2020-04-08 Die Zeit

(Barré) #1

C


hristoph Schlingensief tobt
durch den Waggon einer Berli-
ner U-Bahn. Die Haare des
Regisseurs, Aktionskünstlers
und – hier – Moderators sind
wild zerzaust, die Augen auf-
gerissen. Nun schreit er den
Namen des vietnamesischen Revolutionärs Ho
Chi Minh, und der ganze Waggon grölt mit: »Ho!
Ho! Ho Chi Minh!« Im nächsten Moment sieht
man Schlingensief, wie er mit einem jungen Mann
spricht, der sich als Hanns Martin Schleyer aus-
gibt. Den Arbeitgeberpräsidenten hatte die RAF
1977 entführt und ermordet. »Ich bin Gefangener
der MTV«, erzählt der Mann. »Und mir geht es
zurzeit so na ja. Ich habe viele Reisen erlebt.« Pause.
Christiane zu Salm, 53, lächelt, halb belustigt,
halb irritiert über das vierminütige YouTube-Video
und den Ausflug zurück ins Jahr 2000. Damals war
sie die Deutschland-Chefin des Musiksenders
MTV. »Aus heutiger Sicht hätte ich das nicht
durchgehen lassen«, sagt sie im Skype-Gespräch.
Heute würde sie mehr Rücksicht nehmen auf die
Schmerzen der Opfer. Doch sie sagt auch: »Was
Schlingensief gemacht hat, hatte eine großartige
Energie.« Seine Experimental-Show U3000 wurde
trotzdem ein Quoten-Flop. Aus der Londoner
MTV-Zentrale habe zu Salm deshalb Anrufe be-
kommen. Dass Schlingensief doch kein Künstler
sei. Dass zu Salm das stoppen müsse, sofort. Aber
die acht Folgen liefen zu Ende. Sie wollte es so.
Christiane zu Salm war die erste Chefin eines
Fernsehsenders in Deutschland. Sie hat die Bran-
che mitgeprägt – und ihr dann abrupt den Rücken
gekehrt. Und natürlich möchte man wissen, welche
Rolle diese Branche dabei gespielt hat.
Aufgewachsen ist Christiane zu Salm, deren
Mädchenname Hansen ist, in der Nähe von Mainz.
Die Mutter arbeitet als Hauswirtschaftslehrerin,
dem Vater gehört ein Buchverlag, die Tochter wird
auf die Nonnenschule geschickt. Später will sie dem
Vater nacheifern, also macht sie zunächst eine Lehre
zur Verlagsbuchhändlerin beim S. Fischer Verlag.
Dann drängt es sie nach draußen, nach vorn.
Nach der Lehre zieht sie nach München, gut 400
Kilometer entfernt von der Heimat, um zu studie-
ren. Kunstgeschichte oder Literatur, auch das wäre
schön gewesen – doch den Vorstellungen der Eltern
entspricht BWL eher. Der erste Job führt sie zur
Produktionsfirma Ufa Film und Fernseh GmbH
in München, als Referentin der Geschäftsführung.
Friedrich-Carl Wachs, ihr Vorgänger auf diesem
Posten, durfte eine Empfehlung für seine Nach-
folge abgeben und empfahl sie. »Warum nicht mal
eine Frau?«, habe er zu seinem Chef gesagt.
Später arbeitet Christiane zu Salm in den Be-
reichen Merchandising und Musikproduktion.
»Sie beherrschte die männlichen Regeln, und sie
arbeitete hart.«, sagt Wachs, der weiter mit ihr zu-
sammenarbeitete und später Chef des Studios Ba-
belsberg wurde. Zu Salm übernimmt die Leitung
des Kinderprogramms der Ufa-Fernsehproduktion,
gründet einen Musikverlag.
Dann kam MTV. Es passte zum Geist der spä-
ten 1990er-Jahre, dass MTV der erste Sender in
Deutschland war, der eine Frau zur Chefin mach-
te. Das Fernsehgeschäft war eine Männersache
damals, wie die meisten Bereiche der Wirtschaft,
in denen es um das große Geld ging. Aber zum
Anspruch des 1981 in New York gegründeten Sen-
ders MTV gehörte es, voranzugehen. Nicht nur
Teil des Zeitgeists zu sein, sondern ihn selbst zu
prägen. Zum Beispiel mit einer Frau an der Spitze.
Also beauftragte MTVs Europa-Chef Brent
Hansen Ende der Neunziger einen Headhunter.
Der sollte nach der ersten Chefin für Deutschland,
Österreich und die Schweiz suchen und rief bei
Christiane zu Salm an. Doch die lehnte ab.
»Ich hatte es mir gerade gemütlich gemacht«,
sagt sie. Drei Jahre zuvor hatte sie geheiratet, den
Prinzen Ludwig zu Salm-Salm. Sie habe sich ein
Leben vorgestellt, bei dem sie halbtags arbeiten wür-
de, halbtags Tennis spielen und Freunde treffen. Ir-
gendwann Kinder, ein schönes Leben in München,
eine Karriere – aber fernab der Öffentlichkeit.
Doch der Headhunter ruft ein zweites Mal an.
Und Christiane zu Salm beginnt zu zweifeln. Ob
nicht in diesem Job genau die Freiheit steckt, nach
der sie sucht? Sie fragt Thomas Stein, damals Chef
von BMG, einem der größten Musikkonzerne.
Stein hatte schon ein paar Frauen in Führungsposi-
tionen gebracht. Ihm vertraut zu Salm. Stein erin-
nert sich heute noch genau an den Moment, als der
Anruf von ihr kam. Er musste vom Motorrad ab-
steigen, so aufgelöst klang sie. »Ich sagte ihr: Es traut
dir sowieso niemand zu, als Frau und als Prinzessin
bei MTV. Du hast eine Carte blanche, einen Frei-
fahrtschein.«
Sie flog nach London und traf Brent Hansen.
Heute sagt er über das Treffen: »Die Tatsache,
dass sie eine Frau war und dazu noch selbst-
bewusst, war einfach eine gute Story.«
Heute sagt sie über das Treffen: »Es sollte eine
Frau sein, weil man eine Frau für steuerbarer hielt
als einen Mann.«

»Es traut dir sowieso niemand zu«


Christiane zu Salm leitete als erste Frau in Deutschland einen Fernsehsender. Sie wurde als Pop-Prinzessin belächelt und überholte doch die Konkurrenz.


Heute hat sie sich von der Branche abgewendet. Teil 12 der ZEIT-Serie über Pionierinnen VON MARCEL LASKUS


SERIE: DIE ERSTE (12)


Foto: Katharina Poblotzki für DIE ZEIT; ZEIT-GRAFIK/Quelle: Unternehmensangaben


keiten«, sagte ihr Vater einst. Dem Rat war sie ge-
folgt. Aber bei MTV durfte sie nun gestalten, nicht
mehr nur verwalten. Etwas erschaffen, in ihrem Stil.
Und zu Salm lernte, sich zu wehren. »Sanfter als
eine starke Verteidigung darf man nicht sein«, sagt
sie heute darüber. Dieter Gorny, den damaligen
Viva-Chef, bezeichnete sie als »Helmut Kohl des
Musikfernsehens«, weil er zu »erfolgsgesättigt« ge-
wesen sei. Und als es mal wieder um die Konkur-
renz der beiden Sender Viva und MTV ging, sagte
sie: »Wenn das Krieg bedeutet, bin ich dabei.«
Heute sagt sie dazu: »Krieg ist ein hartes Wort,
das ist martialisch. Was ich damit meinte, ist: Ich
gebe nicht auf. Ich füge mich nicht als Mädchen.«
Heute würde sie sich als Feministin bezeichnen.
»Früher wäre mir das nicht eingefallen.«
Allmählich setzte Christiane zu Salm auch pro-
grammatisch ihre eigenen Ziele bei MTV um. Sie
schmiss Modern Talking aus der Playlist, zu alt-
backen. Stattdessen: Massive Attack. Sie warb den
Programmchef von Viva ab, gab Christian Ulmen
und Markus Kavka Sendeplätze. Die Quoten wur-
den besser. Sie überholte Viva.
Doch dann ging es nicht mehr voran. »Ich
wäre gern bei MTV geblieben, aber ich kam
nicht mehr weiter.« Das habe sie Brent Hansen,
dem Europa-Chef, klargemacht, sagt sie heute.
Sie hatte gute Arbeit geleistet – deshalb wollte sie
etwas dafür bekommen. Spricht man Hansen
darauf an, sagt er: »Sie war eine tolle Managerin.
Ich hatte nicht wirklich das Gefühl, dass sie mehr
gewollt hätte.«
Zu Salm wurde vom Privatsender TM3 abge-
worben und baute daraus 9Live auf – nach den
Worten der Süddeutschen Zeitung der »überflüs-
sigste Sender des deutschen Fernsehens«. 9Live fi-
nanzierte sich über Gewinnspiele, an denen die
Zuschauer gegen hohe Gebühren teilnehmen
konnten. Christiane zu Salm, die Frau, die so gern
Bücher las und Ausstellungen besuchte, sie galt
nicht mehr als Gestalterin. Sie war nun in den
Augen vieler eine eiskalte Managerin. »Dafür habe
ich mich manchmal geschämt.«
Als 9Live 2005 von ProSiebenSat.1 geschluckt
wurde, wollte zu Salm, die den Sender zuvor pro-
fitabel gemacht hatte, in den Vorstand. »Das
klappte aber nicht«, sagt sie heute. Sie ging, wie-
der einmal. Und als sie 2007 im Vorstand des
Medienkonzerns Burda saß, verließ sie diesen
schon nach neun Monaten. »Ich wollte mich
nicht mehr fügen«, sagt sie heute.
Im Jahr 2008 schließlich, nachdem sie bei MTV,
9Live und auch bei Burda zwar sehr weit, aber nicht
mehr weitergekommen war, machte Christiane zu
Salm Schluss mit den schillernden Medien. »Ich bin
in ein Loch gefallen«, sagt sie über jene Zeit. »Dieses
Loch war tiefer, als ich gedacht hätte.« Die Partys,
die Empfänge, die Abendessen. All das, was manch-
mal nervte, aber eben oft auch ein großer Spaß
war – das war nun vorbei.
Die Ruhe verschaffte ihr Raum, über das nach-
zudenken, was sie in ihrem Leben schon immer
beschäftigt hatte, wofür zum Nachdenken aber
wenig Zeit blieb: den Tod.
Mit sechs Jahren musste sie mit ansehen, wie
ihr kleiner Bruder starb. 2007 kam sie selbst dem
Ende nah, als eine Lawine sie unter sich begrub.
Und 2010 ging ihr auch die Krebserkrankung von
Christoph Schlingensief nahe, dem sie bis zu sei-
nem Tod verbunden war.
Um all dies zu verarbeiten, begann zu Salm
2011 eine Ausbildung zur Sterbebegleiterin, ein
halbes Jahr dauert sie. Von nun an führte sie Ge-
spräche mit Menschen, deren Tod wenige Wochen
bevorsteht, sie tröstete und hörte zu. Heute mache
sie das noch immer, aber »nicht mehr so intensiv
wie vor ein paar Jahren«, sagt zu Salm.
Zu den Übungen während ihrer Ausbildung
zur Sterbebegleiterin gehörte es, dass jeder Teil-
nehmer einen Nachruf auf sich selbst verfasst.
Eine fordernde, intime Übung. In Christiane zu
Salms Buch Dieser Mensch war ich ist einer der
Sätze aus ihrem eigenen Nachruf niedergeschrie-
ben. Er lautet: »Eigentlich hätte sie gern noch
kreativ gearbeitet, weil sie darin die höchstmög-
liche Freiheit vermutete, sich ausdrücken zu kön-
nen.« Zu Salm veröffentlichte zwei Bücher über
den Umgang mit dem Tod. Sie wurden Bestseller.
Im Jahr 2016 übernahm sie den traditions-
reichen Nicolai-Verlag in Berlin, der vor allem Sach-
bücher herausgibt und den sie bis heute führt. Sie
wolle Frauen ins Programm holen, sagt sie, so viele,
wie es geht.
Ihre beiden Töchter, die sie mit ihrem zweiten
Mann bekommen hat, von dem sie mittlerweile
getrennt lebt, sind heute zehn und fünfzehn Jahre
alt. Sie wohnen bei ihr. Mit der Älteren rede sie oft
darüber, wie es ist, eine Frau zu sein. Ein Rat, den
sie ihr gibt: »Versuche, dich so weit wie möglich
den männlichen Machtstrukturen zu entziehen.«
Christiane zu Salm hat in ihrem beruflichen
Leben alles noch einmal ganz anders gemacht.
Über die Unsicherheit, die das mit sich brachte,
sagt sie: »Heute bin ich dankbar für dieses Loch.
Ich ließ zu mir kommen, was ich wirklich will.«

Die Sätze könnten beide stimmen. Was definitiv
stimmt, ist: Beinahe jeder Plattenboss und Musik-
manager zu der Zeit war ein Mann. Und kaum
einer von ihnen hatte studiert. Man fuhr Harley-
Davidson, experimentierte mit Drogen, debattierte
ausschweifend über Musik. Mit Christiane zu Salm
sollte eine Frau in den Männerladen hineingelassen
werden – wohl auch, um das Geschäft finanziell auf
die Zukunft auszurichten. Die Männer feiern die
Party, eine Frau räumt den Laden auf.
Dazu schien Christiane zu Salm bereit. »Die
Zeit bei MTV war die bisher schönste Zeit meines
beruflichen Lebens«, sagt sie. Dort habe sie die
Spannungen zwischen Künstlerischem und Kauf-
männischem mit sich selbst ausmachen können.
Mit ihrer Vertragsunterschrift wurde aus ihr
auch eine Prominente – und noch dazu eine, die
seit ihrer Heirat einen Adelstitel im Namen führte.
Der damalige Viva-Chef Dieter Gorny kanzelte sie

als »Pop-Prinzessin« ab. In Berichten über sie war
von ihren Beinen die Rede, die »länger sind als die
von Nadja Auermann«.
Diese Zuschreibungen kamen von außen. Aber
auch im Inneren, im MTV-Kosmos, von dem sie
nun Teil sein sollte, schaute man zunächst befrem-
det auf sie. Bei ihrer Antrittsrede rief Christiane zu
Salm ihren damals 80 Mitarbeitern zu, dass man
nun die Nummer eins werden müsse im deutschen
Musikfernsehen, noch vor Viva. Da kam ihr Krea-
tivchef auf sie zu und sagte: »Mach dich mal lo-
cker. Wir müssen gar nichts.«
Christiane zu Salm lernte, sich anzupassen. Auch
optisch. Nach einer durchzechten Nacht mit
Rammstein bei den MTV Europe Music Awards
1998 in Mailand kaufte sie sich quadratische Schu-
he, erzählt sie. Sie hatte keine Lust mehr auf Busi-
ness-Uniform mit dunkelblauem Blazer und Per-
lenkette. »Bau deine Karriere nicht auf Äußerlich-

Der Vergleich

5 Frauen

18 Männer sind
Geschäftsführer
und Intendanten
der 23 größten
deutschen
TV-Sender

Zuletzt erschienen: Die Schachspielerin Judit Polgár

1966
Sie wird in Mainz
geboren

Christiane zu Salm


1998
Sie wird Deutschland-Chefin
des Musiksenders MTV

2011
Sie lässt sich zur Sterbe-
begleiterin ausbilden

2016
Zu Salm übernimmt den
Berliner Nicolai-Verlag

28 WIRTSCHAFT 8. APRIL 2020 DIE ZEIT No 16

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