EZB, das hat sie vor dem jüngsten
Rettungspaket klargemacht, wird nicht
zuschauen, wie die Kreditwürdigkeit der
Eurozonen-Mitglieder erodiert. Doch ir-
gendwann stößt auch sie an ihre selbst
gesteckten Grenzen. Und so kommt ein
Akteur ins Spiel, der bislang nicht einge-
griffen hat: der Europäische Stabilitäts -
mechanismus. Sein Stammkapital beträgt
705 Milliarden Euro, verfügbar sind aktu-
ell 410 Milliarden Euro.
Er könnte etwa Italien mit Notkrediten
zur Seite springen. Doch auch dieses Geld
müsste irgendwann zurückgezahlt werden.
Und so ist es kein Wunder, dass wieder
die alte Diskussion über gemeinsame An-
leihen der Eurostaaten, sogenannte Euro-
bonds, aufflammt, Italiens Ministerpräsi-
dent Giuseppe Conte hat sie als spezielle
»Coronavirus-Bonds« ins Spiel gebracht.
Deutschland und andere west- und nord-
europäische Länder haben solche Gemein-
schaftsschulden bisher kategorisch abge-
lehnt – und daran dürfte sich nichts än-
dern. Die EU solle erst einmal die Werk-
zeuge benutzen, die sie schon habe, meint
ein Diplomat eines westlichen EU-Lands.
»Und wir glauben, dass diese Werkzeuge
reichen.«
Bei gleichbleibend niedrigen Zinsen
könnten die Staaten Europas ihre Schul-
denlast ohne Weiteres um zehn Prozent-
punkte steigern, sagt Guntram Wolff, Di-
rektor des einflussreichen Brüsseler Think-
tanks Bruegel. Wenn dies dazu führe, dass
die Wirtschaft nach dem Ende der Krise
wieder schneller ihr vorheriges Niveau er-
reiche, wären die Schulden im Vergleich
zur Wirtschaftskraft hinterher wahrschein-
lich nicht größer, als wenn man jetzt un -
tätig bliebe.
Aber viel größer als heute werden sie
auf jeden Fall sein. Am Ende des Corona-
Schocks wird die Welt noch mehr verschul-
det sein als zuvor und das System noch an-
fälliger. Nach der Krise ist vor der Krise.
Tim Bartz, Markus Becker, Simon Hage,
Martin Hesse, Alexander Jung,
Armin Mahler, Christian Reiermann,
Marcel Rosenbach

A


ls nach den Anschlägen vom 11. Sep-
tember 2001 die internationale Luft-
fahrt unter Schock stand, flog die
Lufthansa Dutzende Maschinen in die US-
Wüste aus, um sie dort zu parken. Derlei
Umwege sind aktuell nicht nötig.
Die Coronakrise trifft die europäischen
Luftlinien stärker als 9/11; der Frankfurter
Flughafen will die Nordwestlandebahn
sperren. Die Lufthansa stellt Jets, die sie
nicht mehr braucht, kurzerhand dort ab
oder auch auf dem Berliner Flughafen
Schönefeld. Geflogen wird in Deutschland
praktisch nicht mehr.
700 der 763 zum Lufthansa-Konzern
gehörenden Maschinen werden stillgelegt.
Allein diese Zahl, die Konzernchef Cars-
ten Spohr verkündete, zeigt das Ausmaß
der größten Krise in der Geschichte des
Konzerns, der vor Kurzem noch als Vor-
zeigeunternehmen galt.
Der Absturz erfolgte in nie gesehenem
Tempo. Zu Beginn der Virus-Pandemie
kürzte Spohr das Angebot um ein Drittel,
nur Tage später um die Hälfte, dann um
80 Prozent. Das Ende war immer noch
nicht erreicht. Seit dieser Woche ist klar:
Die Lufthansa bedient nur noch fünf
Prozent des ursprünglich geplanten Pro-
gramms.
Auch die Katastrophe will verwaltet
werden, und bei der Lufthansa kümmert
sich darum ein 15-köpfiger Krisenstab un-
ter Leitung von Lufthansa-Chefpilot Rai-
mund Müller. Das Gremium tagt in einem
Zweckbau am Frankfurter Flughafen, der
früheren Hauptverwaltung, im sechsten
Stock in einem eigens eingerichteten Ar-
beitsraum. Jeden Vormittag wird disku-
tiert, welche Strecken noch beflogen oder
mit sofortiger Wirkung eingestellt werden,
welche Flugzeuge eingesetzt werden, ob
es neue Direktiven für die Crews gibt und
wo als Nächstes gestrandete Urlauber oder
Kollegen zurückzuholen sind.
Die Vorschläge der Krisenrunde gehen
an den Vorstand, der darüber mit weiteren
Fachleuten und den Chefs der Konzern-
Airlines per Videokonferenz entscheidet.
Die Teilnehmer sind über ganz Europa
verteilt – auch um die Ansteckungsgefahr
zu verringern, falls sich einer mit dem

72 DER SPIEGEL Nr. 13 / 21. 3. 2020


Coronakrise

Es flog


einmal ...


LuftfahrtKein Dax-Konzern
wurde von der Seuche härter
getroffen als die Lufthansa.
Innerhalb von Tagen stürzte
die Airline regelrecht ab.

A. FREEBERG
Ökonom Friedman 2000
Bares aus dem Hubschrauber
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