STREIT
»Eine Demokratie, in der nicht gestritten wird, ist keine.« HELMUT SCHMIDT
12 8. APRIL 2020 DIE ZEIT No 16
Ich glaube, ich bete nicht. Nicht
zu Gott! Aber ich bitte und hoffe,
und oft höre ich mich im Kopf
beten und weiß nur nicht die
richtige Adresse zum Abschicken.
Vielleicht hört es ja trotzdem
jemand oder etwas, oder es fliegt
ins Universum und verpufft und
kommt als Regen wieder runter!
Lina Beckmann, 38, ist
Ensemblemitglied am Deutschen
Schauspielhaus in Hamburg
Hilft
beten?
Ich empfinde es als Glück, im
täglichen Gebet aus dem unab-
lässigen Reden, Mailen und Tele-
fonieren auszubrechen. Momen-
tan schalten wir uns jeden Sonn-
tag um 18 Uhr per FaceTime im
Kreise der Großfamilie und
Freunde zusammen und sprechen
gemeinsam ein Gebet, jeder
in seiner Wohnung einen Textteil
übernehmend und doch eine
Gemeinschaft bildend.
Rainer Haseloff, 66, ist CDU-
Regierungschef von Sachsen-Anhalt
Neulich, als viele die Corona-
Gefahr noch nicht sahen, sagte
ich im Fernsehen: Ich bete für
schlechtes Wetter. Als es dann
regnete, hieß es: Sie haben ja
einen guten Draht! Nein, Gott
antwortet nicht auf Anweisung.
Es gibt nur die gemeinsame
Kraft, die im Gebet entsteht.
Und manchmal erlebt man
plötzlich ein Wunder.
Bodo Ramelow, 64, ist Thüringer
Ministerpräsident (Die Linke)
und gläubiger Protestant
2019 bin ich aus
der Kirche
ausgetreten, bete
aber manchmal
trotzdem aus
Dankbarkeit oder
weil es mir
Hoffnung gibt.
Denn ich sehe
beruf lich jeden
Ta g : G e s u n d h e i t
ist nicht
selbstverständlich
und oft auch nicht
beeinf lussbar.
Christoph Hartl, 24,
Krankenpfleger an der Charité Berlin
Ich bete oft
vor dem Essen und
immer vor dem
Einschlafen.
Das gilt in
guten wie in
schlechten
Zeiten.
Da niel Günther, 46, ist CDU-Minister-
präsident von Schleswig-Holstein
Ich bin
dankbar, dass
ich beten kann.
Das ist ein
Gesprächsfaden
im Leben.
Und ich bin
zutiefst
überzeugt, dass
Gebete die
Welt zum
Guten hin
prägen können.
Margot Käßmann, 61,
ist evangelische Theologin
So fromm wie wahrhaft Gottgläubige
bin ich Gottloser allemal. Ich sang,
Pardon, will sagen: Als der Wolf heulte
ich gelegentlich, und das passierte
natürlich auf Einladung des Hirten,
seinen Schäfchen im Kirchenstall zur
Gitarre dieses Biermann-Lied:
Und meine ungläubigen Lippen
Beten voller Inbrunst
Zu Mensch, dem Gott
All meiner Gläubigkeit
Wolf Biermann, 83,
ist Liedermacher und Lyriker
Beten bedeutet, in einen Dialog
mit Gott zu treten. Oder einen
Monolog zu halten. Beten hilft
dem Gläubigen. Es spendet Trost,
gibt Kraft, bringt innere Ruhe und
verleiht einem Flügel. Ich bete
nicht. Mein Glaubenssatz lautet:
Tue Gutes, hilf anderen.
Louis Lewitan, 64,
ist Psychologe und Stress-Experte
Mein Kindergott, zu dem
ich gerne und oft gebetet habe,
ist leider längst aus meinem
Leben verschwunden.
Die Gebete sind geblieben!
Im Moment bete ich die
drei großen V an: Virologen,
Vernunft, Verantwortung.
Iris Berben, 69, ist Schauspielerin
Ich bete, bevor ich eine Leichenschau
mache. Das Fenster ist offen,
damit die Seele abreisen kann.
Dieser Moment erfüllt mich
mit Demut, so einen engen
Berührungspunkt mit dem Kreislauf
des Lebens zu haben. Meist bete
ich dann ein Vaterunser.
Dr. Johanna H., 29, ist Ärztin auf einer Intensivstation in Hamburg
Beten kann einem religiösen
Menschen in schlimmen Krisen
sicher helfen. Aber Gott zahlt
keine Miete, auch keinen Bank-
kredit, der trotz fehlender Ein-
nahmen weiterläuft. Das kann
nur die Regierung, die noch
schneller und unbürokratischer
all jenen helfen müsste, denen
gerade die Existenzgrundlage
wegbricht.
Sahra Wagenknecht, 50, ist
Bundestagsabgeordnete der Linken
Ich bete, seit ich klein bin. Meine
Eltern haben mich damit vertraut
gemacht. Wenn ich heute zu Gott
spreche, wenn mich etwas belastet, in
der Familie, bei Freunden, bitte ich
um Rat oder Hilfe. Oder ich danke
für Schönes. Ich habe da großes Ver-
trauen. Beten hilft. Es gibt mir Kraft.
Michael Behrendt, 68, ist Aufsichtsrats-
chef der Reederei Hapag-Lloyd
Ich bete,
seitdem ich
neun Jahre alt
bin, weil es der
Koran so
vorgibt. Es gibt
mir innere
Ruhe. Ich bete,
wenn ich
aufstehe, wenn
ich Bus fahre
und wenn ich
schlafen gehe.
Hale Kapar, 38,
Busfahrerin
aus Neutraubling
Eigentlich bin ich mehr mit Gott im
Gespräch, als dass ich bete.
Das hilft mir in allen Lebenslagen,
auch in den schweren, in denen ich
oft an Gott gezweifelt habe.
Christa Schmid, 62, Fleischfachverkäuferin aus Ebnat
Die Antworten sammelten: Jochen Bittner, Evelyn Finger, Verena Hasel, Martin Machowecz, Tobias Maydl, Charlotte Parnack, Sarah Schaschek, Stefan Schirmer
Sechs ZEIT-Kreative und
ihre Version der »Betenden
Hände« von Albrecht Dürer:
(v. l. n. r.) Golden Cosmos,
Joni Meier, Philoteus Nisch,
Cynthia Kittler, Sören Kunz
und Nadine Redlich
Oder ist das sinnlos
in größter Not?
Hier antworten Christen,
Juden, Muslime und
Atheisten