2020-04-08 Die Zeit

(Barré) #1

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DEUTSCHLAND,


S


eit heute darf ich wieder andere
Menschen sehen als nur meinen
Mann. Wir sind vor zwei Wo-
chen von Sizilien zurückgekommen.
Mein Mann und ich waren in Modica,
als die italienische Regierung die Aus-
gangssperre verhängte. Auf den Stra-
ßen patrouillierte die Polizei, gespens-
tisch. Als wir in Deutschland gelandet
sind, war ich sehr erleichtert. Trotz-
dem haben wir uns vorsorglich erst
mal isoliert. Und ich habe gleich an-
gefangen, täglich zu laufen. Erst hatte
ich furchtbaren Muskelkater. Aber ich
bin froh, rauszukommen – denn jetzt
im Homeoffice rede ich sehr, sehr viel.
Mehr als je zuvor. Beim Laufen genie-
ße ich die Stille. Niemand spricht. Ich
auch nicht.
Ute, Dekanin an der Hochschule für
Angewandte Wissenschaften Hamburg

I


ch bin 55 und gehöre damit ja
schon zur Risikogruppe. Also bin
ich jetzt etwas vorsichtiger und
versuche, mich fit zu halten. Ich gehe
jeden zweiten Tag zehn Kilometer
laufen. Hier an der Alster hängen
Schilder an den Bäumen, auf denen
steht, dass alle zwei Meter Abstand
wahren sollen. Das gilt auch fürs
Überholen! Aber daran hält sich nie-
mand, ständig kommt mir jemand viel
zu nahe. Da muss ich mich manchmal
echt zusammenreißen. Denen geht es
immer noch nur um ihre Trainings-
zeiten; darum, wie schnell sie sind. Sie
haben nicht verstanden, dass nun an-
dere Dinge zählen – auch beim Sport:
Der soll guttun und glücklich machen.
Carola, Marketingmanagerin in einem
Fitnessstudio

E


igentlich spiele ich drei- bis vier-
mal die Woche Fußball und
gehe ins Fitnessstudio. Kann ich
ja jetzt alles nicht mehr. Deshalb laufe
ich, wenn ich mal dringend Ruhe
brauche. Meine Exfreundin und ich
haben uns vor drei Monaten getrennt.
Sie hat die Möbel und die Wohnung
behalten, ich schlafe seitdem bei
Freunden auf der Couch. Zum Glück
habe ich vor drei Wochen eine eigene
Wohnung gefunden – aber ich habe
nichts, was ich dort hineinstellen
könnte, außer meiner Playstation,
dem Fernseher und einem Couch-
tisch. Ich habe mir Möbel im Internet
bestellt, aber bis die da sind, kann es
dauern.
Kevin, BWL-Student

H


eute bin ich mit dem kleinen
Bruder meiner Lebensgefährtin
hier, um gemeinsam zu laufen.
Er ist 13 Jahre alt und macht seit sieben
Jahren Judo, inzwischen auch als Wett-
kampfsport. Deshalb muss er sein Ni-
veau halten, auch wenn er jetzt nicht
zum Training kann. Wahrscheinlich
habe ich mich noch nie so viel bewegt
wie im Moment: Ich gehe laufen und
richtig viel spazieren. Das ist ein guter
Ausgleich zum Homeoffice. Ich arbeite
in der Recyclingbranche, man könnte
sagen, ich bin Schrotthändler. Auch in
meiner Firma wird schon über Kurz-
arbeit gesprochen. Auf ein paar Euro
kann ich sicher verzichten, aber deut-
lich weniger Geld wäre schlecht. Bis die
Lage sich entspannt, harre ich mit mei-
ner Freundin einfach auf dem Sofa aus.
Wir haben noch so viele Nächte, noch
so viele Sommer zusammen.
Saman, Exportleiter in einem
Recyclingunternehmen


I


ch studiere in Wien Zahnmedizin
und bin für den Geburtstag meiner
Mutter nach Hamburg gekom-
men. Weil ich krank war, bin ich län-
ger geblieben, und dann plötzlich:
Grenzen dicht! Also bin ich immer
noch bei meinen Eltern, zusammen
mit meinen drei Schwestern, die noch
zu Hause wohnen. Mit dem Joggen
habe ich vor drei Wochen angefangen,
es ist die einzige Zeit, in der ich richtig
alleine bin. Trotzdem genieße ich es
sehr, bei meiner Familie zu sein, ich
war lange weg. Ich müsste jetzt eigent-
lich meine Doktorarbeit verteidigen,
aber das wurde verschoben. Wann kann
ich zurück nach Österreich? Wann
werde ich arbeiten? Alles ist ungewiss.
Sogar die Moscheen sind zu. Die Pre-
digten und Vorträge finden jetzt über
Zoom statt. Witzig, dass sogar die Älte-
ren sich plötzlich damit auskennen.
Ich vermisse meine Moschee sehr, das
Gemeinschaftsgefühl. Bald beginnt
der Fastenmonat, auch der wird ganz
anders sein.
Zeynab, Zahnmedizin-Studentin

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Die Welt steht still, die Menschen rennen – das halbe Land scheint auf einmal zu joggen. Warum?



  1. APRIL 2020 DIE ZEIT No 16

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