Der Spiegel - 21.03.2020

(Michael S) #1

2014 gründete sie eine Initiative, die poli-
tisch Verfolgten aus Russland helfen sollte,
doch dem Projekt ging das Geld aus. In der
finnischen Provinz fühlt sie sich verloren.


Curpen: Europa ist sehr provinziell. Für
Menschen wie mich gibt es hier nichts
zu tun.


Bis heute spricht Curpen nur wenig Fin-
nisch. Vom Vater ihrer Kinder lebt sie
getrennt. Wenn man sie fragt, mit wem sie
ihre Zeit verbringe, sagt sie: mit nieman-
dem.
Im Sommer 2017, so beschreibt sie es,
sei sie schwer depressiv gewesen, habe an
Suizid gedacht. Curpen spielte mit dem
Gedanken, nach Russland zurückzukeh-
ren. Dann sah sie im Internet das Foto von
Peter Madsen.


SPIEGEL: Was hat Sie an Madsen ange -
zogen? Das Erste, was man über ihn findet,
ist ja, dass er eine junge Frau umgebracht
und zerstückelt hat.
Curpen: Das stimmt. Aber es ist nicht das
Einzige und nicht das Wichtigste, was man
über diesen Menschen sagen kann.


Sie sieht in Madsen nicht nur den Mörder –
sondern vor allem einen klugen Mann,
der einen Fehler begangen hat. Mit dieser
Bewunderung für einen Straftäter ist
Curpen nicht allein.
Katherine Ramsland, Professorin für
forensische Psychologie an der DeSales
Universität im US-Bundesstaat Pennsyl -
vania, studiert seit mehr als 20 Jahren
Mörder, sie hat Dutzende Bücher über
sie geschrieben. Viele der Männer, so er-
zählt Ramsland, würden von weiblichen
Avancen überschüttet.
Der Terrorist Anders Breivik, die Seri-
enmörder Ted Bundy oder Charles Man-
son – sie alle bekamen Liebesbriefe ins
Gefängnis geschickt. Für das Phänomen
gibt es einen Fachbegriff: Hybristophilie,
die Zuneigung zu Gewalttätern. Umgangs-
sprachlich nennt man es auch das »Bon-
nie-und-Clyde-Syndrom«.
Einige Frauen reize der Nervenkitzel,
sagt Ramsland, sie fühlten sich von der
Gefahr angezogen. Andere verspürten Mit-
gefühl mit Männern, von denen viele ihre
Unschuld beteuerten. Manche der Frauen
hätten auch selbst Gewalt erlebt. »Für sie
fühlen sich Straftäter an wie ein Zuhause«,
sagt Ramsland.


SPIEGEL: Wie haben Sie angefangen, mit
Peter Madsen zu kommunizieren?
Curpen: Ich wollte ihm einen Brief schrei-
ben, aber ich fand seine Adresse nicht. Ich
habe ein Jahr lang danach gesucht. Ich
wusste, wenn ich nicht versuche, mit ihm
zu sprechen, werde ich es für immer be-
reuen.


SPIEGEL: Was haben Sie ihm geschrieben?
Curpen: Ich habe ihm meine Sicht der Din-
ge geschildert, dass ich das Gerichtsver-
fahren gegen ihn für Propaganda halte. Er
hat geantwortet, und wir haben begonnen,
uns Briefe zu schreiben. Später bekamen
wir die Erlaubnis zu telefonieren. Wir spra-
chen manchmal zehnmal am Tag.
SPIEGEL: Worüber haben Sie geredet?
Curpen: Über Philosophie, Wissenschaft,
das Bewusstsein. Solche Dinge.
SPIEGEL: Wann trafen Sie sich zum ersten
Mal?
Curpen: Im Winter 2019. Dieses Treffen
war wichtig, aber es gab keine Überra-
schungen. Ich hatte schon vorher das Ge-
fühl, diesen Menschen zu kennen, durch
und durch.

Curpen ist nicht die einzige Frau, zu der
Madsen eine Brieffreundschaft unterhielt.
Dänische Medien berichten über mehrere
Verehrerinnen, die ihm geschrieben hät-
ten, unter ihnen eine 18-Jährige, die sich
Madsens Namen auf ihren Arm tätowie-
ren ließ. Eine Vollzugsbeamtin, zu der
Madsen zu Beginn seiner Haft Kontakt
aufgebaut hatte, musste ihren Job aufge -

ben, weil sie sich von ihm angezogen fühl-
te. Sie habe sich vorstellen können, sagte
die Frau später, eines Tages mit Madsen
zusammenzuleben.
Madsens Liebesleben ist in Dänemark
zum Politikum geworden. Zwischenzeit-
lich erwog sogar das Parlament, ihm Frau-
enbesuch zu untersagen. Dass ein ver -
urteilter Mörder Verehrerinnen empfängt,
scheint vielen Dänen ungerecht, auch
wenn es rechtens ist.
»Niemand ist rund um die Uhr ein
Monster«, sagt die Psychologin Katherine
Ramsland. »Selbst die brutalsten Men-
schen haben eine andere Seite.« Fanpost
und Gespräche seien für sie eine Möglich-
keit, sich die Zeit zu vertreiben.
Einige Mörder wüssten aber auch, wie
man Menschen manipuliert, sagt Rams-
land. »Sie nutzen ihren Charme dann, um
sich im Gefängnis Vorteile zu verschaffen –
zum Beispiel bei einer Wärterin.«

SPIEGEL: Wann haben Sie und Peter Mad-
sen beschlossen zu heiraten?
Curpen: Wir haben schon vor unserem
Treffen darüber gesprochen. Ich weiß
nicht mehr, wessen Vorschlag es war. Ich
war nie in meinem Leben verheiratet, ich
fand das immer eine unnötige Formalität.

Aber jetzt ist alles anders. Es war das erste
Mal, dass ich dachte: Ich muss das tun.
SPIEGEL: Aber Sie kennen diesen Men-
schen eigentlich nicht.
Curpen: Doch, ich kenne ihn. Durch seine
Briefe, durch unsere Gespräche. Ich weiß,
wo wir uns ähneln und wo wir uns unter-
scheiden. Ich bin eher ein kalter Mensch,
sehr distanziert. Er ist das Gegenteil: emo-
tional, ganz weich.
SPIEGEL: Woran erkennen Sie das? Sie
haben ihn ja nur wenige Male getroffen.
Curpen: An seinem Schreibstil. Er berich-
tet sehr liebevoll über andere Menschen.

»Frauen, die Mörder lieben, wollen die Ma-
kel ihrer Männer nicht sehen«, schreibt
die US-amerikanische Autorin Sheila Isen-
berg, die in den Neunzigerjahren eines der
bekanntesten Bücher zum Bonnie-und-
Clyde-Syndrom verfasste. Stattdessen sei
die Liebe »genährt von Fantasie«.
Ein Mann, der eingeschlossen ist, ist ein
vergleichsweise verlässlicher Partner. Er
freut sich über Kontakt zur Außenwelt, hat
viel Zeit und Aufmerksamkeit zu geben.
Gleichzeitig gibt es keinen Alltag, der die
Liebe auf die Probe stellt. »Keine Wäsche,
keine schmutzigen Socken«, sagt die Psy-
chologin Katherine Ramsland. »Nur eine
idealisierte Romanze, die lange dauern
kann.«

SPIEGEL: Wie sehen Sie die Zukunft Ihrer
Ehe? Madsen wurde zu lebenslänglicher
Haft verurteilt, es ist unwahrscheinlich,
dass er das Gefängnis je verlassen darf.
Curpen: Ich denke nicht daran. Es ergibt
keinen Sinn, etwas zu analysieren, das
man nicht ändern kann.
SPIEGEL: Aber normalerweise leben Ehe-
leute zusammen. Sie kochen gemeinsam,
sie teilen ein Leben.
Curpen: Und ganz oft ist das auch eine
Art Fake. In Wahrheit verbringen diese
Menschen meist wenig Zeit miteinander.
Oder sie halten das, was sie haben, für
selbstverständlich, und dann verliert es
mit der Zeit an Bedeutung und zerbricht.
SPIEGEL: Aber Sie werden nie ein Leben
mit Peter Madsen führen.
Curpen: Ich finde, dass wir durchaus ein
gemeinsames Leben haben. Und es ist sehr
viel realer als das vieler Menschen, die ich
kenne. Unsere Beziehung ist wertvoller,
als sie es wäre, wenn alles Routine wäre.

Jenny Curpen spricht vier Stunden lang.
Anfangs wirkt sie kämpferisch und rebel-
lisch, beschimpft den dänischen Staat, die
europäische Linke und die moderne Kunst.
Mit der Zeit wird sie jedoch weicher, ruhi-
ger. Es fällt auf, wie dünn sie ist. Sie ver-
schwindet beinahe in ihrem Pullover. Sie
sagt, sie habe Probleme mit dem Essen,
vielleicht klappe es heute. Plötzlich wirkt
sie zerbrechlich, wie jemand, der Halt

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Ausland

Ein Mann, der ein -
geschlossen ist, ist ein
vergleichsweise
verlässlicher Partner.
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