Der Spiegel - 21.03.2020

(Michael S) #1

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xistenzielle Krisen wie die derzeitige Pandemie
haben mehrfach in der Geschichte xenophobe
Nationalisten und Rechtsradikale gestärkt. Das
war schon zur Zeit der Spanischen Grippe so, die
vor gut hundert Jahren weltweit je nach Schätzung zwi-
schen 17 und 50 Millionen Menschen das Leben kostete,
davon in Deutschland etwa 350 000. Die Mortalität war
nach dem Ersten Weltkrieg auch deshalb so hoch, weil ein
Großteil der Bevölkerung seit dem »Steckrübenwinter«
von 1917 hungerte und entsprechend geschwächt war.
Außerdem gab es noch keine Antibiotika gegen bakterielle
Sekundärinfektionen wie Pneumokokken.
Die vielen Toten trugen zur Verunsicherung bei und
hinterließen nach den Kriegsverlusten noch mehr Waisen
und Halbwaisen. Die Spanische Grippe geriet wohl
nur deshalb in Vergessenheit, weil der Weltkrieg schon so
viele Menschenleben gefordert hatte und ab 1929 noch
schwerere Zeiten folgten. Die Weltwirtschaft erholte sich
relativ rasch von der Pandemie, weil die Beseitigung
von Kriegsschäden, technische Neuerungen wie die Fließ-
bandproduktion und die beginnende Massenmotorisierung
das Wachstum antrieben.
Während die Gesundheitssysteme heute besser gerüstet
sind als damals, könnte der ökonomische Fallout von
Covid-19 schlimmer werden. Das liegt paradoxerweise am
weit höheren Wohlstand. Heute haben die Industriestaaten
mehr zu verlieren als nach dem Ersten Weltkrieg, als sie
mit Ausnahme der USA am Boden lagen. Die Börsenkurse
erreichten vor ein paar Wochen ein Allzeithoch und sind
nicht zuletzt deshalb um mehr als ein
Drittel abgestürzt. Im Unterschied
zu den frühen Zwanzigerjahren ist
jedoch eher eine Deflation als eine
Inflation zu erwarten. Mittlerweile
gehen führende Ökonomen von
einer Rezession aus, die noch schwe-
rer sein könnte als 2009.
Wie wird dieses Mal der politische
Fallout sein? Die jüngere Zeit -
geschichte lässt nichts Gutes ahnen.
Die Demokraten in den USA und
Mitte-links-Regierungen in Europa
lösten die schlimmste Krise des
Börsenkapitalismus seit 1929 zwar
finanztechnisch, aber sie büßten
durch das Bündnis mit der Finanz-
welt an Glaubwürdigkeit ein.

Donald Trump nutzte das im Wahlkampf von 2016
gnadenlos aus, um Hillary Clinton als Teil der korrupten
Eliten und sich als Vertreter der weißen Arbeiterklasse
darzustellen. Ob Trump erneut zum Krisengewinnler
wird, ist jedoch offen. Bei den ersten Maßnahmen gegen
die Pandemie war seine Inkompetenz unübersehbar,
und eine Rezession könnte ihn die Wiederwahl kosten,
denn bislang war sein Dauerwahlkampf sehr stark
auf die gute Konjunktur und die zurückgegangene Arbeits -
losigkeit ausgerichtet.

A


uch ohne Trump ist es möglich, dass weltpoli -
tische Weichen neu gestellt werden. In den USA
trug die Angst vor der Influenza mit dem fremd-
ländischen Namen 1921 zum Ende der Massenein-
wanderung bei. Ein gutes Jahr nach der Pandemie erließ
der US-Kongress den »Emergency Quota Act«, der die
Einwanderung nach Herkunftsländern begrenzte und sich
vor allem gegen Süd- und Osteuropäer und damit auch
gegen Juden richtete. Das betraf nicht nur Menschen, son-
dern auch Waren. Die USA und weitere Länder griffen in
den Zwanzigerjahren vermehrt zu Schutzzöllen und ande-
ren Handelsbeschränkungen. Steht die Welt vor einer
erneuten Abkehr von der Globalisierung? Derzeit sieht es
so aus. Das könnte sich ab dem Herbst wieder ändern,
doch globale Lieferketten und Abhängigkeiten erscheinen
grundsätzlich fragwürdig, wenn dadurch medizinische
Grundausrüstung wie Schutzmasken knapp wird. In so -
fern könnte die gegenwärtige Pandemie Globalisierungs -
kritikern verschiedener Couleur Auftrieb verschaffen.
Die europäische Integration kann man in vieler Hin-
sicht als Globalisierung im Kleinen betrachten, nur dass
sie neben freiem Handel und Kapitalflüssen auch auf der
Freizügigkeit von Personen beruht. Damit ist nun erst ein-
mal Schluss, mit all den Grenzschließungen fällt die EU
vorläufig auf Nationalstaaten zurück. Diese Entwicklung
begann ausgerechnet am Brenner, der für den europäischen
Einigungsprozess seit je eine besondere wirtschaftliche
und symbolische Bedeutung hat. Der durch die österrei-
chischen Grenzkontrollen ausgelöste Stau reichte zeit -
weilig hundert Kilometer weit. Doch Viren kennen keine
Nationalstaatsgrenzen, das Bundesland Tirol ist durch
einheimische Ansteckungsherde in Hotels und Après-Ski-
Lokalen selbst zu einem europäischen Problemfall ge -
worden. Demzufolge müsste man eine innerösterreichi -
sche Grenze aufziehen, aber das geht natürlich nicht,
wenn der Bundeskanzler das ganze Land kurzerhand zu
einem »Team Österreich« erklärt. Inzwischen hat sich
Tirol auf der Ebene seiner Gemeinden in eine Selbstisola-
tion begeben.
In Ungarn und Polen ist die Abwendung vom geeinten
Europa wie schon in der Flüchtlingskrise einen Zacken
schärfer. Dort beschlossen Regierungen Einreisesperren
für alle Ausländer, womit gleich die Schuldigen markiert
sind. So absurd die Vorwürfe im Ausland erscheinen
mögen, bestätigen sie doch die »Frames«, diskursive Rah-
men, die Viktor Orbán seit Jahren mithilfe der von ihm
kon trollierten Medien setzt. Trump wiederum attackierte
erst China, dann die EU – wobei sich sein Framing eines
»chinesischen Virus« offenbar nicht durchsetzt. Auch das
deutet darauf hin, dass er es bei den Wahlen im Novem-
ber schwerer haben könnte als erwartet.
In Polen hingegen musste Präsident Andrzej Duda
zunächst um seine Wiederwahl bangen. Inzwischen liegt
er in Umfragen weit vor den Gegenkandidaten, die den

Philipp Ther


Die Ära nach dem


Ausbruch


EssayVon Weltkrisen und ihren Folgen profitierten


oft rechte Populisten. Sie schlossen Grenzen und


kappten den Warenverkehr. Was wird der langfristige


Fallout diesmal sein?


DER SPIEGEL Nr. 13 / 21. 3. 2020

VOLKER DA / PICTURE ALLIANCE

Coronakrise

Ther,52, ist Historiker an
der Universität Wien, wo er
die Sozialgeschichte globaler
Umbrüche erforscht. Sein
Buch »Das andere Ende der
Geschichte« erschien im
Herbst 2019.

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