2020-04-08 Die Zeit

(Barré) #1

SINN & VERSTAND DIE PHILOSOPHISCHE SEITE 49


Sympathie bedeutet, den Schmerz des anderen zu verstehen und miteinander verbunden zu sein

Was ist menschlich?


Im indischen Denken ist Mitgefühl das höchste Gut. Wer es stärken will,


begegnet dem dunklen Anderen VON SUDHIR KAKAR


I


ch möchte beginnen, indem ich an die
ersten Zeilen von Mahatma Gandhis Lieb-
lings-Bhajan erinnere, dem Lied, mit dem
er seine morgendlichen Gebetstreffen be-
gann: »Nenne nur den einen Vaishnava,
der den Schmerz der anderen versteht.«
Für mich spricht dieser berühmte Bhajan,
den der heilige Gujarati-Dichter Narsinh Mehta im



  1. Jahrhundert schrieb, vom Inbegriff der Huma-
    nität: Sie zeigt sich in einem Menschen, der den
    Schmerz des anderen versteht. Das primäre Kenn-
    zeichen der Menschlichkeit ist mithin sympathy, das
    Mitgefühl. Ich verstehe Mitgefühl als ein übergrei-
    fendes Konzept, das viele Erscheinungsformen ha-
    ben kann: das Zusammengehörigkeitsgefühl, das
    Gefühl der Verwandtschaft, das sich auch auf die
    nicht menschliche Welt erstreckt, das Mitleid und
    das Einfühlungsvermögen, bei dem wir nicht nur
    für den anderen und mit ihm fühlen, sondern sogar
    in ihn hinein.
    Mit seiner Vorliebe steht Gandhi in der Traditi-
    on einiger der größten indischen Ikonen. Buddha
    im alten Indien, Kabir und Nanak im mittelalter-
    lichen Nordindien, Tukaram in Maharashtra,
    Basava in Karnataka, die tamilischen Heiligen und
    Gandhis Zeitgenosse Rabindranath Tagore im
    modernen Indien: Sie alle waren der Ansicht, dass
    das Mitgefühl der höchste Wert unserer Zi vi li sa-
    tion ist. Für Tagore etwa versuchte die indische
    Kultur, anders als der Westen mit seiner Kultivie-
    rung der Macht, durch die Stärkung des Mit gefühls
    eine Beziehung zur Welt, zur Natur und zu den
    Lebewesen aufzubauen.
    »Indisch« und »westlich« sind natürlich keine
    monolithischen Kategorien. Auch im Westen hat es
    Denker wie Edmund Burke und Adam Smith oder
    Arthur Schopenhauer gegeben, die Mitleid zur
    Grundlage aller Moral erklärten. Auch sie empfanden
    den traditionellen indischen Wert des Mitgefühls,
    der Liebe in ihrer höchsten Form, als unverzichtbar
    für den sozialen Zusammenhalt. Und wir alle kennen
    die berühmte Losung der Französischen Re vo lu tion,
    die heute für ein universelles Streben steht: liberté,
    égalité, fraternité. Interessant ist, dass die Brüderlich-
    keit den letzten Platz auf dieser kurzen Liste ein-
    nimmt und im zeitgenössischen westlichen Diskurs
    in der Tat gedämpft, wenn nicht gar an den Rand
    gedrängt worden ist.
    Es geht mir hier nicht darum, den Stellenwert der
    Macht und die Wahrheit, die in der Gerechtigkeit
    liegt, zu bestreiten. Ich glaube aber, dass die Ethik des
    Mitgefühls das Streben nach Gerechtigkeit mäßigen
    muss. In Tagores Worten: »Die schöpferische Kraft,
    die für die wahre Einigung in der menschlichen
    Gesellschaft gebraucht wird, ist Liebe; Gerechtigkeit
    ist nur ihr Begleitelement, wie das Schlagen der
    Trommeln zu einem Lied.«
    Mitgefühl, der wichtigste Bestandteil der Mensch-
    lichkeit, ist die höchste Manifestation der mensch-
    lichen Seele. Vielleicht ist der Aufstieg zum Gipfel des
    Mitgefühls nur reifen Mystikern und Heiligen mög-
    lich. Man kann die spirituelle Reise unseres Lebens
    mit einer Bergbesteigung vergleichen, bei der es auf
    dem Weg zum Gipfel mehrere Basislager gibt. Das
    erste Lager, von dem aus man den wolkenverhangenen
    Gipfel noch nicht sehen kann, ist die Toleranz. Sie
    bedeutet zumindest, dass wir dem anderen einen Ver-
    trauensvorschuss gewähren. Das zweite, etwas höher
    gelegene Lager lässt sich als Mitleid verstehen, wäh-
    rend das dritte und letzte Lager, von dem aus man den
    Gipfel erklimmt, die Empathie ist, das »Einfühlen«
    in eine andere Person, obwohl man sich natürlich
    auch in die Natur einfühlen kann. Der spirituelle
    Aufstieg nährt also zunehmend tiefe Gefühle der
    liebenden Verbundenheit. Die meisten von uns
    dürfen sich glücklich schätzen, wenn sie von den
    Basislagern der Toleranz, des Mitleids und des Ein-
    fühlungsvermögens einen Blick auf den Gipfel des
    Mitgefühls werfen können. Allein in unserer immer
    umfassenderen Sympathie zeigt sich das wahre Maß
    unseres menschlichen Fortschritts.
    Je lebendiger unsere Individualität ist, desto we-
    niger müssen wir unser individuelles Selbst in einen
    Panzer der Ichbezogenheit hüllen, und umso eher
    können wir es durchlässig machen und so am Spiel
    dessen teilnehmen, was wir die »Seele« nennen. Für
    mich ist die Frage nach dem Schicksal der Seele nach
    dem Tod, die unsere Religionen so wichtig nehmen,
    nicht besonders interessant. Wenn wir die Seele nicht
    zu Lebzeiten aus ihrem Gefängnis des individuellen
    Selbst befreien, das von Wächtern umstellt ist, be-
    zweifle ich, dass es nach dem Tode Hoffnung auf ihre
    Erlösung gibt. Mit Meister Eckhart gesprochen: Die
    Seele ist da, wo Gott Mitleid bewirkt.
    Wenn Mitgefühl das erste Anzeichen der
    Menschlichkeit ist, gibt es dann auch ein zweites?
    Die Antwort findet sich in den nächsten Zeilen
    von Narsinh Mehtas Bhajan: Die tätige Sorge um
    das Wohlergehen anderer Menschen ist das zweite
    Merkmal der Humanität. Mitgefühl zu entwickeln
    allein reicht nicht aus, sondern schließt die Verant-
    wortung ein, dieses im täglichen Leben sowie in
    der Gesellschaft und ihren Institutionen praktisch
    wirksam werden zu lassen.


In den tonangebenden Strömungen des moder-
nen Denkens nehmen weder Altruismus noch Sym-
pathie einen sicheren Platz ein. Was aber, wenn die
übliche Dichotomie zwischen Altruismus und
Egoismus falsch ist? Ich würde behaupten, dass die
beiden nicht im Gegensatz zu ein an der stehen, son-
dern sich ergänzen. Nach der Goldenen Regel – »Be-
handle andere so, wie du von ihnen behandelt werden
willst« – zu handeln kann nicht nur für den spirituel-
len Fortschritt eines Menschen, sondern auch für sein
psychologisches Wohlbefinden entscheidend sein.
Die Buddhisten sagen es klar: Auf die eigenen Be-
dürfnisse zu achten verursacht Leid; andere wert-
zuschätzen bringt Glück.
Dieses Plädoyer für den Altruismus entspringt
nicht einer ideologischen Haltung, die nur durch
weise Sprüche gestützt wird – die wahr sein können
oder auch nicht –, sondern hat sehr wohl die Fak-
ten auf seiner Seite. Und hier spreche ich von kon-
kreter körperlicher Gesundheit. Laut einer großen
Längsschnittstudie in den Vereinigten Staaten leb-
ten diejenigen, die ihren Angaben zufolge Ehepart-
nern, Freunden und Verwandten Hilfe und Unter-
stützung gewährten, länger als diejenigen, die we-
niger gaben, während das Ausmaß an Hilfe, das die
Menschen nach eigenem Bekunden erhielten, kei-
nen Zusammenhang mit ihrer Langlebigkeit auf-
wies. Anders gesagt: Geben ist seliger denn Neh-
men. Sogar ein Zeuge altruistischen Verhaltens zu
werden erhöht die physiologisch vorteilhaften
Werte des »Liebeshormons« Oxytocin. Ich sage an-
gehenden Psychotherapeuten oft, dass sie einen
Beruf ergreifen, der sich finanziell zwar nicht lohnt,
der aber zu den besten Antidepressiva gehört, die
ich kenne.
Ich bin mir bewusst, dass ein Aufruf zum Alt-
ruismus zum Wohle der Gesellschaft einen großen
Teil jüngerer (und älterer) Menschen misstrauisch
macht, und das zu Recht. Der englische Dichter
William Blake hat gewarnt: »Wer einem anderen
Gutes tun will, muss es im Detail tun: Das Allge-
meinwohl ist das Plädoyer des Schurken, Heuchlers
& Schmeichlers ...« Diese Mahnung gilt im Jahr
2020 weltweit genauso, wie sie für Großbritannien
im 18. Jahrhundert galt, als sie zuerst ausgespro-
chen wurde.
Doch ich möchte mich der unbequemeren Frage
zuwenden, ob mein Gedankengang nicht eine Leer-
stelle hat: Wenn die Menschlichkeit, die nach meiner
Definition aus Mitgefühl und altruistischem Ver-
halten besteht, ein so willkommener und grundlegen-
der Teil des Menschseins ist, warum brauchen wir

dann die Unterstützung von Buddha, Tagore, Gandhi
und den vielen Heiligen aus anderen Kulturen? Als
Psychoanalytiker muss ich mir schließlich der mäch-
tigen Kräfte des Begehrens, der Aggression und des
Narzissmus bewusst sein, die ebenso tief in der Psyche
verwurzelt sind wie die Menschlichkeit und eine
ständige Bedrohung für sie darstellen.
Darauf würde ich antworten, dass die Mensch-
lichkeit auf einem Feld reifen muss, das mit Unkraut
überwuchert ist. Wir werden als Menschen geboren,
aber es bedarf einer lebenslangen Anstrengung, um
menschlich zu werden. Menschlichkeit ist nie eine
einmalige Errungenschaft, sondern wird ständig auf
die Probe gestellt – wie in der gegenwärtigen Pande-
mie, die soziale Iso la tion erfordert, während die
Menschlichkeit verlangt, in der Distanz aufs Engste
verbunden zu sein.

A


ls Psychoanalytiker kann ich zur För-
derung der Menschlichkeit beitragen,
indem ich frage: Wer oder was ist der
Andere, von dem wir in unseren Be-
obachtungen über Mitgefühl und
Altruismus sprechen? Der Andere ist nicht nur eine
objektive Größe, sondern auch eine subjektive,
imaginäre Kon struk tion, die wir dem objektiven
Anderen überstülpen.
Irgendwann sehr früh im Leben kündigt das »Ich
bin!« des Kindes die Geburt der Individualität an.
Das »Ich bin« unterscheidet mich von allem, was
nicht ich bin, also vom Anderen. Von frühester Kind-
heit an ist der junge Mensch mit der Schwierigkeit
konfrontiert, negative Gefühle zu beherrschen: Wut,
Gier, Egoismus, rücksichtslose Sexualität. Vor die
Aufgabe gestellt, widersprüchliche Bilder zu integrie-
ren – des Selbst (des »guten«, liebenden und des
»schlechten«, wütenden Kindes) sowie der Eltern (des
guten, fürsorglichen und des hasserfüllten, frustrie-
renden Elternteils) –, bleibt dem sich entwickelnden
Ich des Kindes keine andere Wahl: Es muss die
schlechten Bilder als nicht zum Selbst gehörig ver-
leugnen und einem unheimlichen Anderen in der
Psyche zuschreiben. Das aber heißt: Wenn das An-
derssein ein Teil der Psyche ist und sie von Beginn
des Lebens an prägt, dann hat dieses unheimliche
Andere dort einen ständigen Wohnsitz.
Eine Möglichkeit, wie wir versuchen, diesen
»schlechten« Anderen loszuwerden, ist die Projekti-
on, das heißt, ein schlechtgemachter Anderer wird
zum Speicher unerwünschter Aspekte des Selbst.
Das aufschlussreichste Beispiel für das Wirken der
Projektion ist der Konflikt zwischen Gruppen und

Gemeinschaften, bei dem die jeweils andere Grup-
pe zu einem Reservoir (wie der Psychiater Vamik
Volkan es nennt) für die verleugneten schlechten
Bilder wird. Diese Reservoirs – Muslime für Hin-
dus, Araber für Juden, Tibeter für Chinesen und
umgekehrt – sind auch bequeme Speicher für späte-
re Wutausbrüche und hasserfüllte Gefühle, für die
es keinen klaren Adressaten gibt. Da die meisten
»schlechten« Bilder von der gesellschaftlichen Miss-
billigung der »Animalität« des Kindes herrühren,
die sich in seiner Aggressivität und Schmutzigkeit
äußert, ist es vor allem diese Animalität, die ein gu-
tes Selbst als Mitglied einer moralischen Gemein-
schaft verleugnen und in die »Reservoirgemein-
schaft« auslagern muss.
Wir sehen dies immer wieder in modernen und
historischen Konflikten zwischen Gemeinschaften.
Im Frankreich des 16. Jahrhunderts zum Beispiel
»wussten« die Katholiken, dass die Protestanten
nicht nur schmutzig und teuflisch waren, sondern
dass ihr heiliges Abendmahl zügellos und alkohol-
geschwängert vollzogen wurde, eine Orgie, und dass
sie nach lüsternem Psalmengesang die Kerzen lösch-
ten und wahllos Geschlechtsverkehr hatten. Die
Protestanten ihrerseits »wussten«, dass der katho-
lische Klerus Hunderte von Frauen für die Priester
und Kanoniker bereithielt, die darüber hinaus auch
noch größtenteils Sodomiten waren.
Das »reine« Wir gegen ein »schmutziges« Sie zu
positionieren ist aus vielen vergleichbaren Situationen
auf der ganzen Welt vertraut. »Dreckiger Nigger«
und »dreckiger Jude« sind in den Vereinigten Staaten
gängige Schimpfwörter. Viele Chinesen betrachten
die Tibeter als Ungewaschene, die ständig nach Jak-
butter stinken. In ruandischen Radiosendungen, die
die Hutu zum Massaker an den Tutsi aufhetzten,
wurden Letztere immer wieder als Ratten und Ka-
kerlaken bezeichnet, als Lebewesen, die man mit Ab-
wasserkanälen verbindet. Und in meiner eigenen
Studie über den hinduistisch-muslimischen Konflikt,
Die Gewalt der Frommen, erwies sich das hinduisti-
sche Bild von muslimischen Männern als eines der
Grausamkeit, der zügellosen Sexualität und einer
Schmutzigkeit, die weniger eine Frage der kör per-
lichen Sauberkeit als vielmehr die einer inneren Ver-
schmutzung infolge des Verzehrs tabuisierter Speisen
ist. Für die Muslime wiederum haben die Hindu-
Männer keine Kontrolle über ihre Triebe und sind
von animalischer Gerissenheit und unmenschlicher
Grausamkeit.
Kein Wunder, dass »Liebe deinen Nächsten wie
dich selbst« zu einem Gebot gemacht werden

musste. Der Nächste ist ein potenzieller Gegner –
zu ignorieren, wenn er weit genug weg ist, schlecht-
zumachen, wenn er zu sichtbar wird, und anzugrei-
fen, wenn er sich einzumischen droht.
Die Menschlichkeit zu fördern heißt daher, die
Erkenntnis zu verbreiten, dass der dunkle Andere
in unserer Psyche ein Teil des Erbes unserer Ent-
wicklung ist, der nur um den Preis verleugnet
werden kann, dass er dann Demagogen für ihre
spalterischen Zwecke zur Verfügung steht. Es
heißt, die Erkenntnis zu vermitteln, dass dieses
Erbe nicht unser Schicksal ist, dass wir unseren
dunkleren Trieben nicht Folge leisten müssen:
Zwischen Nächstenliebe und Nächstenhass gibt es
etliche Wahlmöglichkeiten, die von verschiedenen
Schattierungen der Freundschaftlichkeit über To-
leranz bis hin zu Gleichgültigkeit reichen und je-
dem von uns zu Gebote stehen. Religionen haben
verschiedene Methoden, Rituale, meditative Tech-
niken entwickelt, die darauf abzielen, unsere
Fähigkeit zur Anteilnahme zu erweitern. Die
buddhis tische Mit ge fühls me di ta tion etwa be-
zweckt dies ausdrücklich. Eine weitere Möglich-
keit kann durchaus eine ständige und bewusste
Praxis des Mitleids sein, bis sie zu einer tief ver-
wurzelten Form der Annäherung an alle Lebewe-
sen wird, die William Blakes Mahnung beachtet,
Gutes »im Detail« zu tun.
Die Psychoanalyse kann im Ideal des autono-
men Individuums ein Sprungbrett sehen, zum für-
sorglichen Individuum zu werden. Indem ich diese
Fürsorglichkeit für wünschenswert halte, folge ich
weder religiösen Moralvorschriften noch welt-
lichen Ideologien, sondern der Natur der mensch-
lichen Realität: dass jeder von uns tief in andere
Menschen eingebettet und auch mit der belebten
und unbelebten Natur verbunden ist, in einer
Ordnung, die nur durch unsere Menschlichkeit
aufrechterhalten wird.

Aus dem Englischen von Michael Adrian

Der indische Psychoanalytiker und
Schriftsteller Sudhir Kakar, 81,
lebt in Goa. Zu seinem Werk zählen
Bücher über Gandhi, Tagore und
das Kamasutra

Die nächsten Seiten Sinn & Verstand
erscheinen am 14. Mai

Fotos: Rosanna Graf; Alberto Estevez/EPA/Shutterstock (u.)
Free download pdf