Der Spiegel - 21.03.2020

(Michael S) #1

der ist nun wie weggeblasen, von Trump
bleiben nur Chaos und Lügen.
Ist das Schicksal seiner Präsidentschaft
besiegelt?
»Trumps Kampagne baut ganz auf der
Kraft der amerikanischen Wirtschaft auf«,
sagt Heather Conley von der Washing-
toner Denkfabrik CSIS. Nun aber rutscht
das Land in die vielleicht schwerste Krise
seit der großen Depression, die im Jahr
1929 begann. »Dazu kommen all die Kom-
mentare, wonach das Virus eine Erfindung
der Demokraten sei«, sagt Conley. »Das
wird im Wahlkampf hoch- und runter -
gespielt werden.«
Trump ist wie keiner seiner Vorgänger
ein Produkt der digitalen Ära, sein Auf-
stieg ist ohne Facebook und Twitter nicht
denkbar. Aber jene kurzen und prägnan-
ten Sprüche und Videos, die ihn im Netz
so populär machten, beginnen ihn nun zu
jagen. »Ich übernehme dafür überhaupt
keine Verantwortung«, sagte Trump ver-
gangene Woche, als er gefragt wurde, wa-
rum so viele Amerikaner immer noch ver-
zweifelt auf einen Virustest warten. Es ist
ein Satz, der nun wie ein Kommentar zu
seiner gesamten Präsidentschaft klingt und
millionenfach im Netz geteilt wird.
Das amerikanische Gesundheitsminis-
terium hat schon vor Jahren einen Leit -
faden veröffentlicht, wie die Regierung in
Zeiten der Krise mit dem Volk reden sollte.
Im ersten Kapitel stehen sechs Prinzipien,
an die sich jeder Präsident halten sollte:
Kommuniziere schnell und korrekt. Bleibe
glaubwürdig. Zeige Mitgefühl. Handle ent-
schlossen. Zeige Respekt.
Trump missachtete jede einzelne dieser
Regeln. Am 22. Januar, als sich das Virus
in China schon ausbreitete, sagte der Prä-


sident auf die Frage, ob er Angst vor einer
Pandemie habe: »Nein, nicht im gerings-
ten. Wir haben alles unter Kontrolle.«
Gleichzeitig fällte die Regierung eine Ent-
scheidung, die sich schnell als verhängnis-
voll herausstellen sollte. Die amerikanische
Seuchenbehörde CDC verzichtete auf das
Angebot der WHO, ein funktionierendes
Corona-Testkit zu übernehmen. Stattdessen
entwickelte die CDC ein eigenes Verfahren,
das sich schnell als extrem fehleranfällig
erweisen sollte. Das wiederum führte dazu,
dass die USA bis heute weitgehend ah-
nungslos sind, wie viele Menschen sich mit
dem Erreger tatsächlich angesteckt haben.
Am 11. März wendete sich Trump per
Fernsehansprache aus dem Oval Office an
die Nation. Das Ambiente – der schwere
Schreibtisch, die Fahne im Hintergrund –
sollte dem Land das Gefühl vermitteln,
dass ihr Anführer die Bedrohung nun end-
lich verstanden habe. Aber Trumps Bot-
schaft war so voller Fehler und Widersprü-
che, dass sie die Panik an den Finanzmärk-
ten nur noch mehr anfachte. Am 12. März
fiel der Dow Jones um mehr als zehn Pro-
zent, es war der größte Tagesverlust seit
dem 19. Oktober 1987, der als Black Mon-
day in die US-Geschichte einging. Trump
steht nun praktisch täglich im Presseraum
des Weißen Hauses und erklärt, wie wich-
tig es sei, dass das Land über die Partei-
grenzen hinweg zusammenhalte. Aber
wer soll ihm das noch glauben?
»Trump ist wie der Joker«, sagt Melissa
Sklarz, während sie sich mit Latexhand-
schuhen auf den Weg zu ihrem Super-
markt im New Yorker Stadtteil Queens
macht. »Trump hat keine Seele und kein
Mitgefühl mit den 330 Millionen Ameri-
kanern, die er beruhigen müsste.«

Der Joker ist jener fiese Filmheld, dem
die Welt die Anerkennung verweigert und
der schließlich aus Rache für all die Demü-
tigungen alles ins Chaos stürzt. Es ist ein
drastischer Vergleich, aber Sklarz findet
ihn durchaus passend. Sie jedenfalls glaubt
keine Sekunde daran, dass die Krise den
Präsidenten und seine Anhänger zum Bes-
seren verändert hat. Sklarz hat in der Zei-
tung gelesen, dass viele Republikaner Ge-
wehre und Munition kaufen, um sich für
die kommenden Monate zu rüsten. »Wa-
rum horten die auf einmal Waffen?«, fragt
sie. »Wollen sie hungrige Demokraten er-
schießen, wenn die an die Tür klopfen?«
New York ist innerhalb weniger Tage
zu einer Geisterstadt geworden. Alles ist
verriegelt: die Broadway-Theater, die Frei-
heitsstatue, das Empire State Building. Die
Wolkenkratzer von Midtown mit ihren
Luxus-Penthäusern liegen abends im Dun-
keln. Die Milliardäre, die dort wohnen,
haben sich längst in ihre abgesicherten
Strandvillen auf Long Island abgesetzt.
Es ist alles ziemlich düster, aber es gibt
auch Hoffnung. Über Tage haben sich
Trump und der New Yorker Gouverneur
Andrew Cuomo ein Gefecht auf Twitter
geliefert. Sie beschuldigten sich gegenseitig
der Unfähigkeit. Aber zu Wochenbeginn
fingen sie an, miteinander zu telefonieren,
statt übereinander zu twittern.
Am Mittwoch kündigte Trump an, das
Krankenhausschiff »USNS Comfort« in
den Hafen von New York zu schicken, um
den Bettennotstand in der Stadt zu lin-
dern. »Er ist jetzt voll damit beschäftigt,
New York zu helfen«, sagte Cuomo. »Ich
danke ihm.«
Ralf Neukirch, René Pfister, Marc Pitzke

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Coronakrise

RINGO H.W. CHIU / DPA
Kunden vor einem Waffenladen in Kalifornien: »Wollen die hungrige Demokraten erschießen?«
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