2020-04-08 Die Zeit

(Barré) #1

  1. APRIL 2020 DIE ZEIT No 16


WIRTSCHAFT


Kampf um die Masken


M


anchmal gelingt es, die Ge-
schäftemacher auszuschal-
ten. Und wie so oft hilft
dabei der Zufall. Anne Ig-
natius ist Geschäftsführe-
rin von Paderlog, einer
Krankenhausapotheke, die
zahlreiche Kliniken im Kreis Paderborn mit medi-
zinischen Produkten versorgt. Als sie ein Angebot
von 2,6 Millionen Atemschutzmasken erreichte,
wollte sie die Ware prüfen. Weil sie den Zwischen-
händler nicht kannte und weil gerade viele Ge-
schäftemacher versuchen, an der Not zu verdienen,
fragte sie sich: »Kann ich dem trauen?«
Also setzte sich ein Kollege von Ignatius ins
Auto und besuchte den von dem Zwischenhändler
angegebenen Importeur nahe der Grenze zu Öster-
reich. Der Besucher wurde vom Importeur trotz
vorheriger Absprache nicht erwartet, was Ignatius’
Kollegen ärgerte, schließlich ging es um ein Millio-
nengeschäft. Bei dem darauffolgenden Streit kam
auf einmal heraus, dass die Ware über zwei Zwi-
schenhändler geliefert werden sollte, worüber auch
der Importeur überrascht war. Am Ende entschied
der Importeur, direkt an den Träger von Paderlog
zu verkaufen. So sparte Ignatius 30 Cent pro Mas-
ke, auf die Menge gerechnet 780.000 Euro.
Derartige Siege sind selten. Auf dem Welt-
markt für Masken herrscht ein brutales Jeder-
gegen-jeden. Doch ohne Masken können Ärzte und
Pfleger nicht auf den Quarantäne-Stationen für
Covid-19-Patienten arbeiten. Anders gesagt: Damit
das Gesundheitssystem während der Pandemie
nicht kollabiert, braucht es ein Produkt, das in der
einfachsten Ausstattung im vergangenen Jahr rund
vier Cent gekostet hat und jetzt schon mal mehr als
drei Euro kostet – wenn man es denn kriegt.
In China, wo mehr als die Hälfte dieser Pro-
dukte hergestellt wird, zählt für den Zuschlag nur
noch eins: das schnelle Geld. Wer bei Bestellung
alles vorab bezahlen kann, der wird bevorzugt be-
liefert. Es ist ein zynisches Geld-oder-Leben, das
den Markt bestimmt.
Angesichts dieser Lage scheint die einzige Lö-
sung die Produktion in Deutschland. Bayerns Mi-
nisterpräsident Markus Söder forderte schon eine
»nationale Notfallproduktion«. Aber das ist leicht
gesagt. Denn dafür braucht man Maschinen, Roh-
material, einen Reinraum – und vor allem muss
diese Herstellung eines Medizinprodukts zertifi-
ziert werden, was momentan bis zu zwei Jahre
dauern kann. Dabei wäre schon viel geholfen,


wenn die Politik auf die Unternehmer hören wür-
de, die in diesem Markt Erfahrung haben. Denn
allein kann der Staat die Sache nicht richten. Er
braucht Hilfe und muss helfen.
Wie gigantisch die Herausforderung ist, vor der
die Einkäufer stehen, zeigt eine Tabelle aus dem
Materialbeschaffungssystem von Anne Ignatius.
Paderlog beliefert 21 Kliniken, fünf Altenheime und
sechs Rettungsdienste. Diese brauchten im vergan-
genen Jahr pro Monat 60.000 OP-Masken und 2100
der besonders sicheren FFP2-Masken. Vergangenen
Monat waren es 300.000 OP- und 23.000 FFP2-
Masken. »Das ist der Anstieg nur bei uns«, sagt sie.
»Andernorts ist es genauso.« Der Druck ist enorm,
obwohl viele Fabriken in China ihre Anlagen auf
Maskenproduktion umgestellt haben.
Bei Paderlog arbeiten Ignatius und 20 weitere
Kollegen gerade 12 bis 15 Stunden täglich, um
Nachschub zu organisieren. Geld spielt kaum eine
Rolle. OP-Masken sind bis zu
80-mal, FFP2-Masken bis zu
15-mal so teuer wie im ver-
gangenen Jahr. »Da bräuchte
es eine Preissperre durch den
Gesetzgeber«, sagt Ignatius.
»Es wäre fatal, wenn wir un-
sere Mitarbeiter nicht mehr
schützen könnten.«
Sie weiß auch, dass dies erst
der Anfang ist. In den USA hat
Präsident Donald Trump lange
die Corona-Gefahr ignoriert.
Doch inzwischen besorgt das
Land Masken für seine 327
Millionen Einwohner, wo es nur kann. Das verknappt
das Angebot auf dem Weltmarkt weiter.
Und der deutsche Staat muss wohl noch einiges
lernen, wenn es um die hemdsärmelige Beschaf-
fung von Masken geht. Diesen Eindruck gewinnt
zumindest, wer mit Michael Koch spricht. Er ist
der Produktmanager bei Medika, einem der größ-
ten Medizinproduktehändler in Deutschland. Der
Manager kennt den Markt, er weiß, wer in China
was produziert. Aber wenn deutsche Behörden ins
Spiel kommen, dann hilft das nicht immer.
Erst vergangene Woche sei er deshalb wieder
ausgebootet worden, schildert Koch. Er hatte eine
Lieferung für April vereinbart. Doch als sein Agent
in China in der Masken-Fabrik die Qualität der
Ware prüfen wollte, sei da auch der Agent eines ita-
lienischen Importeurs aufgetaucht. Der habe das
Geld gleich cash im Koffer übergeben. »Und der

wurde sofort bedient«, sagt Koch. Er muss nun bis
Mai warten. Ähnliche Erlebnisse schildern auch
andere Einkäufer.
Vorkasse im Mafia-Stil, das ist mit deutschen Be-
hörden schwer zu machen. Als Koch am vergangenen
Freitag mit dem Bayerischen Landesamt für Gesund-
heit und Lebensmittelsicherheit (LGL) telefonierte
und anbot, Masken zu besorgen, sei ihm entgegnet
worden: keine Vorkasse. Das LGE bestätigt, »in aller
Regel keine Geschäfte mit Vorkasse-Anteil« abzuwi-
ckeln, »da die derzeitige unsichere Lieferfähigkeit
einiger Lieferanten dies aktuell nicht zulässt«.
Michael Koch rechnet vor, was das ohne staatliche
Hilfe für ein Unternehmen wie das seine bedeute.
Eine Chartermaschine, um die Ware aus China zu
holen, koste gerade 1,2 Millionen Euro, die Ware
selbst rund 2,5 Millionen Euro, alles per Vorkasse.
Koch müsste also 3,7 Millionen Euro vorstrecken,
bei einem monatlichen Umsatz des Unternehmens
von sieben Millionen Euro –
finanziell ist das durchaus hei-
kel. Er fragt: »Warum über-
nimmt der Bund oder das Land
nicht die Charter für die Luft-
hansa? Oder schickt eine Bun-
deswehrmaschine?«
Der Staat könnte ihm auf
diese Weise helfen, sein Risi-
ko zu senken. »Wir müssten
uns alle an einen Tisch setzen
und die Aufgaben verteilen:
Wer macht was? Wir müssen
Schluss machen mit dieser
Flickschusterei ohne Plan«,
schimpft der Unternehmer, der jetzt mit einem
zertifizierten Partnerunternehmen selbst Masken
herstellen will.
Profis wie Ignatius und Koch kämpfen bisher nur
um genügend Masken für Kliniken. Aber was, wenn
die Deutschen sich künftig alle vermummen wollen
oder ihnen das gar vorgeschrieben wird. Woher bitte
sollen die nötigen Masken dafür kommen?
Dirk Lange ist der Zentraleuropa-Chef des
Technologiekonzerns 3M und berichtet, man habe
die jährliche Produktion von 500 Millionen Mas-
ken auf eine Milliarde hochgefahren. In einem Jahr
wolle man zwei Milliarden Masken produzieren.
Auch Wolfgang Grupp kann helfen. Der Chef
des Textilherstellers Trigema stellt jetzt Masken
her. Seine unzertifizierten Masken können zwar
nicht im kritischen Bereich der Kliniken eingesetzt
werden. Trotzdem entspannen sie den Markt,

wenn sie von Industrieunternehmen oder Droge-
riemärkten für Mitarbeiter gekauft werden.
Grupp ist froh über seine neue Produktionslinie,
weil die Wirtschaftskrise auch die Filialen von Trige-
ma erreicht hat. Die sind nun zu, womit die Hälfte
des Umsatzes von zuletzt gut hundert Millionen Euro
im Jahr erst mal ausfällt. Grupp, der seinen Leuten
auch in der Krise ihre Jobs garantiert, ist »dankbar
dafür, dass ich das herstellen kann. Sonst müsste ich
fürs Lager produzieren.« In der ersten Woche schaff-
te Trigema 80.000 Masken, in der zweiten Woche
105.000, zuletzt waren es 125.000. »Leider können
wir im Moment nicht allen die gewünschte Menge
bieten, aber ich versuche, mit Teillieferungen jedem
gerecht zu werden«, sagt Grupp.
Ein Problem, das die Brüder Ruben und Tor-
ben Skov gut kennen. Sie sind Teilhaber des Un-
ternehmens Moldex Europe in der Nähe von
Reutlingen. Seit 25 Jahren fertigen die beiden in
Schwaben die besonders sicheren FFP2-Masken.
Sie stellen den Filter, die Ventile, die Bänder selbst
her. Sogar die Produktionsanlagen entwickeln und
bauen sie selbst. Da alle Produkte dafür aus
Deutschland und den Nachbarländern kommen,
sind sie von den weltweiten Lieferketten unabhän-
gig. Das hat seinen Preis. Ein Basismodell mit
Ventil kostet rund 2,60 Euro, die Konkurrenz aus
China ist normalerweise 30 Cent billiger.
Momentan könnten die Brüder hundertmal mehr
Masken verkaufen, als sie produzieren. Dabei haben
sie schon die Produktion um 50 Prozent gesteigert,
gerade bauen sie eine weitere Fertigungslinie, um
noch mehr zu schaffen. Gearbeitet wird jetzt an sechs
Tagen in der Woche. Und obwohl die Zuschläge für
Nacht- und Wochenendarbeit ins Geld gehen, hat
Moldex Europe bislang nicht die Preise erhöht.
»Es fühlt sich so an, als ob die Welt auf dem
Kopf steht«, sagt Torben Skov. »Und trotzdem
bleibt das Gefühl zurück, nicht genug helfen zu
können.« Die Brüder beliefern gerade vorrangig
»diejenigen, von denen wir wissen, dass sie relevant
sind«, sagt Torben Skov.
Nun stehen sie vor einer schwierigen Entschei-
dung: Sollen sie die Produktion weiter ausbauen?
Dafür noch mehr Geld investieren? Die Frage ist:
Was geschieht, wenn alles vorbei ist? Kaufen die
Beschaffer dann wieder die Maske aus China, weil
sie unter normalen Verhältnissen 30 Cent billiger
ist? Es wird sich dann zeigen, was die Kliniken und
die Politik gelernt haben.

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S


o entschlossen die Bundesregierung
die Corona-Krise zu Hause bekämpft,
so zögerlich hat sie sich in Europa ver-
halten. Das reiche Deutschland hätte sofort
ein Zehntel seines Rettungsbudgets für Ita-
lien, Spanien und andere extrem belastete
Partner ausloben sollen. Diese Solidaritäts-
geste wäre sogar eine gute Investition gewe-
sen, die Länder im Süden hätten sie den
Deutschen lange gedankt. Stattdessen ließ
Deutschland zu, dass die Europäer sich bei
der Frage finanziellen Beistands um genau
jene Wochen vertagten, die zu den schlimms-
ten überhaupt für Italien oder auch Spanien
zählen. So schürt man Zorn und lässt Eu-
ropa verkommen.
In diesem Vakuum konnte stattdessen
die altbekannte und doch wenig durchdachte
Idee der Eurobonds zum Symbol für euro-
päische Solidarität werden – oder die ab-
geschwächte Variante von Corona-Bonds,
die nur während der Krise aufgenommen
werden sollen, aber wahrscheinlich hinter-
her zum Normalfall würden. Schließlich ist
die Pandemie eine Herausforderung auf
Jahre hinaus.
Was gerade so verlockend wirkt, um den
zornigen Süden zu befrieden, würde den
europäischen Zusammenhalt in Wahrheit
gar nicht stärken, dafür Europa auf Dauer
schwächen. Wer sich gemeinsam verschul-
det, braucht eine gemeinsame Steuer-, Fi-
nanz- und Sozialpolitik. Bloß kann davon
in Europa keine Rede sein. So haben die
Deutschen zum Beispiel ihr Renteneintritts-
alter auf 67 Jahre hochgesetzt, ihren Ar-
beitsmarkt flexibilisiert, sich das Schulden-
machen schwer gemacht und damit neue
Stabilität erworben.
Hoch verschuldete Länder mit einer we-
niger dynamischen Wirtschaft sollten dage-
gen mit höheren Zinsen rechnen müssen.
Nur auf diese Weise entsteht der Leistungs-
anreiz, den Europas Länder noch dringend
brauchen werden, wenn ihre Volkswirt-
schaften wieder auf die eigenen Beine kom-
men müssen.
Das soll die Not nicht wegreden. Jede
Kaltschnäuzigkeit wäre angesichts des Co-
rona-Horrors in Italien auch fehl am Platz.
Tatsächlich brauchen die Italiener unsere
Solidarität durch Soforthilfe und Kredite
aus der vollen europäischen Notkasse na-
mens ESM, um ihre Gesundheitsversor-
gung und ihre Firmen zu retten oder Kurz-
arbeit auszugleichen. Bitte großzügig und
ohne Besserwisserei! Und wenn das Geld
nicht reicht, müssen die Partner nachschie-
ßen. Man darf erwarten, dass Europa sich
diese Woche auf alle nötigen Hilfen einigt.
Es muss für die Länder da sein, die beson-
ders leiden. Schließlich kann es jeden ein-
mal besonders schlimm treffen, sogar die
zur Arroganz neigenden Deutschen.
Und doch: Gemeinsame Bonds belaste-
ten die Zukunft, weil sie Leistungsunter-
schiede verneinen und Populisten in den
Geberländern als Vorlage dienen würden.
Eigentlich sollte es klar sein, dass viele die
Krise als Gelegenheit nutzen, um ihre Lieb-
lingsidee endlich durchzusetzen. Das be-
dingungslos ausgezahlte Grundeinkommen
etwa, das sich indes überhaupt nicht auf die
vielen Verlierer der Krise konzentriert, son-
dern alle beschenkt. Oder die Senkung der
Einkommensteuer, die Ärmeren nicht zu-
gutekäme, weil sie diese gar nicht zahlen.
Oder umgekehrt die Vermögensabgabe für
Reiche, also eine neue Form der Vermögen-
steuer. Selbst dass der Staat in der Not wohl
Firmen verstaatlichen muss, kommt einigen
Kapitalismusgegnern gelegen, die nun die
Chance für eine neue sozialistische Ära ent-
stehen sehen.
Tatsächlich werden wir die soziale
Marktwirtschaft, die sich auf privates
Eigen tum und dezentrale Entscheidungen
stützt, noch brauchen, um die Herausfor-
derungen nach Corona zu bewältigen: Die
globale Pro duk tion muss neu organisiert,
die Grundversorgung zu Hause neu auf-
gebaut werden. Das Krisenmanagement
für Pandemien muss entwickelt, die Di-
gitalisierung gleichzeitig vorangetrieben
werden, ohne dass der Wohlstand der
Normalbürger vergeht. Dafür brauchen
wir weiterhin Maße für Leistung und Ri-
siko in der europäischen Wirtschaft, und
das heißt auch: unterschiedliche Zinsen
für unterschiedliche Volkswirtschaften in
Europa. UWE JEAN HEUSER

Wenn die Europäer wegen Corona
anfangen, sich gemeinsam Geld
zu leihen, schaden sie sich selbst

Solidarität ja,


aber bitte keine


Eurobonds!


Beim Beschaffen von Schutzausrüstung war Deutschland langsam und bürokratisch. Jetzt wird es eng VON INGO MALCHER


»Wir müssen


Schluss machen


mit dieser


Flickschusterei«


Michael Koch,
Medizin technik-Händler

Illustration: Nigel Buchanan für DIE ZEIT

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