2020-04-08 Die Zeit

(Barré) #1
Durchhalten

Amna Mahmudi, 40,


Flüchtlingssprecherin im Libanon


Überall auf der Welt leiden die Menschen unter den Folgen der Corona-Krise. In den Wochen des Stillstands haben viele Angst, krank zu werden, verlieren


ihre Arbeit oder können nicht zu ihrer Familie. Andere hungern. Aber irgendwie geht es weiter. Fünf Stimmen aus dem globalen Corona-Alltag


A


mna Mahmudi (Name geän-
dert) ist das Kämpfen gewohnt.
Oft siegt sie. So wie beim Ab-
wasser: Jahrelang floss das zwischen den
Zelten hindurch und versickerte auf
dem nahen Feld. Die 40-Jährige dräng-
te so lange bei Hilfsorganisationen und
der Stadtverwaltung auf Leitungen, bis
sie gebaut wurden. Oder bei prügeln-
den Ehemännern in der Nachbarschaft:
Meist reicht es, wenn Mah-
mudi sie mit ihrem durch-
dringenden Blick zur Rede
stellt. Einmal habe sie selbst
zu einem Stock gegriffen: »Er
hat es dann eingesehen.«
Die Mutter dreier Kinder
lebt in einem informellen
Flüchtlingslager im Osten
des Libanons. 72 syrische
Familien sind dort untergebracht. Die
Bewohner haben sie vor drei Jahren zu
ihrer Sprecherin gewählt. »Ich war im-
mer gut darin, Probleme zu lösen«, sagt
sie. Jetzt aber wisse sie auch nicht mehr
recht weiter.
Eine Sorge ist das Coronavirus.
»Bekommt es hier einer, hat es gleich
das ganze Lager«, meint Mahmudi. Sie
findet es deshalb gut, dass die libanesi-
schen Behörden Lager wie ihres kurzer-


hand abgeriegelt haben. Dabei könne
sie sich kaum vorstellen, dass das
Corona virus ihnen etwas anhaben wür-
de. »Wir leben hier mit Kakerlaken
und Ratten. Kann das Virus solche
Bedingungen überhaupt aushalten?«
Viel schlimmer ist, dass es kaum
noch etwas zu essen gibt. Die letzte
richtige Mahlzeit, Reis mit Kartoffeln,
habe sie vor etwa zwei Monaten ge-
kocht. »Seitdem gibt es jeden
Tag Brot, Joghurt und Tee.«
Aber auch diese Vorräte wer-
den knapp. Zur Ablenkung
schauen sie dann indische
Seifenopern, einen Fernseher
hat fast jedes Zelt.
Wegen der Corona-Krise
kommen nun keine Lebens-
mittelpakete der Hilfsorga-
nisationen mehr in den Camps an. Die
Frauen helfen sich, man borgt sich
etwas Joghurt oder passt auf die Nach-
barskinder auf. »Wir kümmern uns
um die Gemeinschaft, die Männer
bringen das Geld. So war das immer«,
sagt Campsprecherin Mahmudi. Nun,
da die Männer das Lager nicht mehr
verlassen und kein Geld mehr verdie-
nen könnten, »machen sie vor allem
mehr Probleme«. LEA FREHSE

Sandschar, 25,


Restaurantmitarbeiter in Moskau


Sandschar sehnt sich nach seiner Frau
und seiner kleinen Tochter in Kirgisistan

Die letzten Tage war die Hölle los, meine
Schicht heute ging zwölf Stunden. Nun
ist es fast 23 Uhr, und ich bin auf dem
Weg nach Hause durch die leere Stadt.
Ich bin der Einzige in meiner Familie,
der noch Arbeit hat. Meine Tage sehen
derzeit so aus: arbeiten, ins Bett fallen,
arbeiten. Das Restaurant, in
dem ich arbeite, gehört zu den
wenigen, die weiterhin Essen
ausliefern. Alle haben Angst,
alle wollen Essen bestellen.
Wir haben einen Passierschein
von unserem Arbeitgeber, falls
uns die Polizei anhalten sollte.
Es herrscht Ausgangssperre in
Moskau. Aber Lieferservices
dürfen weiterarbeiten. Man muss weiter-
machen, aus Respekt vor sich selbst und
vor dem Restaurant. Wir sind sechs Leu-
te und arbeiten derzeit wie irre. Ich nehme
die Aufträge entgegen, bereite die Liefe-
rungen vor, kassiere ab, natürlich kon-
taktlos über Kartenzahlung. Manchmal
fahre ich das Essen auch selbst aus.
Ich komme eigentlich aus Bischkek in
Kirgisistan. Ich habe in den letzten Jahren
in Moskau gearbeitet, war aber 2018

zurückgekehrt zu meiner Familie. In
Bischkek habe ich die Uni abgeschlossen
und bei einer Bank angefangen. Wir be-
kamen eine Tochter, sie ist jetzt zehn
Monate alt. Dann starb mein Vater im
Januar. Er war Bankdirektor, hatte die
letzten Jahre in Moskau gearbeitet und
uns unterstützt. Ich habe meinen Vater
sehr geliebt. Er war ein kluger Mensch,
der sich nie scheute, unserer Mutter zu
zeigen, wie sehr er sie liebt.
»Ein Mann muss klug und
zielstrebig sein. Er muss sich
zu 99,9 Prozent sicher sein in
dem, was er tut. Seine Unsi-
cherheit darf nicht mehr als
0,1 Prozent betragen«, sagte er
mir. Ich wusste, dass ich nun
die Familie unterstützen muss.
Also stieg ich in den Flieger
nach Moskau. Das war Mitte Februar.
Kurz danach begann die Corona-Krise.
Ich habe noch Glück. Ich darf im-
merhin weiterarbeiten. Meine Frau ist
mit unserer Tochter in Bischkek. Dort
sind die Bezirke der Stadt abgesperrt,
ab 20 Uhr herrscht Sperrstunde. Im
Oktober will ich eigentlich zu meiner
Familie. Ich hoffe, das geht dann.«

Aufgezeichnet von Alice Bota

Flaubert Djateng, 55,


Sozialunternehmer in Kamerun


W


ir haben eigentlich genug
Krisen in Kamerun. Boko
Haram ist vor Jahren aus
Nigeria hierher eingesickert und terro-
risiert den Norden des Landes. Außer-
dem schwelt in unserer Gesellschaft ein
bitterer, teils gewalttätiger Konflikt in
den anglofonen Regionen. Covid-
verschärft die Lage zusätzlich.« Flau-
bert Djateng ist Consultant für soziale
Projekte in West- und Zen-
tralafrika und normalerwei-
se viel unterwegs. Jetzt sitzt
er in seiner Heimatstadt
Jaunde fest.
Die Grenzen sind zu,
Schulen geschlossen, Märkte
eingeschränkt. Die Men-
schen sollen zu Hause blei-
ben. Für Djateng, Vater von
vier Töchtern, sind fast alle Einnahmen
weggebrochen. Das trifft nicht nur die
engere Familie: Er hatte bis zuletzt über
einem Dutzend junger Verwandter das
Schulgeld bezahlt.
Die Wucht der Pandemie steht noch
bevor. Das Gesundheitssystem ist mit
Krankheiten wie Malaria ohnehin über-
lastet, eine Krankenversicherung gibt es
nicht. »Dafür haben wir die tontines.
Die stehen nun auch vor Problemen.«

Tontines sind traditionelle Solidar-
vereine. Gemeinschaften sammeln für
laufende Ausgaben, Geschäftsgründun-
gen oder Krankheitsfälle einzelner Mit-
glieder. »Wir stellen die tontines gerade
auf elektronische Überweisungen um.«
Zum Beispiel per Handy.
Djateng leitet zudem ein Netzwerk mit
Programmen für Jugendliche – enorm
wichtig in einem Land mit so junger
Bevölkerung. Das ist nun sehr
viel schwieriger. Ȇberhaupt
zahlen wir für Social Distan-
cing einen hohen Preis.« Gro-
ße Familienzusammenkünfte
sind die Basis sozialen Lebens.
Auch und gerade Beerdigun-
gen. »Gemeinsam trauern, um
dann wieder das Leben zu be-
grüßen und mit dem Alltag
besser fertigzuwerden. Diese kollektive
Therapie fällt nun weg.«
Djateng sucht derzeit nach Geld für
Apps zur Bewältigung der Corona-Kri-
se, zum Beispiel um lokale Händler mit
ihren Kunden zu vernetzen. »Bei uns
verabschiedet man sich immer mit ›On
est ensemble‹ – wir gehören und bleiben
zusammen.« Das müsse man jetzt neu
interpretieren – für ein solidarisches
Social Distancing. ANDREA BÖHM

Edita Grabic, 42,


Krankenschwester in Hamburg


Das Anstrengendste gerade, erzählt
Edita Grabic, sei der Alltags-Spagat:

Mein Leben könnte man so zusam-
menfassen: drei Kinder und drei
Schichten. Früh, spät, nachts, wöchent-
lich abwechselnd. Schon in normalen
Zeiten ist das nicht immer ganz ein-
fach, aber im Moment noch schwieri-
ger. Meine Töchter (13, neun und sie-
ben Jahre alt) bekommen wie derzeit
viele Schulkinder ihre Aufgaben per
Whats App. Aber nach einer Nacht-
schicht kann ich sie nicht immer so gut
unterstützen, wie ich gern würde. Also
türmen sich die Aufgaben bis zum
Wochenende, an dem wir dann alles
nachholen. Mein Mann und ich unter-
stützen uns, wo wir nur können, aber
in der Schule kann ich aus sprachlichen
Gründen besser helfen.
Es ist dieser permanente Spagat zwi-
schen Kindern und Arbeit, der mich
anstrengt. Wenn ich abends nach Hause
komme, bin ich meistens so platt, dass ich
nur noch Zähne putzen und ins Bett

fallen kann. Das sind die Tiefpunkte.
Aber wir kriegen das hin. Müssen wir ja.
Immerhin habe ich meine Arbeit. Viel-
leicht werde ich bald Stunden aufstocken,
mein Mann steht vor der Kurzarbeit.
Irgendwo muss das fehlende Geld dann
ja her. Ich bin sehr gern Krankenschwes-
ter. Dass wir allerdings gerade als Helden
gefeiert werden, nervt etwas. Es ist ja nett,
dass einem applaudiert wird. Aber es
bringt mir nichts. Wir sind nach wie vor
schlecht bezahlt, die Krankenhäuser
haben nach wie vor zu wenig Personal. So
wenig, dass wir Krankenschwestern der-
zeit sogar Suppen aufwärmen und Brote
für die Patienten schmieren.
Ob ich Angst davor habe, mich
anzustecken? Wenn bei uns die Welle
an Infektionen kommt, dann müssen
alle Pfleger Corona-Patienten betreu-
en. Die Schutzanzüge sind knapp, wie
überall. Da kommt was auf uns zu,
aber wir sind gut aufgestellt. Wir wis-
sen, wie wir uns schützen können.«

Aufgezeichnet von Özlem Topçu

Bianca Laski, 46,


Bürokraft in Hamburg


Als Alleinerziehende brauche sie
einen Plan B, sagt Bianca Laski

Ich habe noch Glück. Ich bin bei der
Stadt angestellt und kann mich zu Hause
um meine beiden Töchter kümmern, die
die zweite und fünfte Klasse besuchen.
Mein Gehalt wird weiterbezahlt. Als
allein erzie hen de Mutter rettet mich das
natürlich, denn Großeltern können wir
momentan nicht einspannen.
Wir versuchen die Zeit zu Hause dis-
zipliniert aufzuteilen. Montags schickt
die Schule einen Wochenplan, den wir
gemeinsam abarbeiten. Vormittags wird
gelernt, nachmittags gehen wir meistens
raus, wir haben einen See in der Nähe
unseres Wohnorts. Dort können die
Kinder laufen und toben, sie sind an der
frischen Luft. Um Lagerkoller zu ver-
meiden, habe ich uns täglich eine halbe
Stunde räumliche Trennung in der
Wohnung verschrieben. In der Zeit
mache ich die Wäsche oder räume die
Spülmaschine aus. Den Kindern gestehe
ich etwas mehr Tablet- und Fernsehzeit

zu als zu normalen Zeiten. Natürlich
sind wir alle drei etwas dünnhäutiger, das
Lernen ist anstrengender, die Tage sind
anstrengender, die Kinder verstehen
nicht alles, aber spüren die Bedrohung.
»Mama, ich habe Angst, dass du Corona
bekommst«, sagen sie.
Da ich Asthma habe, gehöre ich zur
Risikogruppe. Ich versuche meine Töch-
ter aufzuklären, ihnen ein wenig die Angst
zu nehmen, ohne die Realität zu beschö-
nigen. Aber ich überspiele meine eigene
Angst dabei. Natürlich mache ich mir
darüber Sorgen, was wäre, wenn ich mich
infiziere. Ich weiß, dass ich da einen guten
Plan B für meine Kinder brauche. Wie
schlimm würde es werden mit meinem
Asthma? Und was wird dann aus meinen
Kindern? Besonders im Supermarkt
kommen mir diese Gedanken. Ich muss
ja einkaufen, aber es kann bei allem
Sicherheitsabstand immer was passieren.
Zum Glück habe ich nicht so viel
Zeit, darüber nachzudenken.«

Aufgezeichnet von Özlem Topçu

Fotos: Imke Lass für DIE ZEIT (o.); kl. Fotos (u.): privat

2 POLITIK 8. APRIL 2020 DIE ZEIT No 16

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