2020-04-08 Die Zeit

(Barré) #1
GOOGLE GLASS
Die Datenbrille, die von
Thrun mitentwickelt wurde,
kam 2012 auf den Markt.
Durchsetzen konnte sie
sich bisher nicht

F LU G TA X I
Das aktuelle Projekt von
Thrun. Es funktioniert
wie eine Drohne und soll
das Auto ersetzen

ONLINE-UNI
Der Experte für
künstliche Intelligenz
gründete auch
das Unternehmen Udacity,
eine Online-Akademie

WISSEN


KÜNSTLICHE INTELLIGENZ


Früher Morgen auf dem Marktplatz von
Hildesheim. Es ist ein Mittwoch, der Corona-
Lockdown noch kein Thema. Vor der Kulisse
der historischen Gildehäuser schüttelt
Sebastian Thrun überschwänglich die Hand
eines älteren Herrn, der einen Weidenkorb
voller Einkäufe hält. »Ja, der Sebastian!«, sagt
der Mann. Thrun gibt ihm Grüße an seine
Frau mit auf den Weg – der Mann war sein
Gymnasiallehrer.

DIE ZEIT: Herr Thrun, fühlen Sie sich wie ein
Zeitreisender?
Sebastian Thrun: Es ist schön, nach langer Zeit
wieder hier zu sein. Aber ich habe nicht das Ge-
fühl, dass ich in die Vergangenheit reise.
ZEIT: Sie haben für Google die Forschungsabtei-
lung X aufgebaut, sind Erfinder des selbstfahren-
den Autos und haben mit Ihrem Unternehmen
Udacity eine Gegen-Uni gegründet. Man könnte
Sie für jemanden halten, der in der Zukunft lebt.
Thrun: Für mich liegt die Zukunft auch in Or-
ten wie Hildesheim. Technologien werden jeden
Aspekt des Lebens beeinflussen. Damit meine ich
vor allem künstliche Intelligenz. Weil Deutsch-
land eines der besten Bildungs- und Forschungs-
länder der Welt ist, wird sich das auch hier in
Hildesheim zeigen.

Wir verlassen den Marktplatz und biegen rechts
ab, gehen hinein in die breite Fußgängerzone.
Beton, Schaufenster, Nachkriegsbrutalismus.
Ab und zu ein Schild »Zu vermieten«. Thrun
bleibt abrupt vor einem Kaufhaus mit hellgrauer
Gitterfassade stehen, zeigt auf ein Geschäft.

Thrun: Was für ein Zufall: Hier war ich oft. Dort
vorne war das Kaufhaus Horten und gegenüber
ein Ladengeschäft vom Quelle-Versand. Das war
quasi der Vorgänger von Amazon (lacht). Die
haben das bloß mit der Digitalisierung nicht ganz
geschafft.
ZEIT: Sehen Fußgängerzonen heute so aus, wie
sie aussehen, weil der Online-Versand den Einzel-
handel kaputt macht?
Thrun: Der Leerstand ist bestimmt nur temporär.
Deutschland ist ein Land der großen Erfindun-
gen. Hier ist der Buchdruck erfunden worden,
der Düsenantrieb, die Glühbirne, das Telefon, die
Röntgenröhre, Aspirin. Da wird es auch neue
Ideen für den Handel geben.
ZEIT: Was wollten Sie damals bei Quelle?
Thrun: Da stand ein Commodore 64, an dem ich
nach der Schule stundenlang saß, wochenlang
habe ich so das Programmieren gelernt. Die An-
gestellten waren supernett. Denen war natürlich
klar, dass dieser Zehnjährige den Computer nicht
kaufen würde. Aber das hat sie nicht gestört.

Der zehnjährige Commodore-Tipper von
damals ist heute einer der bekanntesten
Informatiker der Welt, Autor des Standard-
werks »Statistical Machines«, zeitweilig Vize-
präsident bei Google, wo er Street View und
die Datenbrille Google Glass entwickelt hat.

ZEIT: Nach Ihrem Informatikstudium sind Sie
sofort in die USA gegangen. Warum?
Thrun: Wenn man in einer beschaulichen Stadt
wie Hildesheim groß wird, möchte man irgend-
wann seine Flügel spreizen, um die Welt zu

sehen. Ich habe zunächst in Bonn promoviert;
als ich 1995 fertig war, wurde mir in Pittsburgh
in den USA eine Assistenzprofessur angeboten.
Da war ich 27 Jahre alt. Eine solche Chance
hätte ich damals in Deutschland nicht be-
kommen.
ZEIT: Promoviert haben Sie über maschinelles
Lernen – jene Technik, die die aktuelle KI- Eupho-
rie beflügelt. Das war vor 25 Jahren ...
Thrun: ... viel zu früh!
ZEIT: Zu früh?
Thrun: Die Idee damals war die gleiche wie heute,
nämlich die Arbeit des menschlichen Gehirns
nachzuahmen. Dazu programmierten wir soge-
nannte neuronale Netze. Aber in den Neunzigern
waren diese sehr klein, weil die Computer so
langsam waren. So wie Froschgehirne. Und weil
Froschgehirne viel kleiner sind als menschliche
Gehirne, sind Frösche nicht besonders klug.
Heute kommen die Computer schon eher ans
menschliche Gehirn heran.
ZEIT: Aber noch nicht ganz!
Thrun: Das ist auch nicht wünschenswert. Aber
viele Menschen, auch hoch qualifizierte wie Ärzte
und Rechtsanwältinnen, machen beruflich tag-
ein, tagaus das Gleiche. Computer könnten ihnen
wiederkehrende Aufgaben abnehmen – dann
bleibt wieder mehr Zeit für Kreativität.

Wir laufen auf die Bundesstraße 1 zu. Sie
führt von der polnischen Grenze bis nach
Aachen. Einige Abschnitte der B 1 gehören zu
den meistbefahrenen Straßen Deutschlands.
Durch die Hildesheimer Innenstadt verläuft
sie vierspurig.

ZEIT: Brauchen wir solche Verkehrsschneisen
künftig noch?
Thrun: Im Moment brauchen wir noch Straßen,
obwohl wir wissen, wie ineffizient sie sind.
ZEIT: Was meinen Sie damit?

Eine Fußgängerampel. Rot. Wir bleiben
stehen.

Thrun: Gerade haben wir zum Beispiel einen
Konflikt. Wir wollen in eine andere Richtung als
die Autos und müssen deswegen anhalten. Das ist
ineffizient. Auch unsere Landnutzung ist ineffi-
zient. Flächen, auf denen wir schöne Parks an-
legen oder Wohngebäude errichten könnten, sind
mit Straßen und parkenden Autos übersät. Und
das liegt daran, dass unser Verkehr am Boden
bleibt.
ZEIT: Was wäre besser?
Thrun: Fliegen. Ich arbeite seit einigen Jahren an
dem, was manchmal als »fliegendes Auto« be-
zeichnet wird. Das sind Fluggeräte, die so ähnlich
wie Helikopter vertikal in die Luft steigen und
dann in etwa 500 Metern Höhe wesentlich
schneller und auf direktem Weg zum Ziel fliegen.
ZEIT: Und hier in der Tempo-30-Zone, zwischen
Bäumen und Häusern, soll so ein fliegendes Auto
landen?
Thrun: Ja, Platz ist genug. Nur der Begriff Auto
ist eigentlich nicht korrekt, weil diese Systeme
keine Räder haben. Das Flugtaxi landet dann
hier, so leise, dass es keinen stört. Man steigt ein,
gibt das Ziel vor, sagen wir, den Campus der Hil-
desheimer Uni, und legt die drei Kilometer Luft-
linie dorthin in weniger als einer Minute zurück.

ZEIT: Heute braucht man mit dem Stadtbus eine
Viertelstunde. Viel langsamer, aber dafür sicherer
als ein Flugtaxi, oder?
Thrun: Überhaupt nicht. Der Luftraum ist viel
größer als die Fläche am Boden. Außerdem befin-
den sich alle Dinge, mit denen man kollidieren
könnte, hier unten: Fahrradfahrer, Schulkinder,
andere Autos, Schilder, Bordsteine. In der Luft
gibt es fast keine Hindernisse. Und man muss
nicht darauf vertrauen, dass Fahrer sich an die Re-
geln halten. Die Taxis fliegen computergesteuert,
auf Himmelsautobahnen mit hundert Spuren.
Und bereits in der herkömmlichen Luftfahrt sind
Abstürze sehr selten geworden.
ZEIT: Ihre kalifornische Vision vom Flugtaxi
gedank lich mit der deutschen Realität zu verein-
baren fällt schwer. Hier gibt die Regierung gerade
viel Geld dafür aus, ein paar Elektroautos auf die
Straßen zu bekommen ...
Thrun: Perfekt! Das ist der richtige Weg.
ZEIT: Aber ökologisch ist der Einsatz von Elektro-
autos erst dann sinnvoll, wenn sie mit grünem
Strom betrieben werden. Von dem haben wir
schon heute viel zu wenig. Wie passt das mit elek-
trischen Flugtaxis zusammen?
Thrun: Solarenergie ist zum Teil schon günstiger
als Strom aus Kohle. Bei jeder Innovation über-
wiegen anfangs die Skeptiker. Ich fahre seit 2013
ein Elektroauto, ich liebe das sehr. Und die Flie-
ger, die wir bauen, benötigen pro Kilometer und
Person nur ungefähr ein Drittel der Energie, die
mein Tesla verbraucht.
ZEIT: Spalten Flugtaxis die Gesellschaft? Die
Reichen fliegen, die Armen stehen weiterhin im
Stau?

Quellen


Die beiden TED-Talks von Sebastian Thrun,
»What AI is« und »Rethinking the Automobile«,
gibt es bei YouTube

Das Statistische Bundesamt hat ausgewertet,
wie sich die Zahl der Verkehrstoten
über die vergangenen Jahre entwickelt hat

Thrun hielt anlässlich des Erhalts der
Ehrendoktorwürde an der Uni Hildesheim die
Rede »Inventing the Future«

Links zu diesen und weiteren Quellen
finden Sie bei ZEIT ONLINE unter
http://www.zeit.de/wq/2020-16


  1. APRIL 2020 DIE ZEIT No 16 35


Fortsetzung auf S. 36

Der Stanford-Professor und ehemalige Google-Vizepräsident Sebastian Thrun, 52, in einem Serverraum seiner Alma Mater, der Universität Hildesheim

Foto: Mario Wezel für DIE ZEIT; ZEIT-Grafik: Myriam Rathfelder


AUTONOMES FAHREN
Effizientere Wege,
weniger Unfälle, das ist
das Versprechen des
fahrerlosen Autos

»In der Luft gibt es keine Hindernisse«


Sebastian Thrun ist einer der Stars des Silicon Valley. Er hat das fahrerlose Auto miterfunden und entwickelt gerade Flugtaxis.


Unsere Reporter haben ihn dort getroffen, wo alles begann: Im niedersächsischen Hildesheim

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