2020-04-08 Die Zeit

(Barré) #1
die Kapitalströme strebt dieses Virus nach Aus-
breitung, nicht nach Profit. Und so hat es unge-
wollt die Fließrichtung umgekehrt. Es spottet aller
Einwanderungskontrolle, Biometrik, digitalen
Überwachung und jeder sonstigen Art Datenana-
lyse, hat – bisher – die reichsten, mächtigsten
Nationen der Welt am härtesten getroffen und so
den Motor des Kapitalismus plötzlich zum Still-
stand gebracht. Vielleicht nur vorübergehend, aber
zumindest so lange, dass wir uns dessen Bestand-
teile genau ansehen, uns ein Urteil bilden und ent-
scheiden können, ob wir bei der Reparatur helfen
oder uns lieber nach einer besseren Maschine
umsehen möchten.
Die Offiziellen, die versuchen, diese Pande-
mie in den Griff zu bekommen, sprechen von
Krieg. Dabei nehmen sie den Begriff nicht ein-
mal im übertragenen Sinne, sondern meinen ihn
ganz wörtlich. Aber würde es sich wirklich um
einen Krieg handeln, wer wäre dann besser vor-
bereitet als die USA? Würden ihre Frontsoldaten
nicht Handschuhe und Schutzmasken benöti-
gen, sondern Gewehre, gelenkte Bomben, Bun-
kerbrecher, U-Boote, Kampfflugzeuge und
Atombomben, gäbe es dann Engpässe?
Abend für Abend sehen sich einige von uns
vom anderen Ende der Welt aus die Pressekon-
ferenzen des Gouverneurs von New York an und
sind auf eine schwer erklärliche Weise gebannt.
Wir verfolgen die Entwicklung der Statistiken
und hören Berichte über überforderte Kranken-
häuser in den USA, über unterbezahlte, über-
arbei te te Pflegekräfte, die Schutzmasken aus
Müllsäcken und alten Regenjacken herstellen
müssen, die alles aufs Spiel setzen, um den Kran-
ken zu helfen. Berichte über Bundesstaaten, die
gezwungen sind, ge gen ein an der um Beatmungs-
geräte zu bieten, über Ärzte, die entscheiden
müssen, welche Patienten an ein Be atmungs-
gerät angeschlossen werden und welche man
sterben lässt. Und wir sagen uns: »Du meine
Güte! Das in Amerika!«
Und was ist mit meinem Land, dem an
Armen reichen Indien, das irgendwo zwischen
Feudalherrschaft und religiösem Fundamentalis-
mus, Kastensystem und Kapitalismus hängt und
von rechten Hindu-Nationalisten regiert wird?
Am 11. März erklärte die Weltgesundheitsorga-
nisation Covid-19 zur Pandemie. Zwei Tage
später, am 13. März, ließ das indische Gesund-
heitsministerium verlauten, es handele sich
»nicht um einen gesundheitlichen Notstand«.
Am 19. März wandte sich dann schließlich der
Premierminister, Narendra Modi, an die Nation.
Viel Hausaufgaben hatte er nicht gemacht: Er
guckte sich die Vorgehensweisen einfach bei
Frankreich und Italien ab. Er erklärte uns die
Notwendigkeit des »Social Distancing« (leicht
nachvollziehbar für eine Gesellschaft, die derart
vom Kastensystem durchdrungen ist) und rief
eine eintägige »Ausgangssperre des Volkes« für
den 22. März aus. Darüber, was seine Regierung
angesichts der Krise zu tun gedachte, sagte er
nichts. Doch er forderte die Menschen auf, auf
ihre Balkons zu kommen und Glocken zu läuten
und auf Töpfe zu schlagen, um dem medizini-
schen Personal die Ehre zu erweisen. Er erwähn-
te nicht, dass Indien bis zu diesem Moment

Schutzbekleidung und Beatmungsgeräte expor-
tiert hatte, statt sie für das medizinische Personal
und die Krankenhäuser des Landes zu behalten.
Es verwundert nicht, dass Modis Appell
begeistert aufgenommen wurde. Es gab Mär-
sche, bei denen die Teilnehmer auf Töpfe schlu-
gen, Volkstänze und Prozessionen. Nicht gerade
Social Distancing. In den Tagen darauf sprangen
Männer in Fässer voller heiligem Kuhdung, und
Anhänger der Regierungspartei BJP gaben Par-
tys, bei denen Kuh-Urin getrunken wurde.
Zahlreiche muslimische Organisationen wollten
sich nicht übertrumpfen lassen: Sie erklärten,
der Allmächtige sei die Antwort auf das Virus,
und riefen die Gläubigen auf, in großer Zahl in
die Moscheen zu kommen.
Am 24. März um 20 Uhr trat Modi erneut
im Fernsehen auf und gab bekannt, dass ab
Mitternacht für ganz Indien ein Lockdown gel-
te. Die Märkte würden geschlossen. Öffentli-
cher und Individualverkehr würden untersagt.
Wie Modi erklärte, traf er diese Entscheidung
nicht nur als Premierminister, sondern auch als
unser Familienältester. Wer sonst könnte ohne
Rücksprache mit den Bundesstaaten, die sich
mit den Folgen würden aus ein an der set zen müs-
sen, bestimmen, dass eine Nation von 1,38 Mil-
liar den Menschen in den Lockdown gehen soll


  • ohne jegliche Vorbereitung und innerhalb von
    vier Stunden? Seine Methoden vermitteln ent-
    schieden den Eindruck, dass Indiens Premier-
    minister die Bürger für eine feindliche Macht
    hält, die man überrumpeln und überraschen
    muss und der auf keinen Fall zu trauen ist.
    Während eine entsetzte Welt zuschaute, offen-
    barte sich Indien in seiner ganzen Schande – seiner
    brutalen strukturellen, sozialen und wirt schaft-
    lichen Ungleichheit, seiner Gefühllosigkeit und
    Gleichgültigkeit gegenüber Leid. Der Lockdown
    funktionierte wie ein chemisches Experiment, bei
    dem Verborgenes plötzlich sichtbar wird. Geschäf-
    te, Lokale, Fabriken und der Bausektor wurden
    geschlossen, und während sich Wohlhabende und
    Mittelschichten in ihre geschlossenen Wohnanla-
    gen zurückzogen, fingen unsere Städte und Mega-
    städte an, ihre Einwohner aus der Arbeiterschicht,
    die Wanderarbeiter, auszustoßen wie unerwünsch-
    te Substanzen. Viele wurden von Arbeitgebern und
    Vermietern vertrieben. Millionen verarmter, hung-
    riger, durstiger Menschen, Junge und Alte, Männer,
    Frauen, Kinder, kranke Menschen, blinde Men-
    schen, Menschen mit Behinderungen, die sonst
    nirgendwo hinkonnten und keine öffentlichen
    Verkehrsmittel zur Verfügung hatten, machten sich
    auf den langen Fußmarsch nach Hause in ihre
    Dörfer. Tagelang marschierten sie, von Delhi aus
    in Richtung Badaun, Agra, Azamgarh, Aligarh,
    Lucknow, Gorakhpur – Hunderte Kilometer weit.
    Einige von ihnen starben unterwegs.
    Ihnen war klar, dass sie zu Hause womöglich
    langsam verhungern würden. Vielleicht war ih-
    nen auch klar, dass sie möglicherweise das Virus
    mitbringen und ihre Familie anstecken würden,
    ihre Eltern und Großeltern in der Heimat.
    Doch sie brauchten so dringend ein kleines biss-
    chen Vertrautheit, Unterschlupf und Würde,
    außerdem Essen, wenn nicht gar Liebe. Einige
    wurden unterwegs brutal zusammengeschlagen


4 POLITIK 8. APRIL 2020 DIE ZEIT No 16


Durch das Tor des Schreckens


W


er kann noch den Begriff
»viral gehen« verwenden,
ohne dass es ihn leicht
schaudert? Wer kann noch
irgendetwas betrachten –
einen Türgriff, einen Kar-
ton, eine Tüte Gemüse –,
ohne sich vorzustellen, wie es darauf von diesen
unsichtbaren, nicht toten, nicht lebendigen, mit
Saugnäpfen übersäten formlosen Tüpfelchen wim-


melt, die nur darauf warten, sich in unserer Lunge
festzusetzen? Wer kann noch daran denken, wie er
einen Unbekannten küsst, in den Bus steigt oder sein
Kind zur Schule schickt, ohne dabei wirklich Angst
zu bekommen? Wer kann an ganz alltägliche Freu-
den denken, ohne dabei die Risiken abzuwägen? Wer
von uns ist kein Möchtegern-Epidemiologe, -Viro-
loge, -Statistiker und -Prophet? Welcher Wissen-
schaftler oder Arzt betet nicht insgeheim für ein
Wunder? Welcher Priester sucht – zumindest insge-

heim – sein Heil nicht bei der Wissenschaft? Und
wer freut sich, auch wenn sich das Virus weiter aus-
breitet, nicht unbändig über das zunehmende Vogel-
gezwitscher in den Städten, die an Straßenkreuzun-
gen tanzenden Pfauen und die Stille am Himmel?
Das Virus hat sich ungehindert entlang der Wege
von Handel und internationalem Kapital bewegt.
Wegen der furchtbaren Krankheit, die es mit sich ge-
bracht hat, sitzen Menschen in ihren Ländern, ihren
Städten und ihren Wohnungen fest. Doch anders als

Desinfektion beim
Betreten eines
Krankenhauses in
Pune

Foto: Pratham Gokhale/Hindustan Times/Getty Images

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