2020-04-08 Die Zeit

(Barré) #1
Krise gelernt, dass ein Kopfschmerzmittel, das hier
jeder in seiner Hausapotheke hat, nicht ohne Indien
hergestellt werden kann. Und nun ist Indien selbst
durch das Virus blockiert. Wir müssen unsere euro-
päische Krisenvorsorge verbessern. Wir sollten uns
nicht auskoppeln aus der Globalisierung, wohl aber
widerstandsfähiger werden und unser Lieferanten-
netz verbreitern, wir dürfen nicht von einem einzel-
nen Produzenten außerhalb der EU abhängig sein.
ZEIT: Bedeutet das, Sie wollen als Konsequenz aus
Klima- und Corona-Krise und für Ihren Green
and White Deal eine schonendere, kontrolliertere
Globalisierung?

Von der Leyen: Ich würde es eine achtsame Globa-
lisierung nennen. Wir werden Globalisierung
nicht mehr ausschließlich ökonomisch sehen kön-
nen. Das Digitale, das Klima und die Gesundheit
werden von Stund an immer mit am Tisch sitzen,
die drei werden immer mit in die Kalkulation ein-
bezogen werden.
ZEIT: Was heißt das konkret?
Von der Leyen: Wir werden fragen: Was sind die
grünen Kosten, was sind die weißen Kosten, die
mitgerechnet werden müssen? Und wenn das bei-
des einbezogen wird, welche realen Gewinn-
margen bleiben dann noch bei der Globalisierung?
Die sind häufig schmaler, als wir uns das eingere-
det haben. Folglich müssen andere Akzente gesetzt
werden, nicht aus Altruismus, sondern weil die
Investoren, die Geschäftspartner und Rückversi-
cherer es so verlangen werden. Denn nichts ist
teurer als das, was wir jetzt mit Covid-19 erleben.
Und damit fallen alle bisherigen Gewinnspannen
in sich zusammen.

ZEIT: In den vergangenen anderthalb Jahrzehnten
haben die Menschen drei Globalisierungskrisen
erlebt und erlitten, Finanzen, Klima und jetzt
Corona. Und sie werden sich fragen: Wer schützt
mich eigentlich vor den existenziellen Folgen die-
ser folgenblinden Globalisierung? Da werden die
Autoritären gleich begeistert rufen: die Nation!
Von der Leyen: Die Staaten sind wichtig, aber zu
klein. Die ungeregelten innereuropäischen Grenz-
schließungen Mitte März haben sofort tiefe Spu-
ren im Binnenmarkt hinterlassen und unsere Ver-
sorgung, auch die medizinische, in Gefahr ge-
bracht. Wenn jeder zumacht, hat keiner was da-
von. Heute läuft es wieder besser, nicht zuletzt
durch den Einsatz der Europäischen Kommission.
Das war lehrreich für uns alle in der EU.
ZEIT: Nun gibt es schon einige, die die Corona-
Krise gegen den Green Deal und eine wirksame
Klimapolitik instrumentalisieren wollen, nament-
lich die deutsche Autoindustrie, die plötzlich nicht
mehr so strenge Auflagen für ihre Fahrzeugflotten
haben will. Was sagen Sie denen?
Von der Leyen: Der Kurs bleibt. Der Green Deal
ist die neue europäische Wachstumsstrategie. Un-
ser bisheriges Wachstumsmodell beruhte auf
Raubbau an der Natur und auf Externalisierung
der Kosten bis hin zu den globalen Müllhalden.
Was uns aber autarker machen würde, wäre mehr
Kreislaufwirtschaft, bei der zwar der Natur ein-
malig etwas entnommen wird, das dann aber mög-
lichst recycelt oder repariert werden kann. Der
zweite Paradigmenwechsel heißt: weg vom Kau-
fen, hin zur Dienstleistung. Solange eine Wasch-
maschine gekauft wird, gibt es ein Interesse daran,
dass sie nach einer Weile kaputtgeht und billig ent-
sorgt wird. Wenn sie aber vom Hersteller über eine
Art Dienstleistung zur Verfügung gestellt wird, hat
er selbst das größte Interesse daran, dass die Wasch-
maschine möglichst lange hält.
ZEIT: Es gibt also keinen Corona-Rabatt für die
deutsche Autoindustrie?
Von der Leyen: Systemisch wichtige Industrien
wollen wir in Europa halten, aber eben auf nach-
haltiger Basis.
ZEIT: Rechnen Sie nach der Corona-Krise mit
mehr Zustimmung für Ihren Kurs oder mit
weniger?
Von der Leyen: Mit mehr. Wir wissen spätestens
durch die Corona-Krise: Es führt kein Weg zurück
ins alte Verhalten. So wie wir jetzt schmerzhaft
lernen mussten, dass wir für ein plötzlich weltweit
auftretendes Virus viel besser gewappnet sein müs-
sen, müssen wir verstehen, dass die weltumspan-
nende und bisher unerbittlich voranschreitende
Erderwärmung nicht weggeht.
ZEIT: Was bedeutet es für Sie selbst, aber auch
poli tisch, dass diese Gesellschaft nun erlebt, der
eigenen Normalität nicht ausgeliefert zu sein, son-
dern diese Normalität grundlegend gestalten und
verändern zu können?
Von der Leyen: Das ist eine sehr zwiespältige Er-
fahrung. Es ist einfach nur schrecklich, Menschen
sterben zu sehen, aber auch, die Großeltern nicht
mehr besuchen, umarmen und herzen zu können.
Auf der anderen Seite erleben wir eine neue Stille,
die Wiederentdeckung der Langsamkeit und be-
sinnen uns auf die einfachen Dinge des Lebens.
Letzteres sollten wir als Bereicherung mitnehmen.
ZEIT: Was sagt uns diese Krise über die drei mäch-
tigsten politischen Systeme der Erde, die USA,
China und die EU? Welches System erweist sich
gerade als erfolgreich?
Von der Leyen: Wir alle verlieren. Wer relativ stär-
ker aus der Krise herausgeht, ist noch nicht ausge-
macht. China war als Erstes in der Krise und
scheint nun als Erstes wieder herauszukommen.
Allerdings kann es seine Produkte auf einem Welt-
markt, der mit Corona kämpft, nur schwer ver-
kaufen. Chinas bisheriger Kurs baut auf sehr star-
kem Wachstum auf, und man wird sehen, wie es
seine bisherige Strategie an die neue Lage anpassen
kann. Die USA haben die Gefährlichkeit des Virus
lange ausgeblendet, dadurch wertvolle Zeit verlo-
ren, und nun trifft die Epidemie auf ein Gesund-
heitssystem, das dafür nicht ausgestattet ist. Ande-
rerseits werden die USA mit Google, Amazon und
Face book vom Digitalisierungsschub am meisten
profitieren, der mit der Corona-Krise einhergeht.
ZEIT: Und Europa?
Von der Leyen: Europas Zukunft ist offen. Natür-
lich hängt sie auch von der Entwicklung in China
und den USA ab. Wir haben einen großen Vorteil,
das ist unser großer Binnenmarkt, der macht uns
relativ robust. Aber es wird darauf ankommen, wie
solidarisch wir mit der Krise umgehen und ob wir
einen Wirtschaftsraum ohne Brüche erhalten.
ZEIT: Zum Schluss eine persönliche Frage. Sie
sind Christin und haben eine große Familie:
Wie feiern Sie unter den gegebenen Umständen
Ostern?
Von der Leyen: Entweder es klappt, dass ich zu
Hause bei meiner Familie sein kann, oder ich ver-
bringe Ostern im 13. Stock dieses Hochhauses.
Dann mache ich eine Oster-Videokonferenz mit
meiner Familie. Ostereier suchen funktioniert di-
gital möglicherweise nicht so gut.
ZEIT: Und was machen Sie als Christin beim
höchsten Fest ohne Gottesdienst?
Von der Leyen: Ja, das tut weh. Aber letztlich
braucht der Glaube keinen Ort. Und ich versuche,
positiv zu bleiben: Man bekommt nicht mehr auf
die Schultern gelegt, als man tragen kann.

Die Fragen stellte Bernd Ulrich

»Es führt kein Weg zurück«


Europa muss grüner


und solidarischer werden:


EU-Kommissionschefin


Ursula von der Leyen über


die Lehren aus der Krise


und die Frage, warum


Kopfschmerzmittel


politisch sind


Wie wohl alle Spitzenpolitikerinnen und -politiker
arbeitet auch die Präsidentin der Europäischen
Kom mis sion in diesen Zeiten so viel wie noch
nie in ihrem Leben. Wochenenden selbstver-
ständlich eingeschlossen. Anders als die meisten
anderen übernachtet Ursula von der Leyen aber
auch noch neben ihrem Büro im 13. Stock des
Berlaymont, des Sitzes der Kommission in
Brüssel. Was Work-Life-Balance war, ist nun
bestenfalls noch Work-Sleep-Balance. Immerhin
kann sie trotz eingeschränkter Bewegungs-
freiheit die Natur genießen, in ihrem Büro
stehen zwei Bäume. Das Interview wurde am
Sonntag per Video geführt.


DIE ZEIT: Politik entscheidet immer über das
Schicksal von Menschen, aber selten so direkt und
so existenziell wie jetzt. Was bedeutet das für Sie?
Ursula von der Leyen: Das hat eine ungeheure
Wucht, die Schwere der Krise lastet unheimlich auf
unseren Schultern, auch auf meinen. Vor allem
weil ich weiß, dass dies erst der Anfang ist. Lang-
sam schält sich heraus, wie tief die Sache geht.
ZEIT: Wie lange wird sie denn dauern?
Von der Leyen: Genau weiß das niemand, aber wir
werden noch viele Monate mit dem Virus leben
müssen.
ZEIT: Im Moment müssen Sie vor allem operativ
auf akute Notlagen reagieren, wissen aber zugleich,
dass sich die EU in solchen Krisen neu formt und
definiert. Kommen Sie dazu, sich auch strategische
Gedanken zu machen?
Von der Leyen: Ich lebe gerade in zwei Welten zu-
gleich. Das eine ist die tägliche Krisenbewältigung,
wir haben letzte Woche zum Beispiel ein 100-
Milliarden-Euro-Paket auf den Weg gebracht für
Kurz arbeit, das rettet auch den italienischen Mit-
telstand, der wiederum sehr wichtig ist für die
deutsche Automobilindustrie. Dann telefoniere
ich mit China und Italien, um Schutzmasken zu
besorgen, dann habe ich eine europaweite Video-
konferenz zum Thema Beatmungsgeräte, so geht
es in einem fort. In der anderen Welt grübele ich
schon über der Frage: »Was ist das für eine Krise,
und was folgt daraus?«
ZEIT: Und was ist das für eine Krise?
Von der Leyen: Eine schwere symmetrische, welt-
weite Krise, also etwas wirklich Neues.
ZEIT: Ist es nicht auch ein gigantischer Akt von
Solidarität zwischen Jung und Alt, zwischen Ge-
sunden und Vorerkrankten? Die Menschen sind
nicht nur bereit, sich massiv einzuschränken, son-
dern schicken auch die Wirtschaft auf Talfahrt,
um die Schwachen zu schützen. Wieso ist das
möglich geworden, und was kann man mit diesem
Geist politisch tun?
Von der Leyen: Der Grund liegt darin, dass die
Menschen spüren: Diese Krise betrifft weder ein-
zelne Wirtschaftssektoren, wie es etwa bei Lehman
Brothers der Fall war, noch ist sie auf Weltregio-
nen begrenzt wie Ebola – sie ist umfassend, und
deswegen kann man ihr auch nur solidarisch be-
gegnen. Man erlebt, dass Grenzen nichts mehr
helfen und dass alle verletzlich sind. Und nicht zu-
letzt: wie wichtig es ist, ein funktionierendes
Staatswesen zu haben.
ZEIT: Wieso gelingt es in der EU nicht, ein Pro-
mille dieser Solidarität auch auf die Flüchtlinge
auf den griechischen Inseln anzuwenden?
Von der Leyen: Das sehe ich anders. Es gibt die
Bereitschaft von acht Ländern, unbegleitete Ju-
gendliche aufzunehmen. Ich sehe die rastlose Ar-
beit der NGOs und das Bemühen von Kom mis-
sion und griechischer Regierung, die Menschen
aufs Festland zu bringen für den Fall, dass in den
Lagern Corona ausbricht.
ZEIT: Es mag Bemühen geben, aber es gibt kaum
Ergebnisse.
Von der Leyen: Wir arbeiten mit Athen und weite-
ren Mitgliedsstaaten daran.
ZEIT: Kann es sein, dass Italien und Spanien auch
deswegen besonders schwer von der Krise betrof-
fen sind, weil die EU sie gezwungen hat, im öf-
fentlichen Sektor zu sparen, und ihr Gesundheits-
system nun noch weniger Reserven hat als etwa
das deutsche?
Von der Leyen: Sicher haben sich die Reserven an-
gesichts dieser Pandemie als zu klein herausgestellt.
Allerdings sind wir in Europa viel besser aufgestellt
als andere, weil wir immerhin Vorsorgesysteme ha-
ben und weil die Menschen in der EU umfassend
versichert sind. In den USA ist der Gesundheits-
sektor rein marktwirtschaftlich organisiert, viele
sind nicht versichert – mit den Folgen, die wir jetzt
sehen. Dieses Beispiel, aber auch die Defizite in
Europa lehren uns, dass wir unsere Gesundheits-
systeme ganz anders aufstellen und denken müssen.
Das gilt für die Menge an Reserven wie für die Be-
zahlung der Menschen, die dort arbeiten. Denn das
nächste Virus wird kommen, das ist sicher.
ZEIT: Nicht so leicht fällt der Europäischen Union
die Solidarität auch, wenn es um die Finanzierung
der Rettungsmaßnahmen und der Konjunktur-
programme für den Wiederaufschwung geht. Hier
droht sich der Konflikt der Griechenlandkrise,
Nord gegen Süd, Reich gegen Arm, zu wiederho-
len. Sind Sie in dieser Frage eigentlich Nordeuro-
päerin oder Südeuropäerin?
Von der Leyen: Ich versuche, die Brücke zwischen
beiden zu schlagen. Zum Beispiel mit »Sure«, dem
Programm für Kurzarbeit, das dem Süden sehr
hilft. Es wird solidarisch finanziert, es ist schnell,
und es ist zielgerichtet. So stelle ich mir europä-
ische Solidarität vor.


ZEIT: Was spricht gegen Corona-Bonds außer
dem Namen?
Von der Leyen: Es geht jetzt darum, schnell sehr
große Summen zur Verfügung zu stellen und
europäische Solidarität zu zeigen. Das funktio-
niert am besten über das kraftvollste Instrument,
das wir haben: einen starken, neuen EU-Haus-
halt. Er wird von allen getragen, ist transparent,
die Regeln sind klar, und sein Auftrag ist, die
europäische Wirtschaft zusammenwachsen zu
lassen. Über den siebenjährigen Haushalt kön-
nen wir die Summen hebeln, die die Antwort auf
Corona braucht.

ZEIT: In der Corona-Krise ist zu erkennen, dass
globale Lieferketten fragil sind und die globale
Arbeitsteilung riskant sein kann, insbesondere
wenn es um medizinische Produkte geht. Braucht
die EU mehr Autarkie im Gesundheitswesen?
Von der Leyen: Wir haben zwei Schwerpunkte in
Europa, die Digitalisierung und die Dekarbonisie-
rung, also die Klimapolitik. Die Digitalisierung
erlebt – für jeden erfahrbar – gerade durch Corona
einen Schub. Der Green Deal ist und bleibt sehr
wichtig, wird aber ergänzt werden durch eine
weiße Komponente, Weiß als Farbe der Medizin.
Wir merken jetzt, dass die Gesundheit genauso ein
öffentliches Gut ist wie ein verträgliches Klima.
Wir schützen die Gesundheit des Planeten, und
wir schützen die Gesundheit des Menschen.
ZEIT: Das ist eine interessante Antwort, allerdings
nicht auf meine Frage nach der medizinischen
Autarkie.
Von der Leyen: Wir werden uns die Lieferketten
sehr genau anschauen müssen. Ich habe in dieser

»Wir werden


Globalisierung


nicht mehr


ausschließlich


ökonomisch sehen


können«


Ursula von der Leyen

Foto: Peter Rigaud/laif


  1. APRIL 2020 DIE ZEIT No 16 POLITIK 3

Free download pdf