2020-04-08 Die Zeit

(Barré) #1
Wenn er nicht gerade mit seinen Waffen rumballert, schmust
Joe Exotic, 57, mit seinen erstaunlich zahmen Großkatzen

Große Katzen, große Egos


Alle sprechen derzeit über die Netflix-Produktion »Tiger King«. Was taugt


die aberwitzige Doku-Serie über den Privatzoobesitzer Joe Exotic? VON IJOMA MANGOLD


I


n den USA gibt es eine gar nicht so kleine
Szene von Großkatzen-Liebhabern. Sie besit-
zen Tiger und Löwen in ihren Hintergärten,
betreiben private Zoos, liefern Instagram-
Storys vom Kuschelleben mit ihren Liebsten,
handeln mit Welpen – und wenn ein etwas vor-
schneller Tigerfreund feststellt, dass aus seinem sü-
ßen Babyleoparden ein ganz schöner Fleischfresser
geworden ist, dann werden die Tiere bestenfalls ans
Wildkatzen-Tierheim übergeben, schlimmstenfalls
jedoch heimlich getötet.
Weltweit leben etwa 4000 Tiger in freier Wildbahn.
Allein in den USA, schätzt man, werden zwischen
5000 und 10.000 Tiger privat gehalten. Die Netflix-
Doku-Serie Tiger King, die gerade weltweit begeistert,
wirft ein grelles Licht auf diese Szene. Wer sich nicht
für Tiere interessiert, hingegen für den menschlichen
Zoo, wird von dieser Serie nicht genug bekommen,
denn man kann hier einige Exemplare der Spezies
Mensch kennenlernen, von denen man zu Recht sagen
darf: »Das kannst du dir nicht ausdenken!«
Voyeurismus und empirische Soziologie fallen hier
zusammen. Im Mittelpunkt steht Joe Exotic, auf den
ersten Blick ein Bilderbuch-Redneck: voller Tattoos
und Piercings, Waffennarr, immer hat er einen Colt
im Halfter, wenn er sich auf dem weitläufigen Grund-
stück seines Privatzoos in Oklahoma bewegt. Er ist
aber auch schwul (und dieses »aber« ist gewissermaßen
schon die Bankrotterklärung des Rezensenten vor der
Inkommensurabilität des Phänomens!), lebt polygam,
denn er hat zwei Männer geheiratet, beziehungsweise
alle drei haben sich gegenseitig geheiratet. Joe ist ein
Narziss mit Charisma, und die Leute kommen in
seinen Zoo, nicht nur um die Wildkatzen, sondern

auch um ihn zu sehen. 2018 hat er sich in den Vor-
wahlen der Libertarian Party um die Kandidatur des
Gouverneurs von Oklahoma beworben.
Aber vor allem hat Joe Exotic, wie es sich für einen
Helden gehört, einen Feind: Carole Baskin, Tierrechts-
aktivistin. Ihre tiefste Überzeugung: Großkatzen ge-
hören nicht in Privathaushalte. Der Handel mit Tiger-
babys sollte gesetzlich verboten werden. Sie will Joe
Exotic das Handwerk legen. In Florida betreibt sie ein
Wild Cat Rescue: Hier leben die Wildkatzen, die sie
vor Leuten wie Joe gerettet hat.
Zwischen beiden herrscht Krieg. Es ist auch ein
Medienkrieg, sie bedrohen und beschimpfen einander
in Videoclips auf Social Media. Joe hat Carole-Baskin-
Puppen, auf die er mit großkalibrigen Waffen ballert.
Sein Anwalt sagt dazu (mit einem Schulterzucken, das
so viel heißt wie: Es ist, wie es ist): »Meinungsfreiheit.«
Caroles Schwachstelle: Ihr zweiter Mann, ein Millio-
när, ist 1997 nach heftigen Ehestreitigkeiten inklusive
Morddrohungen spurlos verschwunden – ihre Gegner
sagen, sie habe die Leiche an ihre Tiger verfüttert. Die
Polizei hat die Ermittlungen jedoch eingestellt.
Das Geile: Mit bloßem Auge ist kein Unterschied
zwischen Joe Exotics und Carole Baskins Zoo zu er-
kennen. Beide verdienen mit ihnen gutes Geld. In
beiden dürfen Besucher die Tiere knuffen (als Laie
denkt man: Das muss doch mal schiefgehen, aber es
geht fast nie schief ). Beide haben ihre Fangemeinde.
Beide lieben Großkatzen. Nur dass Carole alles im
Namen eines höheren ethischen Prinzips tut. Den
Endkampf, da spoilert man nichts, denn damit setzt
die Serie ein, gewinnt Carole: Joe Exotic wird 2019
schuldig gesprochen, die Ermordung der Widersache-
rin in Auftrag gegeben zu haben (erfolglos allerdings).

Das Erstaunlichste an dieser Serie: dass es sie gibt.
Dass alle diese unglaublichen Dinge nicht nur passiert,
sondern auch gefilmt worden sind. Als wäre die Ka-
mera das Auge Gottes: stets Zeuge aller Handlungen
seiner Geschöpfe. In Wahrheit – und das macht die
Serie so flirrend vieldeutig – gibt es zwei Kameras:
Denn in der Doku-Serie von Eric Goode und Rebecca
Chaiklin tritt der Reality-Show-Produzent Rick Kirk-
ham auf, der seinerseits aussieht, als hätten die Brüder
Coen vergessen, ihn für Fargo zu casten. Cowboyhut,
schwerer Raucher, eine Stimme wie eine Blechgieß-
kanne. Über Jahre hat er Joe mit der Kamera auf
Schritt und Tritt begleitet. Bis es zum Zerwürfnis
kommt. Eines Morgens ist sein Studio auf Joes Ge-
lände abgebrannt. Fast alles Filmmaterial: futsch.
In Wahrheit geht es in diesem Zoo nicht um Groß-
katzen, sondern um narzisstische Egos, die nur einen
Wunsch kennen: dass das eigene Leben nicht sinnlos,
sondern eine gute Geschichte ist. Die Tiger und Löwen
sind nur das Medium zu diesem Ziel. Und vielleicht
ist die Serie selbst nicht so unschuldig, vielleicht ist die
Kamera der eigentliche Verführer, der die Protago-
nisten erst zu voller Form auflaufen lässt, denn sie leben
für die Kamera. Big Brother, nur ohne Container.
Der wahre Widersacher, den es zu besiegen gilt, ist
die Bedeutungslosigkeit. Joe Exotic mag jetzt hinter
Gittern sitzen (und seine Anrufe aus der Zelle klingen
erbarmungswürdig), aber eigentlich hat er sein Ziel
erreicht. Indem wir Zuschauer fasziniert dieser Net-
flix-Serie folgen, erfüllen wir seinen größten Traum:
Seine Geschichte ist jetzt wirklich bigger than life.
Die kulturkritische These jedenfalls, wonach alles
immer uniformer und normierter werde, hinkt: Auch
bei den Rednecks herrscht diversity.

Herr G., hätte mein Kolumnen-Ich zu seinem
Therapeuten gesagt, wenn es mit ihm hätte
sprechen können, Herr G., diese Tage sind
ohne Zeit und werden nur notdürftig von einer
Ordnung zusammengehalten, die durch nichts
bestätigt wird außer dadurch, dass man selbst
sie festgelegt hat, womit man natürlich mit ein,
zwei Sätzen bei der Ausgedachtheit von jeder
Ordnung ist, was, da kennen Sie sich aus, ein
Gedanke ist, der, wenn man ihn denkt, ganz
schnell dazu führt, dass man sich fragt, ob man
noch alle Tassen im Schrank hat beziehungs-
weise ob der Schrank überhaupt noch da ist.
Herr G., hätte ich weiter gesagt, wenn ich mit
ihm hätte sprechen können, in diesen Tagen
ohne irgendwas waren Sie der letzte Fixpunkt,
an dem ich irgendwas, das heißt konkret mich,
hätte aufhängen können, und jetzt verschwin-
den Sie auch noch?
Herr G. hatte mir eine Mail geschrieben, in
der stand, dass er krank sei (kein Corona), wes-
wegen unsere Video-Konfi leider ausfallen
müsse, und dabei hätte ich
ihm so viel zu erzählen ge-
habt. Herr G., hätte ich
gesagt, unsere Wohnung ist
ein komplett aus den Fu-
gen geratener Saustall, ein
isolierter Saustall, und ich
bin genau genommen auch
nichts anderes mehr als ein
in mir isolierter Saustall,
der seinen Saustall für be-
sonders isoliert hält, und
weder das eine noch das
andere kriege ich in den
Griff. Kriegen Sie das jetzt
für mich sofort in den
Griff, jetzt hat die Stunde
der Therapeuten geschla-
gen, DIENEN Sie, hätte
ich gesagt, Beethovens
Neunte spielen reicht nicht.
Ich diene nicht, ich
muss Geld verdienen, hät-
te er dann hoffentlich ge-
antwortet und trotzdem
gefragt, womit genau er
denn dienen solle, worauf-
hin ich tief Luft geholt und gesagt hätte, Herr
G., es läuft so: Nachdem ich gestern oder vor-
gestern meinem Mann vorgeworfen hatte, dass
diese Krise ohne Krieg (keine Ahnung, von
welchem der Experten diese Formulierung kam,
die hatte mir das Internet rasch in unseren 95.
Ehekrieg hineinsouffliert, das Internet, das ich
dauernd anguckte, weil ich ja nicht dauernd
meine Familie angucken konnte, weswegen mir
also dauernd das Internet in den Kopf schwapp-
te, das sich von meinem Kopf kaum unterschei-
den ließ) – nachdem ich meinem Mann, der
wieder mal die Küche nicht ordentlich aufge-
räumt hatte, vorgeworfen hatte, dass diese
Krise offenbare, auf wessen Schultern diese
Ordnung stehe, schnappte ich meine Atem-
schutzmaske, rannte auf meinen Aussichts-


posten (Balkon, 1 qm) und brüllte einige Male
»Coronavirus«, so wie es Cardi B kürzlich im
Internet auf sehr moralstabilisierende Weise
getan hatte. Dann regte ich mich, meinen Bal-
kon abschreitend, über joggende Menschen auf
und darüber, dass ich noch nicht zum Joggen
gekommen war, denn auch Joggen war ja nun-
mehr ein Akt der Solidarität (Volksgesundheit),
wie überall nachzulesen war. Aber wie unsoli-
darisch war das volksgesunde Joggen von den
Joggenden gegenüber etwa einer alleinerziehen-
den Mutter, die während ihres Corona-Sabba-
ticals bestimmt niemals zum Joggen kam? Oder
zur Niederschrift einer Hegel-Biografie. Oder
zur Entfernung der Raufasertapete. Auch mir
war, wie ich auf meinem Balkon marschierend
feststellte, nichts davon gelungen, und ich
hätte mich auf der Stelle hingelegt und wäre nie
wieder aufgestanden, wenn der Balkon nicht
zu klein gewesen wäre. Stattdessen erblickte ich
einen Jogger, der sich ZU VORNEHM für eine
Atemschutzmaske war und der an einer Per-
sonengruppe, die aus ein-
deutig zu vielen Personen
bestand, vorbeilief und
sie dabei anschwitzte und
anatmete, und ich war in
diesem Moment kurz da-
vor, ein Beweisfoto plus
Kommentar mit dem Hin-
weis auf das Allgemein-
wohl dieses inzwischen für
Kassiererinnen und Pflege-
kräf te klatschenden Landes
der Polizei zuzuspielen.
Aber mir kam ein anderer
Jogger zuvor, der kopf-
schüttelnd an der Perso-
nengruppe und dem Jog-
ger ohne Atemschutzmas-
ke vorbeijoggte, und dieser
andere Jogger trug eine
Atemschutzmaske, aller-
dings eine, die medizini-
schem Personal vorbehal-
ten war, wie ich fassungslos
feststellte. Ob dieser selbst-
gewisse Jogger auch nur ein
Mal an unser aller Wohl
gedacht hatte, fragte ich mich auf meinem Auf-
sichtsposten. Waren seine Gedanken auch bei
den Vermieter*innen der Adi das- Stores (Kata-
rina Barley), bei den Junkies im Frankfurter
Bahnhofsviertel, die sich partout nicht an die
Abstandsregeln hielten (Bild-Zeitung), bei den
Koksvertickern, die in dieser Krise kaum Um-
satz machten, bei all den Bürgerinnen und
Bürgern, die ihre Affären nicht mehr sehen
konnten? Was war mit ihnen?
Aber Ihr Ordnungsbewusstsein, hätte Herr
G., nachdem er mir zugehört hatte, dann ge-
sagt, ist doch ungeheuer intakt. Und ich hätte
mit dem Kopf geschüttelt und geantwortet, ja,
es ist ein Corona-Märchen.

A http://www.zeit.deeaudio

Ungeheuer


intakt


Wie unsere Kolumnistin einmal versuchte,


ihren inneren Saustall in Ordnung zu bringen


MEIN LEBEN ALS FRAU

An dieser Stelle erscheinen
im Wechsel vier Kolumnen. Lesen Sie nächstes Mal
»Verhaltenslehren« von Andreas Bernard

VON ANTONIA BAUM

Illustration: Rachel Levit für DIE ZEIT (l.); Foto: 2020 Netflix

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