2020-04-08 Die Zeit

(Barré) #1

32 WISSEN 8. APRIL 2020 DIE ZEIT No 16


INFEKTION


Foto [M]: Radius Images/mauritius images


Muss ich


S


itzt es auf der Türklinke, lauert es
auf dem Griff des Einkaufswagens?
Und kann ich mich mit Corona an-
stecken, wenn ich mit Bargeld be-
zahle? Das sind die Fragen zum
Risiko einer sogenannten Kontakt-
oder Schmierinfektion. Nach allem,
was die Forschung weiß, schützen drei Dinge am
sichersten vor einer Ansteckung mit Viren: Abstand
halten, die Hände waschen und nicht ins Gesicht
fassen. Daran hat sich nichts geändert. Doch ist es
ratsam, jenseits dieser Empfehlungen weitere Vor-
sichtsmaßnahmen zu ergreifen?
Gerd Antes empfiehlt das. »Man sollte jetzt op-
timistisch an allen Schräubchen drehen und ruhig
zusätzlich das tun, wofür es aus früheren, guten
Studien Grundlagen gibt. Wenn es plausibel ist,
sollten wir nicht auf die Evidenz warten, welche
Maßnahmen welchen exakten Nutzen bei Sars-
CoV-2 haben«, sagt der Medizinstatistiker aus
Freiburg, einer der Vorreiter der evidenzbasierten
Medizin in Deutschland. »Auch wenn es nur ein
paar wenige Prozent bringt, in der Summe können
viele kleine Dinge dazu beitragen, dass wir weniger
Menschen beatmen müssen.«
Zwar spielen Kontaktinfektionen bei Sars-CoV-2
eine untergeordnete Rolle im Vergleich zur An-
steckung durch virushaltige Tröpfchen in der Luft.
Dennoch sorgte in den letzten Wochen eine Studie
für viel Aufmerksamkeit, die im New England Journal
of Medicine veröffentlicht wurde und in der die Halt-
barkeit der Viruspartikel auf Flächen untersucht
wurde. Die Forscher der National Institutes of
Health, einer Behörde des US-Gesundheitsministe-

riums, hatten dabei die Eigenschaften des neuen
Sars-CoV-2 mit denen des alten Sars-CoV-1 ver-
glichen, das im Jahr 2003 in Asien eine Epidemie
ausgelöst hatte. In ihrem Experiment trugen sie
beide Typen von Coronaviren in einer gut haltbaren
Flüssigkeit auf Plastik, Pappe und Metalle auf und
schauten, wie lange sie dort infektiös bleiben. Unter
den Laborbedingungen hielt der letzte, tapfere Rest
der eingesetzten Viren drei Tage lang auf rostfreiem
Stahl und Plastik durch. Das ist prinzipiell interes-
sant, weil diese Materialien häufig im Krankenhaus
benutzt werden. Doch der Aussagewert für die prak-
tische Alltagswelt ist sehr begrenzt: So bleibt unklar,
ob die dort gemessenen letzten Reste an Virus-
partikeln überhaupt in den menschlichen Körper
eindringen und ihn infizieren können. Ebenso wenig
weiß irgendjemand bis heute, wie groß die virale
Dosis bei Sars-CoV-2 überhaupt sein muss, um für
Menschen infektiös zu sein.
Vor wenigen Tagen veröffentlichten chinesi-
sche Forscher im Fachmagazin Lancet eine ähnlich
angelegte kleine Arbeit. Sie testeten die Stabilität
der Virusvariante Sars-CoV-2 unter künstlichen
Laborbedingungen ebenfalls auf Plastik und Stahl,
aber unter anderem auch auf Geldscheinen und
OP-Masken. Zugleich untersuchten sie, bei wel-
cher Temperatur die Viren unter optimalen – und
daher alltagsfernen – Bedingungen im Labor am
längsten infektiös bleiben. Im Zellkulturmedium
und bei vier Grad waren Reste des Sars-CoV-2
14 Tage lang nachweisbar, bei 56 Grad aber waren
die Erreger binnen einer halben Stunde vollständig
verschwunden, bei 70 Grad nach fünf Minuten.
»Der interessanteste Befund ist hier, dass sich die

Viren innen und außen an den OP-Masken länger
hielten als auf Glas oder an Geldscheinen«, so
Jonas Schmidt-Chanasit, Virologe am Bernhard-
Nocht-Institut für Tropenmedizin in Hamburg.
Doch auch diese Studie sagt über das reale Risiko
durch womöglich belastete Gegenstände in unse-
rer Umwelt nichts Verlässliches aus.
Aus den beiden erwähnten Untersuchungen ist
vor allem zu sehen: Sars-CoV-1 und -2 sind ähn-
lich stabil und deshalb wohl in ähnlichen Mengen
potenziell ansteckend. Beide kleben etwa gleich
lange an Edelstahl und Plastik. Die Tatsache, dass
sich das neue Virus Sars-CoV-2 deutlich schneller
auf der Welt verbreitet, muss also andere Gründe
haben als die Stabilität auf Oberflächen. Indirekt
stützen die Arbeiten damit die Erkenntnis, dass
das aktuelle Coronavirus deutlich ansteckender ist,
sowie die Vermutung, dass bei Sars-CoV-2 die aus-
geatmete Luft von (auch unbemerkt) Infizierten
eine große Rolle spielt.
Zudem ist ein Labor nicht die reale Umwelt,
wo UV-Licht und Wind die Viren deutlich schnel-
ler angreifen. »Um das seriös zu klären, müsste
man eine Vielzahl an Covid-19 erkrankten Patien-
ten tagelang in ihrer Wohnung verfolgen, überall
dort, wo sie sich aufhalten, Proben nehmen und
parallel schauen, wie viel infektiöses Virus in ihren
oberen Atemwegen ist«, sagt Schmidt-Chanasit.
Sein Kollege Hendrik Streeck von der Universitäts-
klinik Bonn hat das ansatzweise im Landkreis
Heinsberg versucht, einer frühen Hochburg der
Infektionen. Er nahm etwa Proben an den Tür-
klinken bei erkrankten Familien – doch fanden
sich da keine Viren, die noch vermehrungsfähig

und somit theoretisch infektiös gewesen wären.
Nun will der Bonner Forscher in einer laufenden
Studie mit anderen Methoden wie Befragungen,
Blut- und Auswurf-Tests von 1000 Personen klä-
ren, wie sich Covid-19 im Ort Gangelt im Kreis
Heinsberg über Luft und Oberflächen verbreitet
hat, um daraus Präventionsempfehlungen abzu-
leiten. Erste Ergebnisse werden in den nächsten
Tagen erwartet.
Was lässt sich für den Alltag derzeit an prakti-
schen Schlussfolgerungen ziehen – jenseits von Ab-
stand, Handhygiene und Hände weg vom Gesicht?
»Die Wahrscheinlichkeit, dass ich genau den einen
Joghurt-Becher anfasse, den ein anderer gerade an-
gehustet hat, sodass ich dabei eine infektiöse Menge
Viren auffische und mir danach gleich ins Gesicht
fasse, ist äußerst gering. Da könnte ich auch dau-
ernd überlegen, ob ich noch über die Straße gehen
kann«, sagt Schmidt-Chanasit. Wer sich damit
wohler fühle, könne die Lebensmittel eine Zeit lang
auf dem Balkon stehen lassen, bevor er sie einräumt.
Das schadet nichts. Hauptsache, man wäscht die
Hände, sobald man von draußen kommt.
Und was macht der Experte selbst? Schmidt-
Chanasit reinigt Obst und Gemüse stets mit einem
Tröpfchen Spülmittel, denn solche Detergentien
wie auch Flüssigseife zerstören Viren sofort. Studi-
en aber gibt es auch für diese Praxis nicht. Wohl
aber die Empfehlung der amerikanischen Seuchen-
schutzbehörde CDC, dass man vor der Zuberei-
tung von Essen und vor dem Essen selbst die
Hände waschen sollte. Bisher hat auch die euro-
päische Lebensmittelbehörde keine Beweise gefun-
den, dass Covid-19 durch Lebensmittel über tragen

wird. Küchenflächen, Tische und alles, was man
dauernd anfasst, regelmäßig mit Seifenlauge abzu-
wischen gehört zu den allgemeinen Regeln der
Haushaltshygiene. Und in diesen Zeiten kann es
nicht schaden, diese zu beachten.
Wer im Supermarkt oder in öffentlichen Ver-
kehrsmitteln eine OP-Maske trägt, sollte sich vor
dem Aufsetzen und vor dem Abnehmen die
Hände waschen oder desinfizieren und die Maske
am besten nur an den Bändchen hinter den Ohren
anfassen. Stoffmasken sollten gut an der Luft
trocknen. Denn sobald einfache Masken feucht
werden, nützen sie überhaupt nichts mehr. Der
Virologe Christian Drosten von der Charité er-
innerte auf Twitter gerade daran, sich aufs Bügeln
der Maskenstoffe zu besinnen. So wie es unsere
Großmütter schon getan haben, um Krankheits-
erreger in der Wäsche zu töten.
Um die Bevölkerung auf den Wegen zum Super-
markt oder zur Arbeit besser zu schützen, gäbe es
für die Politik jedenfalls noch einiges zu tun. »Aus
meiner Sicht hätte man längst an jeder Ecke
Desinfektionsspender aufstellen müssen, in jedem
Zug, in jedem Supermarkt, an jeder Ampel«, sagt
Gerd Antes. »Das kann doch nicht so schwer sein,
hierzulande eine Firma damit zu beauftragen.«
Was also tun, wenn derzeit unterwegs die Fuß-
gängerampel auf Rot steht? Den Knopf drücken?
Da scherzt der Statistiker: »Im Moment vielleicht
lieber bei Rot gehen – es kommt ja eh kein Auto.«
Allgemein gilt also für alle vorsorglichen Alltags-
maßnahmen: Schadet ja nichts, das Risiko noch
ein wenig weiter zu senken. Vorausgesetzt, die
Nebenwirkungen schaffen keine neuen Risiken.

diesen


Apfel waschen?


Auf Lebensmitteln, Geld und Türklinken – das Coronavirus findet sich überall. Doch der Konktakt mit Oberflächen birgt wenig Gefahr VON CORINNA SCHÖPS


DerSenatderFreienHansestadtBremenund
dieBremischeBürgerschaftnehmenAbschiedvon

Ehrenbürger

Prof.Dr. ReimarLüst


*25.3. 1923 †31.3. 2020

DasLand Bremenverliert mit ReimarLüsteine
herausragendeWissenschaftspersönlichkeit.Erhat
sich über Jahrzehnte bis ins hohe Lebensalter
äußerstengagiertfürdasBundesland,insbesondere
fürdie Entwicklungals anerkanntesKompetenz-
zentrum in dereuropäischen und internationalen
Raumfahrt, eingesetzt sowie aktiv am wissen-
schaftspolitischen Austausch teilgenommen. Mit
einem beispielhaften Engagementförderte er die
SchaffungvonhochqualifiziertenArbeitsplätzenam
StandortBremen.

DieGründungunddenAufbaudereuropaweitersten
privatenVolluniversitätinBremenhatReimarLüst
unterstütztundvorangebracht.ErwaralsIdeengeber
undVorsitzenderdesPlanungskomiteesanderKon-
zeptionunddemAufbauderInternationalUniversity
Bremen,heuteJacobsUniversity,maßgeblichbetei-
ligt.AlsVorsitzenderdesAufsichtsrateshatermit
ganzemHerzenundbiszuletztmitherausragendem
EngagementdieEntwicklungderUniversitätund
dieUmsetzungihrerZielevorangetrieben.

FürseinegroßenVerdienstewurdeReimarLüstim
Jahr 2001 dieEhrenbürgerwürdederFreienHanse-
stadtBremenverliehen.

BremenundBremerhavenwerdenReimarLüstein
ehrendesundseineZieleaufnehmendesAndenken
bewahren.DenAngehörigengehörtunser Mitge-
fühl.

FürdieFreieHansestadtBremen

FrankImhoff Dr.AndreasBovenschulte
Präsidentder Bürgermeister
Bremischen Präsident
Bürgerschaft desSenats

Am31.März 2020 verstarbimAltervon 97 Jahren

ProfessorDr.Dr.h.c.mult.

ReimarLüst


EmeritiertesWissenschaftlichesMitglieddes
Max-Planck-InstitutsfürextraterrestrischePhysik,Garching
PräsidentderMax-Planck-Gesellschaftvon 1972 bis 1984
EhrenmitglieddesSenatsderMax-Planck-Gesellschaft

MitReimarLüstverliertDeutschland einen herausragendenPhysiker und einenWissen-
schaftsmanager,dersichwiekaumeinandererumdenForschungsstandortDeutschlandund
desseninternationaleSichtbarkeitverdientgemachthat.

ReimarLüstwarVorsitzenderdesWissenschaftsrates(1969- 197 2),GeneraldirektorderEuropean
SpaceAgency(1984- 19 90)undPräsidentderAlexandervonHumboldt-Stiftung(1989-1999).
DieMax-Planck-GesellschafthateralsWissenschaftlerundalsihrPräsident( 19 72- 198 4)in
beispielloserWeisegeprägt.

AlsPräsidentstelltesichReimarLüstdengroßenHerausforderungen,mitdenenauchdieMax-
Planck-Gesellschaft inden unruhigen1970er Jahrenkonfrontiert war.Das Harnack-Prinzip
derExzellenzauswahlsollte beibehalten,gleichzeitigdie Instituteaberleistungsfähiger und
demokratischerausgestaltetwerden.MitzahlreichenReformvorstößen,wieetwaderkollegialen
InstitutsleitungoderderEinrichtungvonFachbeiräten,modernisierteReimarLüstdieStrukturen
derMax-Planck-Gesellschaftmutig,visionärundüberauserfolgreich.ZudemschuferdieBasisfür
diestarkeinternationaleAusrichtung,dieheutefürdieMax-Planck-Gesellschaftkennzeichnendist.

Vorder Wahl zum Präsidenten der Max-Planck-Gesellschaft hatte Reimar Lüstbereits
HerausragendesinderWissenschaftgeleistet.NachseinerPromotionbeiCarlFriedrichvon
WeizsäckerwurdeerzunächstMitarbeitervonWernerHeisenberginGöttingenundhabilitierte
sichdannanderLudwig-Maximilians-UniversitätMünchen;imJahre1 960 beriefihndieMax-
Planck-GesellschaftzumWissenschaftlichenMitglieddesMax-Planck-InstitutsfürPhysikund
Astrophysik.ErwurdezumPionierfrüherWeltraumexperimente,beispielsweisemitderMessung
desSonnenwindsmittelskünstlicherKometenausBariumatomen.AusdiesemForschungszweig
erwuchsdasMax-Planck-InstitutfürextraterrestrischePhysik,dessenGründungsdirektorReimar
Lüst 1963 wurde.

HoheundhöchsteEhrungenversuchten,demaußergewöhnlichenWirkenvonReimarLüstgerecht
zuwerden.StellvertretendgenanntseidieVerleihungdesGroßenVerdienstkreuzesmitSternund
SchulterbanddesVerdienstordensderBundesrepublikDeutschland.

DieWissenschaftinDeutschlandundganzbesondersdieMax-Planck-GesellschaftschuldenReimar
LüstgroßenDank.WirnehmenintieferVerbundenheitAbschiedvoneinemVorbildfürunsalle.

MartinStratmann
PräsidentderMax-Planck-Gesellschaft
zurFörderungderWissenschaftene.V.

DieAlfriedKruppvonBohlenundHalbach-Stiftungtrauertum

ProfessorDr.Dr.h.c.mult.


ReimarLüst


ReimarLüstwarlangjährigerWegbereiter,brillanterWissenschaftlerund
FreundderStiftung.ErgehörtedemKuratoriumderStiftungseit 1978 an,
seit 2013 alsStellvertretenderVorsitzender.ZudemleiteteerdenWissen-
schaftlichenBeiratderStiftungseitdessenEtablierungimJahr1985.

AlseinerderprofiliertestenKennerundGestalterderWissenschaftsland-
schaftinDeutschlandundinternationalhochangesehenerForscherhater
dieAlfriedKruppvonBohlenundHalbach-StiftungmehralsvierJahr-
zehntelanginihremzentralenAnliegen,derFörderungvonWissenschaft
inForschungundLehre,beraten.SeinbesonderesEngagementgaltdabei
derUnterstützungjungerWissenschaftlerinnenundWissenschaftler.Als
MitglieddesKuratoriumsundVorsitzenderdesWissenschaftlichenBeirates
haterderArbeitderStiftungaufdiesemGebietundinvielenanderen
BereichenimmerwiederneueAnregungenundImpulsezurWeiterentwick-
lunggegeben.

MitReimarLüstverliertdieAlfriedKruppvonBohlenundHalbach-Stiftung
einegroßePersönlichkeit,diemitihremaußergewöhnlichenErfahrungs-
schatzundihremstarkenCharakterdieArbeitderStiftungnachhaltig
geprägthat.DieStiftungverdanktReimarLüstaußerordentlichviel.
WirwerdenihmstetseinehrenvollesAndenkenbewahren.

DerFamiliegiltunsertiefesMitgefühl.

Prof.Dr.Dr.h.c.UrsulaGather Dr.ThomasKempf VolkerTroche
VorsitzendedesKuratoriums Vorstand Vorstand

AlfriedKruppvonBohlenundHalbach-Stiftung

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