Der Spiegel - 21.03.2020

(Michael S) #1
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Wahlkampf praktisch eingestellt haben. Deshalb will
Dudas Partei offenbar den Wahltermin am 10. Mai auch
nicht verschieben. Dem Präsidenten bietet die Angst
vor dem Virus die Chance, sich als Retter des Vaterlandes
zu inszenieren. Das versucht der französische Präsident
Emmanuel Macron mit all seinem rhetorischen Talent
und im Gegensatz zu den genannten ostmitteleuropäischen
Kollegen mit einem Bekenntnis zu Europa. Doch wenn
die Arbeitslosigkeit stark ansteigt oder den zu Hause
kasernierten Kindern und ihren Familien die Decke auf
den Kopf fällt, könnten sich rasch Proteste gegen Macron
und andere Staats- und Regierungschefs entwickeln.


D


as gilt auch für den italienischen Premier Giuseppe
Conte, der zwar bislang beim Kampf gegen
Covid-19 den richtigen Ton getroffen hat, aber
wirtschaftlich und budgetär mit einer dramatischen
Herausforderung konfrontiert ist. Seit der Finanz- und
Wirtschaftskrise von 2009 steht Italien das Wasser bis zum
Hals. In den folgenden Jahren stiegen die Staatsschulden
bereits um mehr als 30 Prozentpunkte. Das lag vor allem
am Rückgang des BIP, nicht an höheren Staatsausgaben.
Sollte sich dieses Szenario aber wiederholen, könnte die
Schuldenlast Italiens rasch auf 170 Prozent des BIP anstei-
gen und somit auf ein ähnliches Niveau wie in Griechen-
land nach dem Ausbruch der Eurokrise. Außerdem hängt
die italienische Wirtschaft stark von kleinen und mittleren
Unternehmen ab, die am meisten unter den Ausgangs-
sperren leiden. Die Eurozone wird sich daher bald Gedan-


ken darüber machen müssen, wie sie Italien stützen kann.
Wahrscheinlich geht das nur mit Eurobonds, für die alle
Mitglieder der Eurozone haften und die offiziell als Anlei-
hen zur Bewältigung der Pandemie ausgegeben werden.
Immerhin hat die Bundesregierung nach langem Zögern
verstanden, dass es in der akuten Notlage nicht zuletzt
auf symbolische Gesten ankommt. Die Zusage, das Export -
verbot für Schutzmasken aufzuheben und eine Million
davon nach Italien zu liefern, könnte die antieuropäische
Stimmung abmildern, die sich in dem Land seit der Euro-
krise breitgemacht hat.
Da wie dort ist außerdem bald eine Debatte über die
Verteilung der Lasten und Kosten fällig. Die Lufthansa,
die in den vergangenen fünf Jahren ihren Aktionären satte
Dividenden ausschüttete, hat schon Staatshilfen beantragt.
So schnell und gut mit der Politik vernetzt wie die großen
Konzerne sind die vielen Einzelhändler und Kleinunter-
nehmer nicht, aber sie sind für den Arbeitsmarkt wichtiger.
Auch Staatsbedienstete (zu denen der Autor zählt), bei
denen die Gehälter einfach weiterlaufen, könnten eine
Solidaritätsabgabe leisten, damit denen geholfen wird, die
am meisten unter der Krise leiden. Das sind auch Künst-
ler und Musiker, die nirgendwo mehr auftreten können.
Es gibt für diese politische und ökonomische Heraus -
forderung, vor der Europa steht, keine Präzedenzfälle.
Wenn die Mehrheit der Bevölkerung den Eindruck hat,
dass es dabei einigermaßen gerecht zugeht und die
Probleme solidarisch angegangen werden, kann dies
die Demokratie stärken. Oder sie wird geschwächt,
wie nach vergleichbaren Krisen in der Vergangenheit.

UNCREDITED / PICTURE ALLIANCE / DPA
Rotkreuzhelferinnen während der Grippe-Epidemie in St. Louis, Missouri, 1918
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