2020-04-08 Die Zeit

(Barré) #1
DIE ZEIT

WOCHENZEITUNG FÜR POLITIK WIRTSCHAFT WISSEN UND KULTUR


CORONA-TRACKING KIRCHENBESUCH

Apps können unterstützen, die Verbreitung des Virus einzudämmen.


Sie befreien uns aber nicht von Selbstdisziplin VON GERO VON RANDOW


Früher übersprangen viele Karfreitag und gingen gleich zum


Osterspaziergang über. Das ist jetzt anders VON EVELYN FINGER


Kleines Übel Glaube, Liebe, ...


M


it Smartphone-Apps gegen
Corona kämpfen, das klingt
zu schön, um wahr zu sein.
Doch seit vergangener Woche
macht ein System Hoffnung,
mit dem sich derartige Apps
binnen Kurzem programmieren ließen: Nachdem
ein Handynutzer positiv auf Covid-19 getestet
wurde, erscheint dann eine Alarmmeldung auf all
jenen Geräten, die mit seinem zuvor Funkkontakt
per Bluetooth hatten.
Derartige Themen waren früher etwas für
Spezialisten. Früher, vor wenigen Wochen. Vor
der Pandemie. Mit ihr wächst nicht nur die Zahl
der Erkrankten, sondern steigt auch die Lern-
kurve der Bürger. Sie erleben eine Ausweitung
der Angst und des Wissens, der Unsicherheit
und der Sicherungsmaßnahmen sondergleichen.
Über das Virus wissen sie jetzt auch dies: Wer
infiziert ist, fühlt sich tagelang noch gesund, ist
aber bereits ansteckend. In dieser Phase rast Sars-
CoV-2 unter einer Tarnkappe durch die Bevöl-
kerung. Zeigt jemand Symptome, ist daher Eile
geboten, will man die Kontaktpersonen des
Patienten rechtzeitig finden und testen. Zurzeit
tun dies die Gesundheitsämter mit Fragebogen
und Telefon. Digital ginge es schneller.

Eine Kombination von Datenquellen
wie in Südkorea wäre bei uns verboten

In Südkorea hat der Einsatz einer App zur Rück-
verfolgung dazu beigetragen, die Zahl der
Neuinfektionen rasch zu senken. Doch das Land
weist ein paar Besonderheiten auf. Erstens folg-
ten die Bürger unverzüglich der Aufforderung,
ihre Kontakte radikal einzuschränken. Zweitens
ist dort der Einsatz von Apps in allen Lebens-
bereichen Alltag. Drittens kombinierte die Regie-
rung Daten aus vielen Quellen, etwa Pkw-Navis,
Kreditkartentransaktionen, Überwachungskame-
ras – bei uns wäre das verboten. In Südkorea
begann, viertens, das Handy-Tracking schon im
Frühstadium der Seuche, was es erlaubte, eine
große Zahl der Verdachtsfälle rechtzeitig zu iso-
lieren und die Kettenreaktion zu stoppen.
Technik besteht eben nicht nur aus Sachen oder
Software, etwa aus Chips und Apps, sondern auch
aus Verhaltensweisen. Innovation ist daher ein
gesellschaftlicher Lernprozess. Dazu ein Beispiel
aus der Seuchenbekämpfung: die Fliegenklatsche.
Das erste US-Patent für dieses Gerät wurde im Jahr

1900 erteilt. Doch um es zum Massenartikel zu
machen, war eine Kampagne für den Kampf gegen
krankheitsübertragende Fliegen nötig. Pfadfinder
riefen zu »Fliegenklatschen-Kreuzzügen« auf, Frau-
envereinigungen, Ärzte, die Medien und die Indus-
trie schlossen sich an. So erlernte die amerikanische
Bevölkerung diese heute so selbstverständliche
Methode der Hygiene. Jahre hat es gedauert.
So viel Zeit haben wir jetzt nicht. Bis eine
kritische Masse der Bevölkerung die neuen
Corona-Apps installiert und die Handy-Einstel-
lungen angepasst hat, werden Wochen verstrei-
chen. Außerdem müssen die Benutzer davon
überzeugt werden, dass mit ihren Daten kein
Schindluder getrieben wird.
Denn die Bürger erleben in diesen Tagen die
Staatsmacht und deren überlegene Gewalt ganz
unmittelbar. Sie haben während der »sozialen
Distanzierung« erfahren, wie schnell Mahnun-
gen zu Anordnungen werden. So sinnvoll das
derzeitige Seuchenregime ist, es haben sich blitz-
artig ein paar Gewichte verschoben. Soll man
jetzt auch noch seine Bewegungsdaten abliefern?
Und wann endet auch hier die Freiwilligkeit?
Das neue App-Konzept kommt solchen
Bedenken entgegen. Es beruht auf dem freiwil-
ligen Austausch von Funk-Kennungen, die für
sich genommen keine Rückschlüsse auf Orte
und Personen zulassen. Wird bei jemandem
Covid-19 diagnostiziert, kann er das Handy-
protokoll seiner Kontakte auf einen zentralen
Computer laden, der sodann die Warnungen
verschickt. Alles anonym und verschlüsselt.
Völlig ohne Risiko ist das Verfahren nicht.
Doch im Vergleich zur Seuche wiegt diese Gefahr
gering. Überdies gehen die meisten Tag für Tag
größere digitale Risiken ein. Solange die Apps
programmiert werden, bleibt noch genug Zeit,
sie datenschutzrechtlich zu sichern: Zweck und
Zeitraum ihres Einsatzes müssen begrenzt,
Pflichten zur Dokumentation und Löschung der
Datensätze festgelegt werden.
Die Apps ersetzen die jetzigen Kontakt-
beschränkungen nicht, die Fallzahlen sind zu
hoch. Sinken sie, kann die Technik helfen, einen
neuerlichen Ausbruch der Krankheit sofort ein-
zudämmen. Den Bürgern bleibt der größte
Lernprozess weiterhin aufgegeben: Selbstdiszi-
plin auch dann zu üben, wenn der auf ihnen las-
tende Bann immer schwerer zu ertragen ist.

A http://www.zeit.deeaudio

W


ie war Ostern eigentlich vor
Corona? Im Normaldeutsch-
land wäre es wohl nicht
passiert, dass Gläubige schon
eine Woche vor Ostern an
Kirchentüren rütteln und
Einlass begehren. So geschah es am Palmsonntag
in St. Michael in München: Da feierten zehn
Jesuiten, die zu dieser Kirche gehören, still und
separiert die Messe, während sich draußen die
Christen – oder vielleicht besser: die Trostbedürf-
tigen – nicht mit der verschlossenen Tür ab-
finden wollten. Sie drückten die Klinke, sie
klopften. Warum?
Ostern ist das höchste Fest der Christenheit,
weil sich die Erlösungsgeschichte voll endet. Jesus
geht den Weg durch den Kreuzestod zur Auferste-
hung. Die wird bis heute als Sieg
gefeiert: In der verdunkelten
Kirche gehen die Lichter an, das
Halleluja erklingt, die Orgel
braust. Könnte es sein, dass viele
Leute das gerade jetzt brauchen?
Tatsächlich sorgt das Gottes-
dienstverbot in Deutschland für
Missmut. Dass der bislang nur
gedämpft geäußert wurde, liegt
daran, dass in einer aufgeklärten
Gesellschaft keiner gern als Gegner des Infektions-
schutzes gelten will. Die Tatsache aber, dass an
Ostern mancherorts Gartenmärkte geöffnet und
Kirchen geschlossen sein werden, ärgert nicht nur
Pfarrer. Viele Gotteshäuser wären ja groß genug
und die Gemeinden klein genug, um die Festlitur-
gien mit gebührendem Abstand zu feiern. Warum
ist das unmöglich? Gegenfrage: Warum sollte das
so wichtig sein in einem Land, wo normalerweise
kaum einer merkt, wenn ein Gottesdienst ausfällt?
Weil Ostern einen Trost bereithält gegen die
Weltweitkatastrophe. Das Ostergeschehen be-
schreibt die apokalyptische Situation schlechthin:
Die Welt gerät an einen Endpunkt – der Sohn
Gottes wird von den Menschen getötet –, doch
daraus erwächst ein Neuanfang. Heute wird gern
vergessen, dass die Apokalypse stets zwei Teile
hatte: Untergang und Erlösung. Das Christentum
übersetzt deshalb das Wort Apokalypse auch mit
Offenbarung oder Zeitenwende.
Man muss nicht Christ sein, um daraus Hoff-
nung zu ziehen. Eine Ärztin aus Berlin berichtete
dieser Tage, dass beim Corona-Telefon täglich über
5000 Menschen anrufen. Die mit Abstand größte

Angst: im Fall einer schweren Infektion von einer
überforderten Klinik aussortiert zu werden, zu
sterben, schlimmstenfalls: allein. Darauf, so schrieb
die Ärztin an die Redaktion der ZEIT, hätten
Mediziner nur unzureichende Antworten. Hier
seien Seelsorger gefragt – Experten nicht nur fürs
ewige Leben, sondern auch für das Kreuz.
Im Normaldeutschland, vor Corona, neigten
an Ostern viele dazu, das Dunkle des Karfreitags
zu überspringen und gleich zum Osterspaziergang
zu kommen. Das Fest war mehr wie bei Goethe
(»Vom Eise befreit«) als wie bei Paul Gerhardt
(»O Haupt voll Blut und Wunden«). Kann es sein,
dass sich das jetzt ändert?
Einer der Jesuiten aus St. Michael, Pater Hans
Zollner, sagt dazu: Mit Corona kommt etwas
Unaufhaltsames auf uns zu, so wie der Kreuzestod
auf Jesus zukam. Wir können
uns dem stellen, indem wir uns
schützen, aber von der Infek-
tionsangst nicht treiben lassen


  • sondern an dem Glauben fest-
    halten, dass der Tod nur eine
    Grenze, nicht das Ende ist. Und
    die das nicht glauben? Für sie
    kann der Glaubende selbst ein
    Halt sein. Es geht ja nicht
    darum, jetzt den Atheisten die
    Auferstehung zu predigen. Es geht darum, weder
    in Panik noch in Fatalismus zu verfallen – und
    sich auf den Ernstfall des Sterbens vorzubereiten,
    statt nur auf die Vermeidung des Ernstfalls.
    Es geht um eine Gewissheit, die Trost gibt, wo
    die Wissenschaft mit ihrem Latein am Ende ist.
    Paul Gerhardt drückt es im Osterlied so aus: »Wann
    ich einmal soll scheiden, e so scheide nicht von mir!
    e Wann ich den Tod soll leiden, e so tritt dann du
    herfür: e Wann mir am allerbängsten e wird um das
    Herze sein, e so reiß mich aus den Ängsten e kraft
    deiner Angst und Pein.«
    Es hilft, jetzt auf den Karfreitag zu schauen,
    denn da geht Jesus durch den Tod ins Leben. Sein
    Beispiel lehrt nicht nur Ergebung in den Tod (»Dein
    Wille geschehe«), sondern Vertrauen: dass der Tod
    nicht das Letzte ist und dass es zur Freiheit jedes
    Menschen gehört, sich ihm zu stellen – so wie die
    Ärzte und die Seelsorger, die jetzt bei den Infizierten
    bleiben. Nicht weil sie lebensmüde sind, sondern
    weil sie der Todesangst etwas Altes entgegensetzen,
    die Bibel nennt es: Glaube, Liebe, Hoffnung.


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Titelillustration: Olaf Hajek

Der britische Milliardär und ehe-
malige Formel-1-Unternehmer
Bernie Ecclestone, der zum drit-
ten Mal verheiratet ist, in Brasi-
lien lebt und drei Töchter sowie
fünf Enkel hat, wird abermals
Vater. Seine jetzige Frau ist 41, er
ist 89 Jahre alt. Als Abraham mit
Sara seinen Sohn Isaak zeugte,
war er 99. Ecclestone hat also
noch viel Zeit, sich weiter zu ver-
mehren. GRN.

Spätester Vater


PROMINENT IGNORIERT

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haeuser/laif; Fototeca Gilardi/akg-images

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16

Was jetzt Hoffnung gibt


Auferstanden –


oder doch nicht?


Die Beweislage der


Ostergeschichte


ZEITMAGAZIN

Und 26 Menschen


diskutieren,


ob Beten hilft


STREIT

Die OsterZEIT
leistet Ihnen an diesem
ungewöhnlichen
Wochenende auch
jenseits der Zeitung
Gesellschaft:
http://www.zeit.deeosterzeit

WIE


GE FÄ H R L IC H


SIND


TÜRKLINKEN?


»Ein neues


Zeitalter«


Bilden Sie eine


Schlange!


Experten über die


Vorsicht und ihre


Nebenwirkungen
Wissen, Seite 32

Der Philosoph Peter


Sloterdijk über


Verbote und Liebe


in Corona-Zeiten
Feuilleton, Seite 47

Wie es ist, jetzt


bei der Security


zu arbeiten
Z, Seite 55

PREIS DEUTSCHLAND 5,50 € 8. APRIL 2020 No 16
108351_ANZ_10835100021632_26147625_X4_ONP26 202.04.20 11:

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