2020-04-08 Die Zeit

(Barré) #1

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60 8. APRIL 2020 DIE ZEIT No 16


I


ch hätte mir lieber eine Hütte im
Wald gezimmert, dachte Arne
Bleiweiß, während er die Böden
seiner Wohnung abschliff, aus der
er vor ein paar Monaten erstaun-
lich problemlos zwei Langzeitmie-
ter herausgekündigt hatte. Wenn
das mal kein Eigenbedarf war, dann wusste
er auch nicht.
Schleifstaub tanzte in der Sonne. Licht-
durchflutet nannte man Wohnungen dieser
Art im Maklerjargon. Er zog sich die Atem-
schutzmaske unters Kinn, setzte die Wasser-
flasche an und trank sie exakt zur Hälfte leer.
Das Problem mit dem Wald wären seine
Allergien gewesen. Bleiweiß war nicht für den
Wald gemacht. Er würde sich zu Tode kratzen
oder vorher ersticken. Wobei es ihn gereizt
hätte, sich selbst zu versorgen, sich das Fi-
schen oder Jagen beizubringen, in kürzester
Zeit, denn Bleiweiß war der geborene Auto-
didakt. Er zog sich die Atemmaske wieder
über die untere Gesichtshälfte und betrach-
tete sich in dem staubigen Spiegel, der an der
Wand lehnte. Auch als Chirurg konnte er sich
sehen. Bleiweiß konnte sich in so vielen Rol-
len sehen. Das hatte man ihm schon immer
übel genommen.
Warum er seine alte Musik so lange nicht
mehr gehört hatte, nicht einmal beim Joggen,

fragte er sich, bis ihm einfiel, dass er diese Zeit
für Podcasts genutzt hatte. Er erinnerte sich
an keinen dieser Podcasts, selbst an den Pod-
cast hörenden, joggenden Mann erinnerte er
sich nur schwach. Doch an den Jungen, der
mit ungefähr fünfzehn Jahren Van Morrison
entdeckt hatte, würde er sich noch als De-
menter erinnern. Es klingelte, und er wun-
derte sich, dass er es trotz Musik und Lärm-
schutzkopfhörern hörte. Vielleicht hatte er
es auch gefühlt. Die Wahrscheinlichkeit, eine
eigene Bestellung zu erhalten oder ein Paket
für die Nachbarn nicht anzunehmen, war
fifty-fifty verteilt. Doch die Lieferung war für
ihn: Anzüge, Hemden, sein Smoking. Aus
der Epoche der Bälle und Empfänge, die nun
vorübergehend vorüber war. Er gab dem
Mann Trinkgeld, einen Zehner, er hatte es
nicht kleiner. Der rauschebärtige Junge glotz-
te ihn an, als stimme etwas nicht mit ihm.
Wieso sollte ein schweißglänzender Mann
mit einer Atemmaske, der eigenhändig seine
Wohnung sanierte, nicht zu einem anderen
Zeitpunkt einen Tuxedo tragen und ihn an-
schließend in die Reinigung geben? Eng-
stirnigkeit, wohin man schaut, dachte Blei-
weiß und schloss die Tür.
Der blöde und im wahrsten Sinne des
Wortes dahergelaufene Lieferant hatte ihn
aus seinem angenehm neutralen Gemüts-

zustand gerissen. Er ging den langen Flur
entlang und betrachtete sein Werk: Die
frisch geschliffenen Dielen befriedigten
ihn zwar, aber was hatten sie mit ihm zu
tun? Er war eher der Parketttyp. Was be-
deutete dieser Aufwand überhaupt? Dass
er diese vor Jahren ohne jede Emotion ge-
kaufte Wohnung nicht etwa als Über-
gangs-, sondern als Langzeitlösung be-
trachtete? Er kratzte sich am Hinterkopf,
dann trank er die zweite Hälfte der Wasser-
flasche leer und pfefferte sie gegen die
frisch gespachtelte Wand, was sie unbe-
schadet überstand. Er hob sie auf und warf
sie so lange, bis sie schließlich zerbrach.
Die Wahrheit war: Bleiweiß war nie ein
Choleriker gewesen.
Und jetzt? Seine kreativen Stunden, den
Höhepunkt seines Tages, hatte er in den
Abend verlegt. Ein Gewinn. Fast ein Fest, zu
dem er sich durch das Repertoire diverser
Online-Weinhändler probierte. Es war vier
Uhr nachmittags. Scheiß drauf, dachte Blei-
weiß, nahm sein Diktafon und sprach hinein.
Die Wahrheit entsteht dadurch, dass wir
sie in Umlauf bringen. Es gibt so viele Wahr-
heiten, wie es Menschen gibt. Umso mehr
Menschen sich auf eine gemeinsame Wahr-
heit einigen, desto beständiger wird diese. Er
spulte zurück, löschte und sprach wieder.

Die Wahrheit ist, dass wir alle lügen.
Ständig.
Er legte das Diktafon beiseite, um sich
auf achtzehn Uhr freuen zu können. Die
Frage, wie er seine Tage verbringen würde,
war ihm neu gewesen. Er war nie schlafen
gegangen, ohne zu wissen, wie sein nächs-
ter Tag aussehen würde. Dann war er von
hundert auf null gegangen. Er kannte nur
die umgekehrte Richtung und benutzte
diesen Terminus häufig. Er hatte in sein
Leben gepasst, ein Leben, in dem man sich
aus Zeitknappheit auf dem Weg zum Flug-
hafen rasieren musste. Und dann, zack,
fand er sich plötzlich in einem Leben wie-
der, in dem es irrelevant geworden war, ob
er überhaupt noch duschte.
Bleiweiß holte Schaufel und Besen und
kehrte die Scherben zusammen. Selbstver-
ständlich duschte er weiterhin. Er behielt
auch seinen Kleidungsstil bei, ließ nur die
Krawatten weg, trug gebügelte Hemden und
Hosen, sogar Schuhe, in denen er jederzeit
vor die Presse hätte treten können. Stattdes-
sen lag er in diesem Aufzug auf dem Sofa und
las Klassiker, die er meinte, versäumt zu ha-
ben. Auch den Mann ohne Eigenschaften, bei
dem er wieder nicht über das erste Drittel
hinauskam, aber immerhin. Die Frage war
doch, ob man nur aus einer sozialen Ver-

pflichtung heraus zivilisiert ist und sich ohne
andere Menschen komplett gehen lassen
würde. Nein. Dis zi plin, stellte Bleiweiß fest,
wenn er nach wie vor jeden Morgen um halb
sechs aufstand, ist dann nicht mehr nur
wichtig, sondern überlebenswichtig.
Klausur nannte er seinen Zustand, wenn
er mit den wenigen Leuten sprach, die sich
noch bei ihm meldeten. »Sabbatical« hatte er
in seine Abwesenheitsnotiz geschrieben. Ein
Wort, bei dem er sich früher auf Reisen ge-
sehen hatte oder als Gastprofessor. Beides
hätte ihm gefallen, beides hätte ihm zugestan-
den. Nun also nicht. Bleiweiß wartete auf
seine Verhandlung, Bleiweiß saß fest. Vorü-
bergehend. Die Wahrheit war: Alles war vo-
rübergehend. Auch die Funkstille mit seiner
Frau. Wer sich scheiden lassen wollte, sollte
sich melden. Zumindest über einen Anwalt.
Nicht so Bianca. Vielleicht war das ein gutes
Zeichen, dachte er manchmal.
Ganz zu Anfang, in den ersten Wochen,
als er zum ersten Mal in seinem Leben
nicht am Leben teilhaben wollte, hatte er
kurz an ein Kloster gedacht. Ein Ort, an
dem man niemanden abwies, an dem man
nicht über andere richtete. Eine friedliche,
im besten Fall sogar schweigsame Männer-
gemeinschaft, in der Bleiweiß sich in der
Rolle desjenigen visualisiert hatte, der den

Abwesenheitsnotizen


Von Jackie Thomae


Das Dekameron-Projekt / Folge 3


Als im 14. Jahrhundert in Europa die Pest wütete, schrieb der italienische Schriftsteller Giovanni Boccaccio seine
Novellensammlung »Das Dekameron«, eines der berühmtesten Werke der Weltliteratur. Zehn junge Edelleute
fliehen vor der Seuche in ein Landhaus bei Florenz und vertreiben sich die Zeit, indem sie einander Geschichten erzählen.

Wir haben zehn Autorinnen und Autoren um eine zeitgenössische Neuauflage gebeten. Während der kommenden
Wochen werden sie uns Geschichten erzählen, die um die großen Dinge des Lebens kreisen:
Liebe und Tod, Freundschaft und Macht. Die dritte Folge stammt von Jackie Thomae. Ihr Thema: Wahrheit.

Es schreiben: Nora Bossong, Theresia Enzensberger, Nora Gantenbrink, Karen Köhler,
Eva Menasse, Tilman Rammstedt, Leif Randt, Ingo Schulze, Clemens J. Setz, Jackie Thomae

Illustration: Felix Eckardt für DIE ZEIT
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