2020-04-08 Die Zeit

(Barré) #1
Magische Rituale vor dem Wettbewerb sind dem Ringkämpfer Kherou Ngor so wichtig wie das Training selbst

Wie


verhext


Der Zauberei begegnet man im


westafrikanischen Senegal allerorten.


Dahinter steckt viel mehr als


Aberglaube VON ANGELA KÖCKRITZ


Dakar

F


atou Sy kennt die Intrigen und
Sehnsüchte, die Ängste und die
Eifer sucht – was die Menschen eben
einer Zauberin anvertrauen. Tag für
Tag zwängen sie sich in ihre winzige
Praxis, lassen sich auf dem Boden
nieder, schauen erwartungsvoll auf
die Kaurimuscheln, die Sy in einen Bastkorb wirft,
um daraus zu lesen. Mit 13 ist ihr zum ersten Mal
der Geist ihrer Familie erschienen, inzwischen ist sie


  1. Senegal, westlichstes Land Afrikas, 16 Millionen
    Einwohner, 95 Prozent Muslime, was viele nicht
    hindert, Zauberer, Wunderheiler und Geisterjäger
    zu konsultieren. »Heute gibt es mehr Zauberei als
    früher«, sagt Sy.
    Man kann das schwer mit Zahlen belegen. Unbe-
    stritten hat die Nachfrage nach Hexerei, genannt
    Maraboutage, einen gewaltigen Dienstleistungssektor
    geschaffen. Doch gibt es weder Umfragen noch einen
    Berufsverband. Sy sagt: »Früher hatten die Menschen
    nicht so viele Sorgen, sie fischten, bestellten die Felder.«
    Jetzt sei das Leben teuer geworden. »Es gibt wenige
    Arbeitsplätze.« Der Hexer Seydou Nourou, 71, teilt


Sys Beobachtung. Seit 40 Jahren praktiziert er sein
Metier, die Geschäfte seien noch nie so gut gelaufen.
»Die Konsumgesellschaft. Jeder will mehr. Jeder hat
viele Begehren. Die Frauen wollen keine Nebenfrauen,
die Männer wollen immer mehr Frauen.«
Der im Jahr 2018 verstorbene senegalesische Phi-
losoph Ibrahima Sow hat den imaginären Kosmos
seiner Mitbürger intensiv erforscht. Er schreibt in
seinem Werk »Maraboutage im Senegal«: Sie »ist eine
soziale Realität, etwas, auf das die Menschen täglich
zurückgreifen, vor allem wenn es um Arbeit, Liebe
und soziale Konflikte geht.«
Vor Sy sitzt Nabou Sow*, 32, eine elegante Frau,
stets um Fassung bemüht, auch wenn ihr das Leben
gerade viel abverlangt. Vor ein paar Monaten forderte
ihr Mann, ein in Texas lebender Senegalese, die Schei-
dung. Er will seine Cousine heiraten. Acht Jahre lang
hatte er versprochen, Sow und die beiden Söhne nach
Texas zu holen. Sie hatte davon geträumt, Film zu
studieren. Doch immer kam etwas dazwischen. Mal
fehlte angeblich ein Dokument, dann wurde das Geld,
das er schickte, weniger. Eine geschiedene Frau gilt als
gescheitert. Nabou Sow bringt sich und die Kinder
mit Dolmetscherjobs durch. »Nie hätte er mir so etwas

von sich aus angetan«, sagt Sow. »Die Cousine muss
ihn verhext haben.« Sie beschloss, sich zu wehren.
Konsultierte Hexer, zwölf an der Zahl, die verschrie-
ben Opfergaben, Talismane und magische Bäder. Sie
lieh sich Geld, verkaufte ihren Goldschmuck. Insge-
samt investierte sie 500.000 westafrikanische Francs
in die Zauberei, umgerechnet 762 Euro. Das durch-
schnittliche jährliche Pro-Kopf-Einkommen liegt im
Senegal bei 1300 Euro.
Der Markt der Wunderheiler hat Experten für jedes
Problem hervorgebracht. Liebe, Karriere, Gesundheit,
Kinderlosigkeit. Die einen vergrößern Geschlechts-
teile, Brüste und Hintern, die anderen bieten Schutz
vor Krankheit, Gewehrkugeln, bösen Blicken – und
der Polizei.
Die Spuren der Zauberei finden sich allerorten. Im
Ringkampf, dem Volkssport, tritt jeder Kämpfer mit
einer vielköpfigen »équipe mystique« an, die ihm vor
dem Turnier in aller Öffentlichkeit einen Zaubertrank
nach dem anderen über den Kopf schüttet. Das Fuß-
ballspiel Benin gegen Senegal während des Afrika-
Cups 2019 schrieben die Journalisten zu einem Kampf
der Hexer hoch. Die Voodoopriester Benins ließen
ausrichten, sie seien schon aufgrund ihrer immensen

Zauberkraft unschlagbar – was sich im Spiel als
falsch erwies.
Die Angst vor der Zauberei ist allgegenwärtig, nie
aber ist sie größer als vor Wahlen. Die Presse be-
richtet von angeblichen Kinderopfern. Der Interes-
senverband der Menschen mit Albinismus schaltet
Anzeigen, man möge seine Mitglieder verschonen.
»Wenn jemand stirbt, sei es durch einen Unfall, wird
ein Menschenopfer zum Nutzen dieses oder jenes
Politikers vermutet«, schreibt der Philosoph Sow.
Auch am Arbeitsplatz fürchtet man die Hexerei.
Beim staatlichen Rundfunksender RTS sollen
viele Angestellte unter falschem Namen arbeiten –
die Politik gilt als geradezu hexereiverseucht. Als der
frühere Präsident Abdoulaye Wade sich im Wahl-
kampf weigerte, in Talkshows auf einer anderen
Couch zu sitzen als der eigens mitgebrachten, ver-
muteten viele, er habe Angst vor Hexerei.
Man begegnet der Maraboutage selbst dort, wo
man sich ganz der Ratio verschrieben hat: in der
Wissenschaft. Bei Prüfungen, erzählt Ibrahima
Diagne, Leiter der Germanistik an der Universität
Cheikh Anta Diop in Dakar, erschienen seine Stu-
denten mit Talismanen, in den Haaren Spuren der
Zauberbäder. »Einerseits wird der internationale
Einfluss größer, wenden sich die Jungen dem Islam
zu, andererseits konsultieren viele von ihnen die
Zauberer.« Er glaubt, dass sie vor allem psychologi-
sche Begleitung suchen. Viele schämen sich, zum
Psychologen, zu Freunden oder Verwandten zu
gehen. »Dem Magier können sie alles erzählen.«
»Es ist ein nie endender
Kampf gegen die menschliche
Angst«, schreibt Ibrahima Sow.
Gleichzeitig vergrößert die
Magie die Furcht. Wo nichts
aus Zufall geschieht und hinter
jedem Unglück ein Übelmei-
nender steckt, erzeugt das Miss-
trauen immer neues Misstrau-
en. Stets gilt es, sich zu schüt-
zen. Vor dem bösen Blick, der
bösen Zunge. Als mein Freund
Héros zum Studium nach Spa-
nien zieht, erzählt er keinem
von der bevorstehenden Ab-
reise. Nachdem meine Bekann-
te Aminata eine Totgeburt er-
litt, heißt ihre Großmutter sie,
die nächste Schwangerschaft
geheim zu halten. Die Schwan-
gere zieht in eine andere Stadt,
geht monatelang fast nicht vor
die Tür. Jeder hütet seine
Geheimnisse. »Die Hexerei
kommt von der Eifersucht«,
glaubt Aminata. »Der Konkur-
renz. Das beginnt schon in der Großfamilie. Immer
wirst du an den vielen anderen Kindern gemessen.«
Die Großfamilie hilft, schützt, nährt, straft. Der
Psychologe Pape Ladické Diouf spricht von »fami-
liärem Terrorismus«. Großfamilien schafften Al-
lianz sys te me. Aber fast immer gebe es einen Teil der
Familie, der gegen einen anderen kämpfe.
Das gilt vor allem für polygame Familien. Mehr
als ein Drittel der Senegalesen lebt in Vielehe. Oft
herrscht zwischen den Frauen erbitterte Konkur-
renz. »Der Wettbewerb«, sagt Erstfrau Kadia Dia,
»erstreckt sich auf alle Bereiche des Lebens.« Wer
ist schöner, wer kocht besser, wer hat mehr erfolg-
reiche Kinder? »Du bist mit der ganzen Verwandt-
schaft deines Mannes verheiratet. Du musst zu allen
nett sein, selbst zu den Schafen und Hühnern. Gibst
du ihnen nicht genug zu fressen, heißt es sofort: Du
bist eine schlechte Frau.«
Paradoxerweise ist es das Gebot der Solidarität,
das die Familienkonstellation so heikel macht. Jeder
soll sein Einkommen, seine Güter zu teilen. Da-
durch bleibt leicht eine oder einer mit dem Gefühl
zurück, nicht genug abzubekommen. Da ist die
Zweitfrau, die glaubt, sie und ihre Kinder würden
benachteiligt. Der Cousin, der meint, zu wenig vom

Aufstieg seines Verwandten zu profitieren. »Kinder
wachsen mit einem feinen Gespür für soziale Be-
ziehungen auf«, sagt Psychologe Diouf. »Das macht
sie einerseits resistent und sozial hochkompetent.«
Andererseits lernten sie schnell, dass sie sich an-
passen sollen. »Sie beginnen Masken zu tragen – je
nach Situation.« Und manchmal verlören sie sich
selbst dabei. »Von klein auf setzt man den Kindern
in den Kopf, dass es in ihrer Familie einen Feind
gibt. Man lebt stets in einem leicht paranoiden Zu-
stand.« Die Menschen verteilen ihre Habe, aus
Großzügigkeit, Religiosität, um ihren guten Ruf zu
wahren. Und um sich zu schützen.
Die familiäre Solidarität ist der Ersatz für ein
staatliches Sozialsystem. Arme, Kranke, Alte werden
aufgefangen. Doch weil Gewinne sogleich verteilt
werden, bleibt wenig für Investitionen. »Es hemmt
den wirtschaftlichen Aufschwung«, sagt Diouf. »Wir
ermutigen die jungen Leute nicht, Unternehmer zu
werden. Dabei sind sie unsere wertvollste Ressource.«
Der in Dakar lebende Schweizer Ethnologe und
NZZ-Korrespondent David Signer hat ein Buch
über den Zusammenhang von Wirtschaftsentwick-
lung und Hexerei geschrieben: Die Ökonomie der
Hexerei. Signer ließ sich selbst zum Hexer ausbilden.
Sozialer Aufstieg rufe Neid hervor, schreibt er. Also
mache man sich klein, suche sein Glück woanders.
»Das afrikanische Leben, vor allem das dörfliche,
zeichnet sich aus durch eine extreme verwandt-
schaftliche Solidarität (paradiesische Nähe) und eine
extreme verwandtschaftliche Konfliktsituation (höl-
lische Nähe).« Signer zitiert die
französische Ethnologin Su-
zanne Lallemand, die Familien-
strukturen in Togo untersuchte.
Man teile dort wie an vielen
Orten des Kontinents seinen
Besitz, nehme entfernte Ver-
wandte auf, um sie jahrelang
durchzufüttern, und versuche,
alle negativen Gefühle zu unter-
drücken. Doch natürlich gebe
es sie. Für Lallemand liegt im
Widerspruch zwischen vorge-
schriebenem und realem Ge-
fühl der Ursprung der Figur der
Hexe. Sie vereint die unausge-
lebte Aggressivität der Gemein-
schaft. Konflikte werden ins
Reich des Imaginären verbannt.
Doch »was im Hexereiglauben
individualisiert und dem Neid
einer einzelnen Person zuge-
schrieben wird, ist in Wahrheit
die anonyme zurückbindende
Kraft der konservativen Hie-
rarchie«, schreibt Signer. Die
Zauberei diene so der Herrschaft der Alten.
Alle Gesellschaften befänden sich permanent im
Konfliktzustand, schreibt Signer. Doch während
moderne Gesellschaften diesen als Motor für Ent-
wicklung nutzten, versuchten traditionelle Kulturen
Wandel zu verhindern. Dies führe zu einem Zu-
stand, »der im dörflichen Kontext stabilisierend
gewesen sein mag, aber unter den Bedingungen von
freier Marktwirtschaft und Demokratie eine Läh-
mung für jede Eigeninitiative bedeuten muss«.
Eine durchgängig traditionelle Gesellschaft ist
die senegalesische lange nicht mehr. Sie ist komplex,
althergebrachte, religiöse und westliche Wertesys-
teme kollidieren und verstärken einander. Prozesse
der Individualisierung nehmen ihren Lauf. Und
letztlich ist der Gang zum Hexer oft nur ein Versuch
von vielen, irgendwie zurechtzukommen.
Nabou Sows Mann hat die Cousine bereits in
einer religiösen Zeremonie geheiratet. Der Zaube-
rei zum Trotz. »Aber hätte ich nichts unternommen,
hätte ich mir Vorwürfe gemacht«, sagt Sow. »Wenn
er trotz der Zauberei nicht zurückkommt, dann,
weil es Allahs Wille ist.«

* Name geändert

SENEGAL

GAMBIA

MALI

Dakar

Atlantik M AUR ETANIEN

GUINEABISSAU GUINEA
ZEIT-GRAFIK
100 km

Senegal


Die Recherche zu diesem Text
fand vor Ausbruch der Corona-
Pandemie statt. Im Senegal zählt
man offiziell, Stand 6. April,
226 Infizierte und zwei Tote.
Der einheimischen Presse
zufolge verfügt das Land über
zehn Beatmungsgeräte

Foto: Christian Bobst

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10 POLITIK 8. APRIL 2020 DIE ZEIT No 16


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