2020-04-08 Die Zeit

(Barré) #1
Draußen ist die Wall
Street in diesen Tagen
gespenstisch leer

Hoffen auf den Crash


Nicht alle Anleger sehnen


sich nach einer Erholung


an der Börse – manche


wetten auf den Absturz.


Sollte man ihre Geschäfte


verbieten? VON HEIKE BUCHTER


W


ie soll man solche Verluste
bloß wieder wettmachen?
Nach den Kursstürzen
fragen sich das fast alle,
die an den Börsen inves­
tieren – von großen In­
vestoren bis zu Kleinan­
legern mit einer privaten Altersvorsorge. Doch es
gibt ein paar Investoren, die gar nicht auf eine
schnelle Erholung an den Börsen hoffen – weil sie
am Gegenteil verdienen.
Der amerikanische Hedgefonds Bridge water
Associates gehört dazu. Er hat mit sogenannten
Leerverkäufen auf fallende Kurse europäischer
Konzerne gesetzt, darunter Siemens, SAP und Luft­
hansa – laut einem Bericht der Nach­
richtenagentur Reuters im Umfang
von 15 Mil liar den Dollar. Bridge water
verdient also daran, wenn es schlecht
um diese Konzerne steht.
Verschlimmern solche Wetten auf
den Crash den Absturz womöglich
zusätzlich? Muss man sie verhindern?
Dieser Ansicht sind offenbar Fi­
nanzaufseher gleich in mehreren euro­
päischen Ländern. Nachdem der spa­
nische Leitindex Ibex Mitte März den
schlimmsten Einbruch seiner Ge­
schichte erlebte, verfügte die spanische
Marktaufsicht einen einmonatigen
Stopp von Leerverkäufen von 69 an der
Madrider Börse notierten Unterneh­
mensanteilen. Auch die Behörden in
Frankreich, Belgien, Griechenland und
Italien haben angesichts der Corona­
Krise zeitweilige Verbote der Leerver­
käufe ausgesprochen.
Leerverkäufer heißen so, weil sie
mit Aktien handeln, die ihnen gar nicht
gehören. Sie leihen sich die Wertpapie­
re stattdessen gegen eine Gebühr etwa
von Versicherungen und Pensions­
fonds, die diese in ihren Portfolios lie­
gen haben. Mit der Aktienverleihe ver­
dienen diese Großinvestoren zusätzli­
che Rendite. Kaum haben sich die
Leerverkäufer die gewünschten Aktien
gesichert, stoßen sie sie umgehend ab.
Dann warten die Leerverkäufer, bis der
Kurs sinkt, und kaufen die Papiere zu
dem billigeren Preis zurück. Die Dif­
ferenz – abzüglich der Leihgebühr – ist
ihr Gewinn.
Leerverkäufer, auch Shortseller ge­
nannt, sind sogar in normalen Zeiten
unbeliebt. Oft wird ihnen von anderen
Anlegern oder den betroffenen Unter­
nehmen Manipulation vorgeworfen.
Tatsächlich warten etwa Hedge fonds,
die auf diese Strategie spezialisiert sind,
nicht erst ab, ob sie mit ihrer Wette
gegen ein Unternehmen recht behalten.
Sie helfen selbst nach – und erklären
öffentlich, warum das Unternehmen
ihrer Meinung nach zu hoch bewertet
ist. Damit wollen sie andere Investoren
überzeugen, ihre Aktien abzustoßen



  • und so den gewünschten Kurssturz
    herbeiführen.
    Die Leerverkäufer halten dagegen, dass sie mit
    ihren Wetten verdeckte Schwächen und Missstände
    aufdecken, die letztlich allen schaden. Bei dem
    Energiehändler Enron wies Jim Chanos, ein be­
    kannter New Yorker Shortseller, früh auf Unstim­
    migkeiten in den Bilanzen hin. Das bestätigte sich,
    als Enron 2001 spektakulär in Konkurs ging. Auch
    bei Lehman Brothers warnte ein Shortseller Monate
    vor der Implosion der Bank vor faulen Krediten.
    Es ist eine riskante Strategie: Liegen die Shortsel­
    ler falsch – oder können sie zumindest andere An­
    leger nicht von ihrer Meinung über eine Unter­
    nehmensaktie überzeugen –, können sie viel Geld
    verlieren. Sie müssen die Aktie ja zurückkaufen, auch


wenn der Kurs über jenem liegt, zu dem sie sich die
Aktie ursprünglich geliehen haben. Je höher der
Aktienkurs steigt, desto größer werden ihre Verluste.
Kaufen die Shortseller aus Angst vor steigenden
Kursen viele Aktien auf, spricht man von einem
Short Squeeze – ausgerechnet jene, die eigentlich auf
den Absturz gewettet hatten, treiben damit parado­
xerweise die Kurse nach oben.
Ein prominentes Beispiel war vor Kurzem Tesla.
Der Elektroautobauer gehörte lange zu den belieb­
testen Angriffszielen von Shortsellern, die den son­
nigen Pro gno sen von Tesla­Chef Elon Musk nicht
trauen. Doch Anfang des Jahres gab das Unterneh­
men überraschend seinen ersten Quartalsgewinn
bekannt – und die Aktie schoss über 20 Prozent nach

oben. Einen Teil des Anstiegs verdankte Tesla aus­
gerechnet seinen Kritikern, den Leerverkäufern, die
sich eilig mit den Papieren eindeckten, um nicht
noch mehr bezahlen zu müssen. Insgesamt verloren
sie durch den Kurssprung des kalifornischen Auto­
herstellers über acht Mil liar den Dollar, davon 2,5
Mil liar den an einem einzigen Tag, kalkulierte das
Wall Street Journal.
Leerverkäufe sind aber nicht immer Spe ku la tion.
Sie gehören auch zu den Instrumenten, mit denen
sich institutionelle Investoren gegen Kurseinbrüche
absichern. Auf Anfrage der ZEIT zu den umstrittenen
europäischen Leerverkaufspositionen erklärte der
Hedge fonds Bridge water Associates: »Wir nehmen

A


m 7. März, einem Samstag, klingelte
bei Gerhard Fettweis kurz vor Mitter­
nacht das Telefon. Normalerweise
nehme er so spät keine Anrufe ent­
gegen, erzählt der Professor für Nach­
richtentechnik von der TU Dresden. Doch er
machte eine Ausnahme, als er sah, dass der Anrufer
Thomas Wiegand war, Elektrotechniker und Lei­
ter des Fraunhofer Heinrich­Hertz­Instituts.
Wiegand war gemeinsam mit dem Unterneh­
mer Chris Boos gerade dabei, in ganz Europa ein
Team für eine Idee zusammenzustellen, die inzwi­
schen als eines der wichtigsten Werkzeuge im
Kampf gegen die Corona­Pandemie gilt: eine App,
die alle Kontaktpersonen von Erkrankten identifi­
ziert und so dabei hilft, künftige Ausbrüche des
Virus einzudämmen, sollten die Beschränkungen
demnächst gelockert werden. Das Projekt, bei dem
schließlich über 130 Wissenschaftler und Spezia­


listen, von Epidemiologen über Mobilfunkexper­
ten bis zu Gesundheitspsychologen, mitmachten,
entstand auf Eigeninitiative und zunächst ohne
Geldgeber. Erst im Nachhinein ging bei den Betei­
ligten die Spende einer Schweizer Stiftung in Höhe
von umgerechnet 3,3 Millionen Euro ein.
Wird jemand positiv auf Corona getestet, läuft
es bislang so: Die Gesundheitsämter fragen nach
allen Menschen, mit denen ein Infizierter zuletzt
Kontakt hatte. Das kostet nicht nur Zeit, es
schließt auch all jene aus, denen ein Erkrankter
beispielsweise in der Bahn länger gegenübersaß.
Das von Fachleuten um Wiegand und Boos
entwickelte System namens PEPP­PT soll diesen
mühsamen und lückenhaften Prozess automatisie­
ren. Es misst per Bluetooth den Abstand zwischen
zwei Menschen, besser gesagt: zwischen ihren
Smart phones. Kommt ein Gerät dem anderen
länger als 15 Minuten näher als zwei Meter, wird

ihm ein verschlüsselter Code zugewiesen, der 21
Tage lang gespeichert bleibt. Im Fall eines positi­
ven Tests können die Infizierten entscheiden, ob
sie die Liste den Gesundheitsbehörden übermit­
teln, die dann alle Kontaktpersonen informieren
können – ohne den Namen des Infizierten zu
nennen. In den kommenden Wochen soll das Ro­
bert Koch­Institut die fertige App herausbringen.
Die Macher der Plattform glauben, dass ihnen
ein Spagat gelungen ist, der noch vor wenigen Wo­
chen undenkbar erschien. Damals sprach sich Ge­
sundheitsminister Jens Spahn (CDU) dafür aus,
die Standortdaten von Smart phones auszuwerten,
der Protest war groß. Einen derartigen Eingriff in
die Privatsphäre wollten viele Menschen nicht hin­
nehmen. Über Mobilfunkmasten ermittelte Stand­
ortdaten sind nach Meinung von Experten zudem
viel zu ungenau. Das neue System soll beide Pro­
bleme lösen.

»Wir tracken niemanden«, sagt Wiegand. Es
würden weder der Aufenthaltsort noch andere per­
sönliche Daten der Nutzer gespeichert. Nicht ein­
mal die Gesundheitsbehörden würden am Ende
wissen, wer sich hinter den anonymen Codes ver­
birgt. Damit unterscheidet sich die europäische
Idee von Apps, wie sie in China oder Südkorea
zum Einsatz kommen. Dort setzen die Behörden
auf Zwang und werten neben GPS­Signalen auch
Kreditkartendaten und Bilder von Überwachungs­
kameras aus. Wiegand und seine Mitstreiter glau­
ben, dass sie solche Einblicke nicht brauchen. Sie
halten ihr System auch für besser als die Corona­
App aus Österreich, bei der die Nutzer Begegnun­
gen selbst festhalten müssen.
Vier Wochen lang haben sie die Technik per­
fektioniert. Der Telekommunikationsanbieter Vo­
dafone kümmerte sich darum, dass die Abstands­
messung auf allen gängigen Smart phones funk­

tioniert. 50 Bundeswehrsoldaten testeten den
praktischen Einsatz in einer Berliner Kaserne. Um
Datenschutz­ und Sicherheitsbedenken zu ent­
kräften, band das Kollektiv vorab die Aktivisten
vom Chaos Computer Club, das Bundesamt für
Sicherheit in der Informationstechnik (BSI) und
Politiker der meisten Parteien ein.
Nun hoffen die Macher auf die Unterstützung
der Bundesregierung. Zwar habe etwa Bundes­
kanzlerin Angela Merkel ihre grundsätzliche Sym­
pathie für eine Corona­App erklärt, mehr aber
auch nicht. Damit das Projekt ein Erfolg wird,
braucht es jedoch die Empfehlung der Politik und
der Gesundheitsbehörden, sich die App herunter­
zuladen. Denn: Nur wenn 60 Prozent der Bürger
sie nutzen, funktioniert die digitale Pandemie­
Eindämmung, schätzen Epidemiologen. »Wir le­
gen die Technologie vor«, sagt Wiegand. »Danach
muss die Regierung entscheiden.«

Eine neue digitale Plattform soll helfen, die Pandemie einzudämmen,


ohne die Privatsphäre zu verletzen VON ANN-KATHRIN NEZIK


App in die Freiheit


zu einzelnen Positionen keine Stellung. Bridge water
handelt in 150 Finanzmärkten weltweit und hält da­
durch viele untereinander verbundene Positionen,
die oft der Absicherung dienen und sich ständig ver­
ändern. Es wäre irreführend, aus einer Position
Schlüsse auf unsere Gesamtstrategie zu ziehen.«
Mit Leerverkäufen seine Investments abzusi­
chern sei grundsätzlich legitim, sagt auch Dennis
Kelleher. Der Gründer des Washingtoner Think­
tanks Better Markets setzt sich für transparente und
faire Finanzmarktpraktiken ein. Die Schwierigkeit
für Aufseher liege darin, Spekulation und Absiche­
rung klar voneinander zu trennen. »Es ist bei den
komplexen Produkten der modernen Hochfinanz
kaum nachvollziehbar, welchem Zweck eine Short­

Position wirklich dient«, sagt er. Kelleher hält ein
vorübergehendes Shortselling­Verbot während der
aktuellen Krise trotzdem für nachvollziehbar: »Es
handelt sich um einen beispiellosen äußeren Schock
von historischen Ausmaßen.« Ihre marktbereini­
gende Funktion könnten die Leerverkäufer später
wieder übernehmen, wenn sich die Lage in der
Wirtschaft beruhigt habe.
Verteidiger der Leerverkäufer weisen dagegen
darauf hin, dass deren Wetten bei den Turbulenzen
der vergangenen Wochen keinen nennenswerten Ein­
fluss gehabt hätten. Zwar nahmen die Leerverkaufs­
positionen in den USA im März gegenüber dem
Vormonat um netto 51 Milliarden Dollar zu, kalku­

lierten die Analysten von S3 Partners, einer New
Yorker Firma, die auf Shortselling­Daten spezialisiert
ist. Das stellt einen massiven Anstieg dar. Doch im
gleichen Zeitraum wurden Aktien im Wert von zehn
Billionen Dollar gehandelt.
In Europa hingegen, glaubt Kelleher, könne es
schlimmer kommen. Hier seien die Finanzmärkte
zwar kleiner, könnten aber einen weit stärkeren
negativen Effekt auf die Unternehmen haben.
Die EU­Finanzaufsicht ESMA scheint das ähn­
lich zu sehen. Sie hat Mitte März neue Melde­
pflichten eingeführt. So müssen Shortseller nun
ihre Position offenlegen, sobald ihre Leerverkäufe
mehr als 0,1 Prozent der ausstehenden Aktien
erreichen. Bis zur Corona­Krise galt die Melde­
pflicht erst ab 0,5 Prozent. Man sehe
in den derzeitigen Umständen eine
»ernste Bedrohung für das Vertrauen
in die EU­Finanzmärkte«, hieß es zur
Begründung für die Maßnahme, die
erst einmal vorübergehend sein soll.
Doch viele Investoren und Händler
glauben, dass es ein erster Schritt sein
könnte, um eine europaweite Ein­
schränkung einzuleiten.
Für Deutschland sieht die Finanz­
aufsicht BaFin allerdings bislang keinen
bedeutsamen Anstieg von Leerverkäu­
fen. Ein Verbot sei deshalb nicht ge­
plant. »Wir sehen in der derzeitigen
Marktsituation viel mehr eine funda­
mentale denn eine spekulative Entwick­
lung«, erklärt eine Sprecherin auf An­
frage der ZEIT. Diese Einschätzung
könne sich in dynamischen Zeiten aller­
dings jederzeit ändern.
Auch die Deutsche Börse AG sieht
keinen Anlass für ein Verbot. »Die Märk­
te und die Preisbildung funktionieren
sehr gut«, sagt Vorstand Thomas Book.
Kursschwankungen seien »nicht das Er­
gebnis von Leerverkäufen«.
Auch die Erfahrung aus der Finanz­
krise 2008 spricht eher gegen einen Ein­
griff. Damals verboten die US­Börsen­
aufsicht SEC, Kanada, Irland, die
Schweiz und auch Großbritannien
zeitweilig die Leerverkäufe von Hunder­
ten von Finanzaktien. Während der
Euro­Krise 2011 wurden in Belgien,
Frankreich, Italien und Spanien Leer­
verkäufe einer großen Zahl von Bank­
anteilen verboten.
Doch Studien zeigen, dass der
Shortselling­Bann den Zweck ver­
fehlte, für mehr Stabilität zu sorgen.
Zum einen wurden Banken, für die ein
Leerverkaufsverbot galt, mit höherer
Wahrscheinlichkeit zahlungsunfähig
als jene Kreditinstitute, die diesen
Schutz nicht genossen. Zu diesem
Schluss kam eine Studie des Center for
Studies in Economics and Finance der
Universität Neapel 2015. Zum anderen
schreckte das Verbot offenbar Investo­
ren generell vom Aktienkauf ab, weil
sie sich nicht länger durch eine Gegen­
wette gegen Kursschwankungen absi­
chern konnten. Das zeigte eine 2013
veröffentlichte Untersuchung im Auftrag der Ame­
rican Finance Association, eines unabhängigen Fi­
nanzforschungsinstituts.
Weniger Aktienkäufe, also zu wenig Angebot
und Nachfrage für Wertpapiere, verschärfen je­
doch die Probleme in einer Krisensituation, denn
weniger Transaktionen bedeuten größere Kurs­
ausschläge. Damit steigt das Verlustrisiko für An­
leger erst recht.
Das hat auch Christopher Cox umgestimmt.
Der Chef der US­Börsenaufsicht unter George W.
Bush hatte 2008 das Verbot der Leerverkäufe an­
geordnet. Im Rückblick aber war sein Fazit: »Die
Kosten überwiegen den Nutzen.«

Foto: Spencer Platt/Getty Images

24 WIRTSCHAFT 8. APRIL 2020 DIE ZEIT No 16

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