2020-04-08 Die Zeit

(Barré) #1

auch »Wendepunkt«, eine Einrichtung für
Gewaltprävention mit Hauptsitz in Elms-
horn in Schleswig-Holstein.
In der Hamburger Schillerstraße gibt es
eine Außenstelle von Wendepunkt. Hier geht
es allerdings nicht um Opfer, sondern um
Täter, oder, wie Bernd Priebe sagt: »um
Klienten«.
Der Sexualpädagoge Bernd Priebe macht
eine Arbeit, die selten im Fokus steht: Er
kümmert sich mit seinem Team um Männer,
die sexuell übergriffig geworden sind, er berät
und therapiert, das Ganze nennt sich »ambu-
lante Rückfallprophylaxe«.
140 Klienten haben er und seine Kollegen
im vergangenen Jahr betreut, zehnjährige
Jungs waren genauso dabei wie 80-jährige
Männer. Manche waren lediglich sexuell auf-
fällig, andere sind verurteilte Vergewaltiger.
Priebe ist ein großer Mann, 58 Jahre alt,
die ergrauten Haare hat er zu einem Pfer-
deschwanz gebunden. Was er tut, be-
schreibt er mit tiefer, beruhigender Stimme
als »sehr, sehr viel Beziehungsarbeit«. Es
geht darum, dass sich die Männer dem stel-
len, was da in ihnen steckt, und darum,
herauszufinden, wie sie sich selbst im
Zaum halten können.
Schon nach wenigen Tagen der Kontakt-
sperre gab es in Deutschland erste Kritik. Es
ging um Unternehmen, denen die Pleite
droht, um Arbeitsplätze, die verloren gehen,
um wirtschaftliche Schäden. Es klang ein
wenig so, als werde das Geld der einen gegen
die Gesundheit der anderen aufgewogen. Die
Arbeit von Bernd Priebe aber lässt erahnen,
dass die Maßnahmen gegen das Virus nicht
nur Geld kosten.
Wenn es gut läuft, dann helfen die Thera-
piegespräche, die Bernd Priebe mit seinen
Klienten führt, Sexualstraftaten zu verhin-
dern. Normalerweise aber finden diese Ge-
spräche von Angesicht zu Angesicht statt.
Jetzt muss sich auch Priebe umstellen: auf
Therapie am Telefon. Eine Herausforderung.
Bei Klienten, mit denen er schon länger ver-
traut ist, sagt Priebe, funktioniere das einiger-
maßen, aber bald wird er auch mit Tätern
telefonieren müssen, die er noch überhaupt
nicht kennt.
So kommt es, dass die Kontaktsperre
gleichzeitig Menschen schützt und Menschen
gefährdet. Wie will man das ge gen ein an der
abwägen?


Der Altbau, 1. Stock

Der Thermomix habe ihnen in den letzten
Wochen gute Dienste erwiesen, sagt Mat-
thias Mehls und schaut lächelnd auf das All-
zweck-Küchengerät auf seiner Anrichte. Das
Essen lasse sich für die ganze Woche planen
und einfach zubereiten – bequem, vor allem
wenn man sich noch um ein kleines Kind
kümmern muss. Küchentechnologie für die
Zeit der Isolation.
Mehls, 32, lebt gemeinsam mit seiner
Frau Justyna und dem acht Monate alten
Sohn in einer 60-Quadratmeter-Wohnung.
Justyna Mehls ist 31 und arbeitet bei einem
Internetportal für Pflegedienste. Das Paar
war sich der Pandemie früh bewusst, einen
Besuch bei Freunden in Stockholm sagte es
ab, lange bevor die Kontaktsperre galt. Le-
diglich die Taufe des kleinen Karl haben
die beiden noch durchgezogen. Aber auch
die blieb nicht von Corona unberührt. Die
Eltern von Freunden, die sie eingeladen
hatten, waren in Israel in Urlaub. Hinter-
her bekamen sie eine Mail des Reiseunter-
nehmens, dass der Busfahrer positiv auf das
Coronavirus getestet worden sei. Und weil
die Freunde in der Zwischenzeit Kontakt
zu ihren Eltern gehabt hatten, luden Mat-
thias und Justyna Mehls sie von der Taufe
wieder aus. Für sie eine Frage der Verant-
wortung.
»Ja, die haben eher sparsam aus der Wä-
sche geguckt«, sagt Mehls, während er an
einem Holztisch in seinem Wohnzimmer
sitzt. Der Holztisch ist seit zweieinhalb Wo-
chen gleichzeitig sein Arbeitsplatz. Vor ihm
der Laptop. Hinter ihm an der Wand ein
großes Bild, das eine Straße in Paris zeigt,
Heißluftballons am Himmel. »Beim Video-
call habe ich auf jeden Fall den besten Hin-
tergrund«, sagt er.
Matthias Mehls arbeitet im Vertrieb bei
Xing, einem sozialen Netzwerk für beruf-
liche Kontakte. Es ist ein modernes Unter-
nehmen, in dem Homeoffice schon vor
Corona keine Seltenheit war. Mehls aber
ging immer gerne ins Büro, machte gerne
Kaffeepause, quatschte gerne mit den Kol-
legen.
Und so war er ein bisschen skeptisch, als
seine Firma ihn zwangsweise nach Hause
schickte, nachdem sich Anfang März ein
Kollege mit Covid-19 infiziert hatte.
Inzwischen gefällt es ihm ziemlich gut
im Homeoffice.
Mit der Arbeit selbst läuft eigentlich al-
les wie immer. Viele Telefonate, viele Mee-
tings, jetzt eben per Video. Spricht Mat-
thias Mehls mit Kunden, scheinen die kein
Problem zu haben, wenn im Hintergrund
mal das Kind schreit oder seine Frau durchs
Bild läuft.
Im Nebenzimmer rumpelt es. Das sind
Frau und Kind. Eigentlich ist Mittags-
schlafzeit, aber Karl ist offenbar nicht
müde. Also setzt sich Justyna Mehls zu ih-


rem Mann ins Wohnzimmer und lässt ihren
Sohn über den Boden krabbeln.
Inzwischen kann Mehls sich gar nicht
mehr vorstellen, aus dem Homeoffice zu-
rück ins Büro zu gehen. Vor allem wegen
Karl. »Wenn ich von der Arbeit nach Hause
komme, habe ich normalerweise nur noch
eine Stunde mit ihm, manchmal auch nur
eine halbe.« Jetzt sehe er seinen Sohn den
ganzen Tag, sagt er und schaut zu, wie Karl
über den Holzboden robbt. Zwischendurch
könne er mit ihm sogar mal rausgehen.
Und deshalb ist Matthias Mehls fast so
etwas wie ein Krisengewinnler. Sein Leben
gefällt ihm nun noch besser als früher.

Die Kirche

Am Zaun der Kirche hängt jetzt ein großer
Plastikumschlag, darin Briefe. Ein Schild er-
klärt: »Hoffnung hamstern in St. Petri Alto-
na. Nehmen Sie einen Umschlag und lassen
Sie sich überraschen: Ein Gedicht, ein Gebet,
ein Psalm, eine Geschichte. Worte, die uns
stärken und Hoffnung geben.« Zum Beispiel
diese, Psalm 139.5: »Von allen Seiten um-
gibst du mich und hältst deine schützende
Hand über mir.«

Das Studentenwohnheim

Es ist 5.30 Uhr am Morgen, als Maxi Mar-
quardt das Studentenwohnheim am Ende
der Schillerstraße verlässt. Alle Fenster sind
dunkel, die Stadt schläft noch. Marquardt
läuft in Jeans, Hoodie und schwarzer Jacke
die Straße entlang, dann steigt sie in den Bus,
Linie 20, Richtung Norden.
Marquardt setzt sich ganz nach hinten in
die letzte Reihe. Außer ihr sind nur zwei
Personen im Bus. Der vordere Teil des
Busses ist mit rot-weißem Band abge-
riegelt, der Fahrer soll mit niemandem in
Kontakt kommen, Tickets werden nicht
kontrolliert.
Im Studentenwohnheim hat Marquardt
ein Zimmer im fünften Stock, 21 Quadrat-
meter, an der Wand eine große Weltkarte
mit vielen roten Fähnchen drin, Maxis Rei-
seziele. Im Schrank stehen Lernatlanten der
Anatomie mit Untertiteln wie Innere Orga-
ne, Allgemeine Anatomie und Bewegungssys-
tem, Kopf, Hals und Neuroanatomie.
Maxi Marquardt, 22, studiert Medizin,
sie ist im sechsten Semester, nur dass sie im
Moment nicht studiert, sondern arbeitet.
Gerade ist sie auf dem Weg zur Frühschicht
am Universitätsklinikum Hamburg-Eppen-
dorf (UKE), wegen Corona.
Zwei Wochen ist es her, dass sie eine
E-Mail bekam. Sie stand auf einer Warte-
liste für einen Job in der Klinik, die so-
genannte Sitzwache auf der Intensivstation,
gut bezahlt, 18 Euro pro Stunde, und
deshalb beliebt bei Studenten. Als Sitz-
wache unterstützt man das Klinikpersonal,
wäscht Patienten, legt Zugänge für Infusio-
nen. Normalerweise dauere es drei Jahre,
bis man so einen Job bekomme, sagt
Marquardt.
Aber jetzt wird jeder gebraucht.
Zurzeit ist Marquardt zwei-, dreimal die
Woche im UKE, »vielleicht bald jeden
Tag«. Keiner weiß, wann es so weit sein
wird, im Moment wird sie noch einge-
arbeitet.
Marquardt sagt, auch sie habe Corona
am Anfang unterschätzt. Dann ging es
plötzlich ganz schnell, alles wurde abgesagt,
geplante Partys, das Hockeytraining – Mar-
quardt spielt in der ersten Bundesliga.
Freunde, die gerade im UKE im Praktikum
waren, mussten in Quarantäne, weil sie
Kontakt hatten zu Covid-19-Patienten, die
noch nicht isoliert waren, auch Marquardt
war dadurch schon Kontaktperson. Erst als
ihre Freunde negativ getestet wurden,
konnte auch sie wieder raus.
Im UKE liegen derzeit auf drei Inten-
sivstationen knapp 30 Patienten mit Co-
vid-19. Es könnten noch viel mehr werden.
»Es ist ein Warten auf den Sturm«, sagt
Marquardt.
Am UKE steigt sie aus. Spürt sie Aufre-
gung? Adrenalin? »Nee, gerade werde ich
wieder ein bisschen müde.«
Einige Meter vor dem Eingang der Kli-
nik ist ein großes weißes Zelt aufgebaut,
bewacht von zwei Security-Männern. Es
gibt zwei Eingänge, rechts für Patienten,
links für Angestellte. Marquardt nimmt
den linken Eingang und geht durch die
Schleuse. Dahinter leuchtet der gläserne
Eingangsbereich des UKE in die Dunkelheit
hinein.

Die Kindertagesstätte

Anna-Lena Hartmann, 35, steht in einem
Raum, in dem es viel zu leise ist, viel zu aufge-
räumt, viel zu sauber. Sie leitet die Krippe »Mi-
nikratzbürsten« in der Schillerstraße, normaler-
weise toben und essen und schlafen hier täglich
35 Kinder zwischen null und drei Jahren, es gibt
drei Gruppen, die Pusteblumen, die Sonnen-
blumen, die Gänseblümchen.
Auf einem Zettel sind Weckzeiten notiert,
Luca wird um 14/14.15 Uhr geweckt, Juli um
14.30 Uhr, Arvid »max 15«. Jetzt aber sind die
Schlum mer ecken leer, stehen die kleinen Holz-
stühle ordentlich aufgereiht am Tisch, es ist kalt,
Hartmann hat die Heizung runtergedreht, um

Energie zu sparen, alles ist geputzt und desinfi-
ziert worden. »Es fühlt sich surreal an«, sagt
Hartmann, »wie stillgelegt.«
Auf einem Regal: eine Flasche und zwei
Trinkbecher, Schlafzeug und ein Teddybär,
drei Schnuller. Die wichtigsten Utensilien
von zwei Jungen und einem Mädchen,
griffbereit, falls sie demnächst in die Not-
betreuungsgruppe kommen. Die ist ein
paar Hundert Meter weiter, in der Alten
Königstraße, wo sonst die älteren Kratz-
bürsten hingehen, die drei- bis sechsjähri-
gen Kinder.
Es sind nicht viele Kinder, die in die Not-
betreuung kommen, manchmal ist es nur ein
Kind, manchmal kommen fünf. Apotheker-
kinder, Polizistenkinder, Arztkinder.

Die Eltern aus der Notgruppe gäben ihre
Kinder meist voller Dankbarkeit ab, sagt
Hartmann, manchmal auch mit rechtferti-
genden Erklärungen, weil sie ja wissen, dass
nur ihretwegen die Erzieher weiterarbeiten
müssten. Entschuldigungen zwischen Berufs-
gruppen, die jetzt systemrelevant sind.
Hartmann hat Kollegen, die sagen: Teil mich
ein für die Notfallgruppe, ich dreh zu Hause
durch. Andere hätten Angst, denn Arbeit mit
Babys und Kleinkindern bedeutet, dass Abstand-
halten unmöglich ist, und die Kinder in der Not-
betreuung sind Kinder von Eltern, die berufs-
bedingt nicht zu Hause bleiben können. Die sich
also tendenziell eher infizieren als andere.
Kürzlich wurde der Vater eines Kindes
krank, ein Arzt. Das Kind blieb zu Hause, der

Vater wurde getestet, dann folgte das Ergeb-
nis: negativ.
Näher kam das Virus bisher noch nicht.

Die Kirche

In der Schillerstraße läuft wieder Frau
Schmidt, die 91-Jährige, mit ihrem Rollator
am Pastorat vorbei Richtung Wochenmarkt.
Ja, sagt sie, sie gehe weiter raus, sie halte Ab-
stand, aber raus müsse sie einfach. »Sonst
werde ich verrückt.«
Frau Schmidt heißt mit Vornamen Ingeburg,
das wird sie später am Telefon erzählen, nein,
nicht borg, sondern burg, das hat damals ihr
Vater bestimmt. Geboren wurde sie 1928, sie
saß mit ihrer Mutter im Luftschutzkeller, als die
Alliierten Hamburg bombardierten, später
hatte sie drei Ehemänner, der erste verließ sie,
beim zweiten war sie es, die ging, den dritten
lernte sie beim Tanzen kennen, getanzt hat sie
gerne, Turniertänzerin war sie früher, mit dem
dritten Mann jedenfalls lebte sie dann zusam-
men bis zu dessen Tod, 39 Jahre lang, ohne ein
Mal zu streiten, wie sie sagt.
Die letzte Zeit hat sie ihn zu Hause ge-
pflegt, sieben Jahre ist das her. Es gibt im Le-
ben Sachen, da muss man durch, und Inge-
burg Schmidt sagt genau das auch über die
Corona-Krise: »Da müssen wir jetzt durch.«
Sie komme klar, nur dass sie ihre beiden
Jungs nicht mehr treffen könne, das mache
ihr zu schaffen. Ein Nachbar im Haus ist ein
guter Freund, er kommt normalerweise fast
jeden Tag runter zu ihr, er im Sessel, sie auf
der Couch, und dann plaudern sie. Der
Nachbar und sein Mann haben mit ihr sogar
Silvester gefeiert. »Meine Jungs«, sagt Inge-
burg Schmidt, »wenn ich die nicht hätte,
wär’s einsam für mich im Haus.«
Jetzt leisten Ingeburg Schmidt immerhin
zwei andere Männer Gesellschaft, die sie auch
sehr mag und die sie weiterhin ganz ohne Ge-
fahr im Wohnzimmer empfangen kann, im-
mer nachmittags, von 16.10 Uhr bis 17 Uhr:
Die Rosenheim-Cops im ZDF.

Anna Lena Hartmann leitet die Kita »Minikratzbürsten«.
Es gibt hier eine Notbetreuung – in die kaum Kinder kommen

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  1. APRIL 2020 DIE ZEIT No 16 DOSSIER 17


ÄltereMenschenundVorerkranktebrauchenextraSchutz.
Daher,auchwenn’s schwerfällt,diesesOsternkeineBesuche.
Außer:Videochat.Derstecktnichtan.HilfenundWege,
wieSieanderenhelfenkönnen,unter
ZusammenGegenCorona.de

Wir bleiben zuhause.


Undchatten Ostern mit


Oma und Opa.

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