Der Spiegel - 21.03.2020

(Michael S) #1
Japans schwaches Wirtschaftswachstum,
die Überalterung seiner Gesellschaft, der
nachwirkende Schock von 2011: All diese
Sorgen sollte Olympia zerstreuen und das
Land unter Strom setzen – so ähnlich wie
1964, als die Sommerspiele von Tokio Ja-
pans wirtschaftlichen Höhenflug der Sech-
ziger- und Siebzigerjahre einläuteten.
Die Coronakrise traf die Regierung so un-
vorbereitet wie viele andere. Premier Abe,
in den Medien sonst stets präsent, schien an-
fangs wie abgetaucht. Nun verabschiedete
das Parlament ein Gesetz, das dem Premier
erlaubt, im Krisenfall den Notstand aus -
zurufen. Wenn Abe das tut, müsste er wo-
möglich die Spiele absagen. Und das will er
nicht. Auch das Internationale Olympische
Komitee hält bislang an den Spielen fest.

Doch der Druck auf Abe und das IOC
wächst, sogar aus den eigenen Reihen: Die
Coronakrise sei »größer als Olympia«, sag-
te die ehemalige Eishockeyspielerin Hay-
ley Wickenheiser, selbst IOC-Mitglied. Die
Spiele rücksichtslos durchziehen zu wollen
sei »unsensibel und unverantwortlich«.
Ob Abe, der sich entschieden für Japans
Olympiabewerbung eingesetzt hat, eine
Absage der Spiele politisch überleben wür-
de, ist zweifelhaft, wenn auch nicht aus -
geschlossen. Kein japanischer Premier hat
sich so lange wie er im Amt gehalten.
Er rechne mit einer Verschiebung der
Spiele, sagt Masahiro Kami, Leiter des For-
schungsinstituts für Gesundheitsvorsorge
in Tokio. »Aber diese Entscheidung liegt
jetzt nicht mehr nur in unseren Händen,
das muss die ganze Welt entscheiden.«
Kami ist einer der wenigen Experten, die

Abes Regierung für ihre Corona-Maßnah-
men kritisieren. Er hält das Virus für viel
weiter verbreitet als offiziell bekannt. Statt
von den gut 900 bestätigten Fällen an die-
sem Donnerstag geht er von 10 000 bis
100 000 Infizierten aus – das legten Ver-
gleichszahlen aus China nahe. Er rät der
Regierung, sich schnell auf eine steigende
Zahl von Erkrankten einzustellen.
Dem stimmt der Risikoforscher Kosuke
Nakazawa zu, der Unternehmen berät, die
sich auf Großkatastrophen vorbereiten.
Ab Anfang Februar hat er zweimal knapp
400 Firmen zur Krise befragt. Das Ergeb-
nis: Viele Unternehmen hatten unter dem
Eindruck der Krise ihre Arbeitsabläufe um-
gestellt. Sie sagten Reisen ab, schickten
Mitarbeiter ins Homeoffice und stellten
Desinfektionsmittel bereit. Verglichen da-
mit sei die Reaktion der Regierung bislang
eher durchwachsen. Am Ende komme es
auf jeden einzelnen Bürger an.
Auf Frauen wie Jinko Yamada, 60, zum
Beispiel. Die Tanzlehrerin war Anfang
Februar in Tokio unterwegs, als sie in ei-
nem Nähladen Schnittmuster für Atem-
masken sah. Dazu verkaufte der Laden,
was man dafür braucht: Gazetücher, be-
druckte Deckstoffe, elastische Bindfäden.
Vier Wochen später schiebt Yamada mit
der Krankenschwester Takayo Sawada im


  1. Stock eines Hochhauses im Roppongi-
    Viertel Stühle zur Seite und räumt den
    Tisch frei. Die beiden haben ein Büro ge-
    mietet und damit begonnen, Masken zu
    nähen. Es werde von Tag zu Tag schwieri-
    ger, in Apotheken welche zu bekommen.
    »Zwei Laufmeter à 90 Zentimeter«, sagt
    Frau Yamada und greift zur Schere.
    »Macht 54 Masken«, antwortet die Kran-
    kenschwester Sawada. »Wir sind die Ersten
    in unserem Freundeskreis, die das jetzt
    tun. Wir werden nicht die Letzten sein.«
    Bernhard Zand


DER SPIEGEL Nr. 13 / 21. 3. 2020 83


F


rühling in Tokio, die Zedern blühen.
Japans Allergiker sind gut vorberei-
tet, viele von ihnen tragen Atem-
schutzmasken und Brillen mit Seiten-
schutz, um ihre Augen gegen die Zedern-
pollen abzuschirmen. So stehen sie an den
sauberen Bahnhöfen und U-Bahn-Statio-
nen und warten auf pünktliche Züge.
Wenig deutet darauf hin, dass auch in
Japan etwas nicht stimmen könnte. Die
Coronakrise, die China und Südkorea er-
schüttert, die US- und europäische Regie-
rungen zur Verhängung des Ausnahme -
zustands veranlasst hat und die die Welt-
wirtschaft in den Abgrund zu reißen droht,
wirkt äußerlich hier allenfalls wie ein be-
herrschendes Problem. Das Land scheint
weiter wie ein Uhrwerk zu funktionieren.
Zwar sind Schulen und Museen, auch
viele Restaurants inzwischen geschlossen.
Doch anders als in Singapur gibt es kaum
Fieberkontrollen vor den Wolkenkratzern,
an den Flughäfen und Bahnhöfen sind
anders als in Peking keine Männer und
Frauen in Schutzanzügen zu sehen, auch
von den Drive-in-Teststationen wie in Süd-
korea ist in Japan keine Spur. Am 1. März
noch hielt Tokio den jährlichen Marathon
ab, Tausende Zuschauer jubelten den
Athleten entlang der Strecke zu.
Das bestimmende Thema im Land ist
derzeit eine Frage, die anderswo längst
entschieden wäre: Sollen, wie geplant, ab
dem 24. Juli in Japan die Olympischen
Sommerspiele abgehalten werden?
An diesem Mittwoch machte sich vom
Flughafen Tokio-Haneda aus eine Maschi-
ne auf den Weg, um in Athen die olym -
pische Flamme abzuholen. Von kommen-
der Woche an soll die Fackel durchs Land
getragen werden. Startpunkt: die Präfek-
tur Fukushima, wo nach dem Tsunami
im März 2011 das Atomkraftwerk zerstört
wurde.
Während die ganze Welt mit Seuchen-
schutz und Notfallplänen befasst ist, geht
es in Tokio um Symbolik. Die Regierung
unter Premierminister Shinzo Abe hält
am Terminplan für Olympia fest, ein mit
Milliardeninvestitionen vorangetriebenes
Riesenereignis, das der tief verunsicherten
Nation zu neuer Zuversicht verhelfen soll.


»Das muss die ganze


Welt entscheiden.«


TOMOHIRO OHSUMI / GETTY IMAGES
Passanten in Tokio: »Unsensibel und unverantwortlich«

Größer als


Olympia


JapanDie Sommerspiele
sollten das Land mit Zuversicht
erfüllen. Nun könnten sie vor
dem Aus stehen – was Premier
Abe verhindern will.
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