2020-04-08 Die Zeit

(Barré) #1

und gedemütigt von der Polizei, die Befehl hat-
te, die Ausgangssperre streng durchzusetzen.
Junge Männer wurden gezwungen, sich hinzu-
hocken und wie Frösche auf der Autobahn zu
hüpfen. Vor der Stadt Bareilly wurde eine
Gruppe zusammengetrieben und mit einem
Desinfektionsmittel besprüht. Die Regierung
befürchtete, die flüchtenden Menschen würden
das Virus in die Dörfer tragen. Und so schloss
sie ein paar Tage später die Grenzen zwischen
den Bundesstaaten sogar für Menschen, die zu
Fuß unterwegs waren. Menschen, die schon
einen tagelangen Marsch hinter sich hatten,
wurden gestoppt und mussten in Lager in den
Städten zurückkehren, die sie gerade zwangs-
weise verlassen hatten.
Als die Massenwanderungen in Delhi
anfingen, konnte ich mit dem Presseausweis
einer Zeitschrift, für die ich häufig schreibe,
nach Ghazipur fahren, das an der Grenze zwi-
schen Delhi und dem benachbarten Bundes-
taat Uttar Pradesh liegt. Die Szenerie war bib-
lisch. Oder vielleicht auch nicht, selbst in der
Bibel kommen solche Menschenmengen nicht
vor. Der Lockdown, mit dem das Einhalten
von räumlichem Abstand durchgesetzt werden
sollte, hatte genau das Gegenteil
bewirkt: Verdichtung in unvorstell-
barem Ausmaß.
Das gilt auch innerhalb der indi-
schen Städte. Die Straßen mögen
menschenleer sein, doch die Armen
sind in beengten Unterkünften in
Slums und Baracken eingesperrt.
Jeder, der unterwegs mit mir
sprach, machte sich Sorgen wegen des
Virus. Doch es war weniger real und
in ihrem Leben weniger präsent als
drohende Arbeitslosigkeit, Hunger
und Polizeigewalt. Unter all den Men-
schen, mit denen ich an jenem Tag
redete – darunter auch eine Gruppe
muslimischer Schneider, die vor weni-
gen Wochen ein gegen Muslime gerichtetes Po-
grom überlebt hatten –, gab es einen Mann,
dessen Worte mir besonders nahegingen. Er hieß
Ramjeet und war Schreiner, und er hatte vor,
ganz bis nach Go rakh pur an der Grenze zu Ne-
pal zu gehen. »Vielleicht hat niemand Modi von
uns erzählt, als er das hier entschieden hat. Viel-
leicht weiß er nicht von uns«, sagte er. »Uns«, das
sind rund 460 Millionen Menschen.
Die Bundesstaaten haben (wie in den USA
auch) in der Krise mehr Herz und Verständnis
gezeigt als die Zentralregierung. Gewerkschaf-
ten, Privatleute und hilfsbereite Gruppen vertei-
len Nahrungsmittel und Notverpflegung. Die
Regierung in Delhi reagiert nur langsam auf ihre
verzweifelten Bitten um finanzielle Unterstüt-
zung. Wie sich herausstellte, hat der Nationale
Hilfsfonds des Premierministers keine flüssigen
Mittel zur Verfügung. Stattdessen strömt Geld
von Wohltätern in einen etwas mysteriösen neu-
en »PM CARES«-Fonds. Es sind abgepackte
Mahlzeiten aufgetaucht, die Modis Konterfei
tragen. Außerdem teilte der Premierminister sei-
ne Yoga-Videos. Darin führt ein computer-
animierter Modi mit Traumfigur Yoga-Haltun-


gen vor, die Menschen helfen sollen, mit der
Belastung durch die Selbstisolation fertigzuwer-
den. Dieser Narzissmus ist zutiefst beunruhigend.
Unterdessen, in der zweiten Lockdown-
Woche, sind Versorgungsketten unterbrochen,
Medikamente und lebensnotwendige Güter wer-
den knapp. Tausende Lkw-Fahrer sind auf den
Fernstraßen gestrandet und haben nur wenig
Wasser und Essen. Ernten müssten eingebracht
werden und verfaulen langsam. Die Wirtschafts-
krise ist da. Die politische Krise geht weiter. Die
ton angebenden Medien haben Covid in ihre un-
aufhörliche bösartige Kampagne gegen Muslime
integriert. Die islamische Organisation Tablighi
Jamaat, die vor Verhängung des Lockdowns ein
Treffen in Delhi abgehalten hatte, stellte sich als
»superspreader« heraus. Dies wird ausgenutzt, um
Muslime zu stigmatisieren und zu dämonisieren.
Es wird suggeriert, Muslime hätten das Virus
erfunden und in einer Art von Dschihad vor-
sätzlich verbreitet.
Die staatlichen Krankenhäuser Indiens sind
schon mit den fast eine Million Kindern über-
fordert, die jedes Jahr an Durchfall und Man-
gelernährung sterben, mit den Hunderttausen-
den Tuberkulose-Patienten (ein Viertel aller
Fälle weltweit), mit einer riesigen
Bevölkerungsgruppe, die aufgrund
von Anämie und Mangelernährung
gefährdet ist, weil zahlreiche leichte
Erkrankungen bei ihr tödlich ver-
laufen können. Mit einer Krise, die
auch nur annähernd ein Ausmaß
annimmt wie derzeit in Europa
oder den USA, können die Klini-
ken unmöglich fertigwerden. Die
gesamte normale Gesundheitsver-
sorgung ist mehr oder weniger still-
gelegt, denn die Krankenhäuser
wurden für das Virus reserviert.
Das Traumazentrum des renom-
mierten All India In sti tute of Me-
dical Sciences in Delhi ist geschlos-
sen, mehrere Hundert Krebspatienten, die
sogenannten Krebsflüchtlinge, die um das riesi-
ge Krankenhaus herum auf den Straßen leben,
wurden wie Vieh vertrieben.
Es werden Menschen zu Hause krank werden
und sterben. Ihre Geschichten werden wir viel-
leicht nie hören. Vielleicht schaffen sie es nicht
einmal bis in die Statistiken. Wir können nur
hoffen, dass die Stu dien stimmen, nach denen
das Virus kaltes Wetter mag (was allerdings an-
dere Wissenschaftler bezweifeln). Nie zuvor hat
sich ein Volk so irrational und so sehr nach
einem brennend heißen, brutalen indischen
Sommer gesehnt.
Was ist die Sache, die uns da passiert ist? Es ist
ein Virus, ja. Für sich allein steckt darin noch
kein moralischer Auftrag. Aber es ist definitiv
mehr als ein Virus. Einige glauben, dass Gott uns
auf diese Weise zur Vernunft bringen will. Ande-
re, dass es eine Verschwörung der Chinesen ist,
die die Weltherrschaft übernehmen wollen.
Was auch immer es ist, das Coronavirus hat
die Mächtigen in die Knie gezwungen und die
Welt zum Stillstand gebracht, wie nichts sonst es
vermocht hätte. Unsere Gedanken rasen noch

Indiens Regierung macht das Riesenland dicht, die Armen werden heimatlos. Die profilierteste


Autorin des Landes, ARUNDHATI ROY, über Ungerechtigkeit und Hoffnung in den Zeiten der Pandemie


immer hin und her, der Verstand sehnt sich nach
einer Rückkehr zur »Normalität«, versucht unsere
Zukunft mit unserer Vergangenheit zu vernähen
und weigert sich, den Riss wahrzunehmen. Aber
der Riss ist da. Und inmitten dieser furchtbaren
Verzweiflung gibt er uns eine Chance, noch einmal
über die Weltuntergangsmaschine nachzudenken,
die wir für uns gebaut haben.
Nichts wäre schlimmer, als wieder zur Normalität
zurückzukehren. In der Geschichte haben Seuchen

Menschen gezwungen, mit der Vergangenheit zu
brechen und sich ihre Welt neu zu entwerfen. Das ist
bei dieser Pandemie nicht anders. Sie ist ein Portal, ein
Tor zwischen einer Welt und der nächsten.
Wir können uns entscheiden, hindurchzuge-
hen und dabei die Kadaver unserer Vorurteile
und unseres Hasses hinter uns herzuschleppen,
unsere Habgier, unsere Datenbanken und toten
Ideen, unsere toten Flüsse und verqualmten Him-
mel. Oder wir können leichten Schrittes hin-

durchgehen, mit wenig Gepäck, bereit dazu, uns
eine andere Welt vorzustellen. Und bereit, für sie
zu kämpfen.

© Arundhati Roy 2020. Auf Englisch erschienen
in der »Financial Times« vom 4. April

Aus dem Englischen von Bettina Röhricht

A http://www.zeit.deeaudio

Solidaritätsgeste
im Kampf gegen
das Virus:
Einwohner von
Allahabad leuchten
mit ihren
Mobiltelefonen

Arundhati Roys
jüngster Roman,
»Das Ministerium
des äußersten
Glücks«, ist auf
Deutsch 2017 im
S. Fischer Verlag
erschienen

Fotos: Sanjay Kanojia/AFP/Getty Images (gr.); David Levenson/Getty Images (kl.)

ANZEIGE


  1. APRIL 2020 DIE ZEIT No 16 POLITIK 5

Free download pdf