Der Spiegel - 21.03.2020

(Michael S) #1
ren, die weniger kosten als mancher Kino-
besuch.
Doch all das hat natürlich seinen Preis.
Streaming macht das Fernsehen endgültig
zu einem globalen Markt. Was einerseits
bedeutet, dass die Qualität steigt und die
Preise sinken, andererseits aber auch zur
Konzentration führt, von Geschäft und
von kultureller Macht.
Zugleich wird Fernsehen zu einem Teil
der digitalen Ökonomie. Der Erfolg wird
berechenbarer, der Konsument durch-
schaubarer. »Es wird genau das produziert,
was der Markt fordert, was algorithmisch
abgerufen wird«, sagt Ufa-Chef und Re-
gisseur Nico Hofmann. »Das führt zu einer
deutlichen Kommerzialisierung.«
Der Wandel ist kaum zu unterschätzen.
Er ist nur vergleichbar mit den digitalen
Revolutionen der vergangenen Jahre.
Amazon hat die Welt des Konsums kom-
plett verändert, unsere Erwartungen an
die Verfügbarkeit von Waren. Apples
iPhone, Facebook und Twitter haben die
Welt der Information durchgerüttelt, unse -
re Erwartungen an die Verfügbarkeit von
Daten und Kontakten.
Disney und Netflix und all die anderen
wälzen nun die Unterhaltungsindustrie
um, eine Branche, die leicht und manch-
mal seicht daherkommt, tatsächlich aber
eine der mächtigsten ist. Die Geschichten,
die uns das Kino und das Fernsehen erzäh-
len, prägen unsere Werte, unsere Ideen
von Gut und Böse, von gelungenem und
gescheitertem Leben. Sie bestimmen, wer
unsere Stars sind. Wen wir mögen. Und
wen nicht.


  1. Die Kunst


700 Millionen Menschen weltweit haben
inzwischen mindestens ein Streaming-
Abo. Ungefähr ein Dutzend Anbieter pro-
duzieren dieses Jahr für hundert Milliar-
den Dollar Filme, Serien und Shows – eine
Summe, zweimal so hoch wie der deutsche
Wehretat. Allein im vergangenen Jahr
haben Streamingdienste und TV-Sender
532 Fernsehserien gedreht, doppelt so viel
wie noch vor zehn Jahren.
Es ist ein neues goldenes Zeitalter des
Fernsehens, in dem das Medium endgültig
den Ruf ablegen konnte, eine Art Kino für
Anspruchslose zu sein, weil Serien wie
»Breaking Bad«, »Mad Men«, »Game of
Thrones, »House of Cards« ihre Geschich-
ten noch gewaltiger, noch größer, noch aus-
ufernder erzählten.
Die künstlerische Umwälzung begann
vor 20 Jahren in den USA mit dem Be-
zahlsender HBO, mit Serien wie »Sex and
the City« und den »Sopranos«. HBO be-
wies, dass Zuschauer bereit waren, für
besonderes Fernsehen zusätzlich zu zah-
len. Doch das war immer noch – Fern -
sehen.


Dann kam Netflix aus dem Silicon Val-
ley. Das Unternehmen hatte ursprünglich
DVDs verschickt, die man online bestellen
konnte. 2007 begann Netflix, Filme und
Fernsehserien anderer Hersteller zu strea-
men, 2013 produzierte es die ersten eige-
nen Serien. »House of Cards« war der ers-
te große Erfolg. Die Folgen wurden ent -
gegen jeder Zuschauergewohnheit nicht
Woche für Woche, sondern auf einen
Schlag veröffentlicht.
Die Zuschauer lieben diese totale Ver-
fügbarkeit der Ware. Die Freiheit, zehn
Stunden am Stück einer Handlung zu
folgen oder sich dafür ein paar Monate
Zeit zu lassen. Netflix eroberte Markt um
Markt und zeigte, dass man kein alt -
ehrwürdiges Hollywoodstudio sein muss,
um brillantes Fernsehen zu produzieren,
so wie Tesla vormachte, dass man nicht
BMW sein muss, um ein modernes Auto
herzustellen. Mit viel Silicon-Valley-Inves-
torengeld konnte man die besten Leute
kaufen, beispielsweise den Regisseur Da-
vid Fincher für »House of Cards«.
Bei Netflix waren die Wege plötzlich
kurz und effizient. Keine Fernsehredak-
teure, keine Senderchefs, keine Studiobos-
se, keine Kinobetreiber, keine Werbe -
treibenden, keine Bürokratie – dafür viel
Freude, Enthusiasmus und sensationelle
Honorare. Die reine Kunst. Und von der
ersten Drehbuchfassung bis zur Ausstrah-
lung alles in einer Hand. Und weil so viele
Filme, Shows und Serien benötigt werden,
lassen sich mit einem Mal Stoffe verwirk-
lichen, die vor ein paar Jahren in den
Schubladen verschwunden wären als zu
teuer, zu strange, zu radikal.
Die genauen Abrufzahlen erfährt nie-
mand außerhalb von Netflix. Anders als
die TV-Sender veröffentlicht das Unter-
nehmen keine Daten zu den Zugriffen –
höchstens mal, wenn es dem Konzern ge-
nehm ist. Also bei kommerziellen Erfolgen
wie dem deutschen Netflix-Thriller »Kid-
napping Stella«, der angeblich weltweit
19 Millionen Mal abgerufen wurde. Als
»gesehen« gilt ein Produkt bei Netflix,
wenn es zu zwei Prozent geschaut wurde.
Für eine so kleine Produktion wie »Kid-
napping Stella« wäre das tatsächlich eine
irrsinnige Quote. Im Kino hätte der Film
schon mit 500 000 Zuschauern als riesiger
Erfolg gegolten.
Das ist auch der Effekt des Streaming-
TV: Der Mainstream löst sich auf, wird
mindestens neu definiert. Man muss nicht
mehr schauen, was der Masse serviert
wird, sondern kann endlich nur noch
schauen, was einem allein gefällt.
Aber eben auch: allein.
Der Regisseur Todd Haynes, bekannt ge-
worden mit großem Kunstkino, hat inzwi-
schen auch für HBO und Amazon gedreht.
Auf der Terrasse des Sunset-Tower-Hotels
in Hollywood sitzend, sagt er: »Hier pas-

76 DER SPIEGEL Nr. 13 / 21. 3. 2020

16 bis 29 Jahre

Free-TV

Abo-
pflichtiges
Streaming

»Freies«
Streaming

Pay-TV

50 bis 69 Jahre

Kampf der Giganten


Zeitbudget für den Konsum audiovisueller Medien
in Deutschland, in Prozent, 2019

Jährliche Programmausgaben in Mrd. Dollar

Disney-Geschäftsbereiche
2019, in Mrd. Euro

Abonnenten weltweit in Millionen

Operativer Gewinn/Verlust

Umsatz

6

6,6

2,4

–1,6 Quelle: Refinitiv Eikon

Repräsentative Umfrage Universität Münster/ Roland Berger, 1600 Befragte,
Abweichungen zu 100 % rundungsbedingt

Disney+

2,5


*

Hulu*

Netflix Amazon
Prime Video

Apple TV+ Disney+

3,0


*

HBO Max*

3,5


*

letzte verfügbare Daten; *Schätzung; Quelle: Observer

TV-Geschäft
u. a. Disney Channel, ABC, National Geographic

Filmgeschäft
u. a. Pixar, Marvel

Streaming
u. a. Disney +, Hulu

Themenparks, Kreuzfahrten,
Merchandising 23,3

22,0

9,9

8,3

Amazon Apple TV+
Prime Video

6,0


*
6,0

*

150

34

15,0


Netflix


41

15

1818

7

8

29

34 65

13

(^167) letzte verfügbare Daten,
Quellen: Deadline, CNBC,
Reuters

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