2020-04-08 Die Zeit

(Barré) #1

  1. APRIL 2020 DIE ZEIT No 16 STREIT^13


Ulrich Schnabel, Redakteur im Wissensressort der ZEIT, schreibt über diese und
andere religiöse Fragen in seinem Buch »Die Vermessung des Glaubens« (Blessing Verlag)

Seit zwei Jahrhunderten versuchen Forscher zu klären, was Gebete
bewirken. Ihre Ergebnisse sind erhellend – gefallen aber nicht allen
VON ULRICH SCHNABEL

W


ird die Not am größten,
kommt die Zeit des Stoß-
seufzers: »Jetzt hilft nur
noch beten!« Aber hilft das
wirklich? Oder liegt darin
nur das Eingeständnis, dass
uns die Welt entgleitet,
dass wir angesichts all der Probleme – Corona-Pande-
mie, Syrien-Krieg, Flüchtlingsdramen – nicht mehr
weiterwissen? Subjektiv kann man das sehr unter-
schiedlich beantworten – da schlägt die Stunde der
Wissenschaft. Tatsächlich haben sich immer wieder
Forscher an der Gebetsfrage versucht. Ihre Ergebnisse
stießen zwar nicht überall auf Begeisterung; doch
erhellend sind sie allemal.
Den ersten Anlauf machte im 19. Jahrhundert der
britische Naturforscher Francis Galton, ein Halb-
cousin Charles Darwins. Mithilfe der Statistik wollte
er etwa klären: Profitiert der britische König von den
öffentlichen Gebeten für sein Wohl? Dazu analysierte
er die Lebensdaten aller männlichen Mitglieder des
Königshauses von 1758 bis 1843 und kam zum Er-
gebnis: Die Royals lebten nicht länger, sondern kürzer
als Normalsterbliche. Als Nächstes stellte Galton fest,
dass Kirchen genauso oft von Feuer, Blitz, Erdbeben
oder Lawinen zerstört wurden wie normale Gebäude.
Und schließlich verglich der rastlose Forscher die
Lebensläufe führender Kirchenvertreter wie Martin
Luther mit jenen anderer wichtiger Persönlichkeiten
ihrer Zeit. Resultat: Die frommen Vorbilder lebten
eher kürzer als andere Prominente und litten häufig
unter miserabler Gesundheit. Sie würden geradezu
vom »Dunst des Invalidentums« umweht, schrieb
Galton – für ihn ein Hinweis, dass Gebete nicht die
erhoffte Wirkung hätten.
Dass solch gottlose Gedanken bei Galtons Zeit-
genossen auf Ablehnung stießen, ist kein Wunder.
Sein Essay über die »statistischen Untersuchungen
der Effizienz von Gebeten« rief 1872 öffentliche
Entrüstung hervor – und zugleich wissenschaftliche
Kritik: Die Auswahl seiner Probanden sei einseitig,
die Resultate seien wenig überzeugend.
Doch egal, was man von diesen frühen Versu-
chen halten mag: Galton wurde damit zum Pionier
einer Glaubensforschung, die in der Folge zum Teil
wundersame Blüten trieb. Bis heute versuchen Psy-
chologen, Mediziner oder Hirnforscher, mithilfe der
Empirie die Wirkung von Gebeten und religiösem
Glauben dingfest zu machen.
Leider liefern die diversen Studien sehr unterschied-
liche Resultate. Mal scheinen sie einen positiven Ein-
fluss zu beweisen – etwa von Fürbittegebeten für
Schwerkranke –, mal kommen sie zum gegenteiligen
Ergebnis. Manchen Patienten geht es sogar schlechter,
wenn für sie gebetet wird – eine kuriose Wirkung, die
Forscher unter anderem darauf zurückführen, dass die
Kranken besorgt denken: »Bin ich so krank, dass sie
schon für mich beten müssen?«
Doch so oder so beweist das nur, dass Gebete
(beziehungsweise die Information darüber) durch-
aus eine Wirkung auf die seelische Verfassung ha-
ben. Sie stellen zumindest einen psychologischen
Faktor dar, der im Krankheits- und Heilungsprozess
eine wichtige Rolle spielen kann.
Beispielhaft belegte das vor einigen Jahren eine
Studie des Religionspsychologen Se bas tian Murken,
der heute in Marburg lehrt. Er untersuchte in einer
onkologischen Rehabilitationsklinik die Rolle der Re-
ligiosität bei der Bewältigung von Brustkrebs, unter-
schied dabei aber nicht pauschal nach »gläubig« oder
»ungläubig«, sondern differenzierte nach der Art des
Glaubens und dem Gottesbild der Patientinnen. Dabei
zeigte sich: Eine religiöse Einstellung kann zwar
helfen – aber nur unter bestimmten Bedingungen.
Eine Stütze im Glauben fanden Murkens Studie
zufolge vor allem hochreligiöse Patientinnen mit
positivem Gottesbild. In der Annahme »Was der Herr
tut, ist wohlgetan« konnten sie ihrer Krankheit einen
Sinn abgewinnen und konstruktiv mit ihr umgehen.
Wer dagegen das Bild eines strafenden Gottes im
Herzen trug, litt verstärkt unter Angst- und Depres-
sionszuständen; diese Patientinnen setzten sich eher
mit religiös begründeten Vorwürfen zusätzlich unter
Druck. Und die unentschiedenen Vertreterinnen einer
»mittleren Alltagsreligiosität« waren vor allem von
Zweifeln geplagt. Der Glaube kann also, je nach Ein-
stellung, unterschiedliche Wirkungen haben – eine
Erkenntnis, die Murken so zusammenfasst: »Eine
Religion hilft vor allem denen, die stark daran glauben,
dass sie ihnen hilft.«

Wie aber kann etwas Unsichtbares und so schwer
Fassbares wie der Glaube eine messbare Wirkung ha-
ben? Auch dafür bietet die Wissenschaft mittlerweile
eine Erklärung an: Durch die Konzentration auf posi-
tive Bilder und Vorstellungen (ob sie nun »Gott«,
»Allah« oder »Buddha« genannt werden) richten sich
Gläubige innerlich auf eine zu erwartende positive
Wirkung aus – und befördern sie genau dadurch.
Dieses Prinzip beschreiben Mediziner auch als »Heil-
kraft der Erwartung« oder als »Placeboeffekt«. Doch
anders als es das Vorurteil vom wirkungslosen Placebo
suggeriert, können dabei erstaunliche Wirkungen in
Gang kommen.
Allein die entsprechende Erwartungshaltung kann
ein Scheinpräparat in ein potentes Medikament ver-
wandeln. Es genügt, dass harmlose Zuckerpillen oder
eine simple Kochsalzlösung Kranken als wirkungs-
mächtiges Medikament angepriesen werden – schon
werden nachweislich Schmerzen und andere Krank-
heitssymptome gelindert. Seriösen Stu dien zufolge
lassen sich mit Placebomitteln sogar bis zu 50 Prozent
der Wirkung eines echten Medikaments erzielen – wes-
halb heute selbst die Bundesärztekammer den Einsatz
von Placebos empfiehlt.
Was dabei im Körper passiert, beschreibt der Place-
boforscher Manfred Schedlowski so: »Eine starke Er-
wartungshaltung verändert die Gehirnchemie, Boten-
stoffe werden ausgeschüttet, und diese Veränderungen
werden über das Nervensystem an den Körper weiter-
geleitet, wo sie häufig genau die gewünschten Wirkun-
gen in Gang setzen.« Es handelt sich also um eine Art
neuronaler Selffulfilling Prophecy, bei der man sich
unbewusst innerlich in einen Zustand bringt, der dafür
sorgt, dass das imaginierte Ergebnis tatsächlich eintritt.
Damit legt die Placeboforschung nahe, dass es (in
der Medizin wie in der Religion) nicht so sehr auf das
Objekt der Erwartung ankommt, sondern vielmehr
auf den Akt des Glaubens. Denn dieser ist es, der die
Erwartungshaltung erzeugt und damit entsprechende
(Selbst-)Heilungskräfte aktiviert. Für diese Interpreta-
tion finden sich sogar in der Bibel Hinweise. Wann
immer Jesus Kranke heilt, etwa die »blutflüssige Frau«
(Lukas 8,48) oder den Blinden (Lukas 18,42), sagt er
dem Evangelium zufolge: »Dein Glaube hat dir ge-
holfen« (und nicht etwa, wie man annehmen könnte,
»Gott hat dir geholfen«). Und immer wieder wettert er
gegen die »Kleingläubigen«, die nur deshalb scheiterten,
weil ihnen das rechte Vertrauen fehle.
Wie Theologen (und Mediziner) wissen, lässt sich
die Wirkung der Erwartung übrigens durch entspre-
chende Rahmenbedingungen verstärken: Besonders
hilfreich ist eine überzeugend auftretende Autoritäts-
oder Vertrauensperson (Priester oder Arzt), die das ent-
sprechende Heilmittel empfiehlt. Wichtig ist auch die
klassische Konditionierung, also die regelmäßige
Wiederholung der als positiv empfundenen Handlung
(Gebet oder Medikamenteneinnahme), und nicht zu-
letzt hilft es, wenn der Patient (oder der Gläubige) das
Gefühl hat, in ein bedeutungsvolles Ritual eingebunden
zu sein, das auch sein Umfeld einschließt und das dem
eigenen Leben Sinn verleiht.
Ist damit die Religion nun gnadenlos entzaubert?
Mitnichten. Denn weder lassen sich Placeboeffekte
noch religiöse Wirkungen eindeutig vorhersagen. Mal
tritt die Heilkraft der Erwartung ein – mal eben nicht.
Für diese Unwägbarkeit hat der christliche Sprach-
gebrauch den schönen Begriff der Gnade. Diese kann
den Gläubigen zuteilwerden; doch fest damit rechnen
sollte keiner. Man kann nur versuchen, die best mög-
lichen Bedingungen dafür zu schaffen und den in-
neren Resonanzraum zu öffnen, um die erhofften
Wirkungen wahrscheinlicher zu machen. Zugleich
aber gilt es, sich innerlich von der Vorstellung zu lösen,
alles kontrollieren zu können. Allwissenheit jedenfalls,
das sagen uns sämtliche Religionen, ist dem Menschen
nicht vergönnt.
Das wusste übrigens auch schon Francis Galton,
der die moderne Glaubensforschung in Gang setzte.
Anders als seine kritischen Studien vermuten lassen,
stand er dem Beten keineswegs ablehnend gegen-
über. Im Gegenteil, er war überzeugt, dass Gebete
»Gelassenheit während der Prüfungen des Lebens
und im Schatten des herannahenden Todes« geben.
Galton machte es sich sogar zur Gewohnheit, jedes
Mal, bevor er eine wissenschaftliche Abhandlung
schrieb, ein Gebet zu sprechen. Dass er dennoch so
religionskritische Schriften verfasste, hätte für seine
Kritiker allerdings der schlagende Beweis dafür sein
können: Gebete garantieren nicht, dass das Ergebnis
allen gefällt.

Meiner Oma


war es kurz vor


ihrem Tod


wichtig, ein


letztes Mal mit


dem Pfarrer zu


beten. Ich bete


auch viel im


Moment, für


die Betroffenen


und dafür, dass


wir diese Krise


überstehen.


Stefanie Hertel, 40, ist
Volksmusikerin (»So a Stückerl
hei le Welt«)

In schwierigen Zeiten,
wie auch jetzt mit Covid-19,
können Gebete einem innerliche
Ruhe, Kraft und Hoffnung
schenken. Ich richte das Gebet
direkt an Gott und spüre eine
Verbindung zu ihm, die mir Mut
macht und Zuversicht gibt.
Dennoch weiß ich, dass Gebete
allein nicht reichen, um
betroffenen Menschen zu helfen.
Seyran Ateş, 56, ist Anwältin
und Frauenrechtlerin

Vergangene Woche wurde in den
Nachrichten der betende Papst
gezeigt, und ich fragte mich: Kann
man beten, wenn die ganze Welt
zuschaut? Ich glaube, der Papst
kann es – aber zugleich hatte ich
das Gefühl, seine Intimsphäre zu
verletzen, indem ich ihn dabei
beobachtete. Der Papst wirkte wie ein
sizilianischer Bauer, der noch nie ein
Buch in der Hand gehabt hat, und
wahrscheinlich waren all die Bücher,
die er in seinem Leben gelesen hat,
im Augenblick des Gebets tatsächlich
aus seinem Kopf verschwunden.
Cees Nooteboom, 86, ist Schriftsteller

Mir spendet das Beten vor allem
während der Messe und insbesondere
nach der Kommunion Kraft
für Selbstreflexion und Zuversicht.
Im Gebet geht es mir aber nicht in
erster Linie um mich, sondern vor al-
lem um Sorgen und Probleme anderer.
Philipp Amthor, 27, ist CDU-Bundes-
tagsabgeordneter und seit
einem Jahr katholisch getauft

Das Gebet ist immer auch ein


Gespräch in sich hinein.


Und wenn wir diesen Kanal jetzt


nicht öffnen – wann dann?


Marina Weisband, 32,
wurde bekannt als Geschäftsführerin der Piratenpartei.
Sie stammt aus einer jüdischen Familie aus Kiew

Wenn beten bedeutet, einen Gott
anzurufen, an den ich nicht
glaube, und ihn um Gefallen zu
bitten, die ich kaum verdiene –
wem hilft das? Aber wenn es heißt,
einen Platz in meinem Geist zu
finden, an dem ich mich davon
überzeugen kann, dass alles gut wird,
was da auch komme – dann kann
ich mir nichts Wertvolleres vor stellen
in diesen ängstlichen Stunden.
Bret Stephens, 46, Kolumnist der
»New York Times«, wohnt in Manhattan

Als post-protestantischer Atheist ist
meine Antwort ein klares Ja – jeden-
falls, wenn man beten als meditative
Konzentration auf die Nöte anderer
und die Selbstverbesserung versteht.
Ich bin allerdings auch ein großer
Anhänger dessen, was Hegel das
»realis tische« Morgengebet nennt – die
Lektüre von Zeitungen, um zu sehen,
was die Medizin, der Erfindungsgeist
und die Solidarität leisten können, um
uns aus diesem Schlamassel heraus-
zuhelfen. Es braucht beides.

Timothy Garton Ash, 64, ist ein
britischer Historiker und Schriftsteller

Das Abendgebet war Teil meiner
Kindheit. Jetzt bete ich außerhalb der
Kirche selten und nur in den wirklich
außergewöhnlichen Momenten. Beten
hilft, den betrübten Sinn zu klären
und Wesentliches von Unwesent-
lichem zu scheiden. Es gibt mir Ruhe,
Kraft und Zuversicht in schwieriger
Zeit; und anderen, die in das Gebet
eingeschlossen sind, ebenfalls.
Das ist meine Hoffnung!
Berthold Huber, 56, ist Vorstand
Personenverkehr der Deutschen Bahn

Ich denke, beten hilft. Ob das
Gebet aber tatsächlich ein fremdes
Bewusstsein, ein göttliches Du,
erreicht oder eher dem eigenen
Bewusstsein aufhilft und Zu-
versicht einflößt, das lasse ich
dahingestellt. Vielleicht kommt
es darauf ja auch gar nicht an.
Sabine Rückert, 59, stellvertretende
Chefredakteurin der ZEIT,
verantwortet den Bibel-Podcast
»Unter Pfarrerstöchtern«

Im Gebet tritt man vor Gott. Und da
er nicht antwortet, versucht man das,
was einem wichtig ist, durch seine
Augen zu sehen und seine Antworten
zu erspüren. Das hilft immer.

Bernd Lucke, 57, gründete die Af D mit
und trat 2015 aus. Er ist Mitglied der
Evangelisch-Reformierten Kirche und
gestaltete jahrelang Kindergottesdienste

Unser Kind


redet ab und zu


mit Gott, das hat


ihm sein Vater


so beigebracht.


Wen n e s


mir davon erzählt,


höre ich genau zu


und hoffe, dass es


das auch noch tun


wird, wenn es


eines Tages kein


Kind mehr ist.


Jana Hensel, 43,
ist ZEIT-Autorin und Mutter
eines zwölfjährigen Sohnes

Jein


und Amen


TITELTHEMA:


WAS JETZT


HOFFNUNG GIBT


Natürlich hilft


beten! Wie soll der


liebe Gott einen


denn sonst hören?


Helene Mayer, 6,
ist Erstklässlerin aus Hamburg
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