2020-04-08 Die Zeit

(Barré) #1

ENTDECKEN


62 8. APRIL 2020 DIE ZEIT No 16


1829/2020: Frühling


Er ist’s
Frühling lässt sein blaues Band
Wieder flattern durch die Lüfte;
Süße, wohlbekannte Düfte
Streifen ahnungsvoll das Land.
Veilchen träumen schon,
Wollen balde kommen.


  • Horch, von fern ein leiser Harfenton!
    Frühling, ja du bist’s!
    Dich hab’ ich vernommen!
    Eduard Mörike, Riedlingen


ZEITSPRUNG

Ein morgendlicher Traum: Ich habe ihn ge-
troffen! Ein warmes Gedankenbad umgibt
mich: angekommen bei einem Partner, den
ich schon mein Leben lang suche. Er war ein-
fach nur da. Und ich war ich. Und mein Glück
war vollkommen.
Iris Rüsel, Osnabrück

Nach zwei Wochen Heilfasten, innen und außen
gereinigt, den ersten Apfel zu essen. Zu spüren,
wie die Geschmacksnerven im Mund explodie-
ren. Und neu zu entdecken, wie schön essen ist.
Hans Klement, Regensburg

Jeden Morgen um die gleiche Zeit sitzt ein Eich-
hörnchen am Fenster vor meinem Arbeitsplatz,
mustert mich aus nächster Nähe durch die Schei-
be und denkt sich vermutlich: »Eingesperrt, der
arme Mann, könnte er doch nur draußen sein,
an der frischen Morgenluft, so wie ich ...«
Jörg Morbitzer, Hochheim am Main, Hessen

In meinem kleinen Hamburger Pfarrgarten das
Wildkaninchen zu füttern, das vergangenes Jahr
kurz nach Aschermittwoch geboren wurde: der
Osterhase als ur altes Symbol der Auferstehung!
Felix Evers, Hamburg

In unserem Garten haben acht Jahre lang zwei
Kaninchen unser Familienleben bereichert. Im
Herbst hat die beiden – mitten in Hamburg – ein
Fuchs getötet. Große Trauer!
Doch dann wuchs an der Stelle, wo früher das
Außengehege mit dem Stroh war, plötzlich Ge-
treide. Ein Gruß aus dem Hasenhimmel!
Anneke Hoppensack, Hamburg

Im Haus gegenüber sind die erwachsenen Töch-
ter zu den Eltern zurückgekehrt. Nun kleben drei
Frauen zwischen 20 und 30 Jahren am Fenster
ihres früheren Kinderzimmers und pusten Seifen-
blasen in die Luft, die die umliegenden Häuser
und Gärten umschwirren.
Christine Aldick, Bad Honnef

Ein Brot backen wie vor vielen Jahren auf dem
elterlichen Bauernhof: Der Sauerteig wächst
und wächst, ein wohliger Geruch strömt aus
dem Ofen und erfüllt die Küche. Die Kindheit
wie ein Film vor Augen. Wundervoll!
Bruno Buchen, Ippesheim, Bayern

Beim Laufen komme ich in der Nähe von
Schloss Hellbrunn an jener Stelle vorbei, an
der mich meine Enkelkinder beim letztjähri-
gen Salzburg-Marathon angefeuert haben. Ich
strecke meinen Arm aus wie damals und klat-
sche in Gedanken mit ihnen ab. Ein Gefühl
der Nähe durchflutet mich – direkten Kontakt
haben wir zurzeit ja nicht.
Helmut Mang, Anif, Österreich

Täglich Schafe zu füttern, danach eine halbe
Stunde zwischen ihnen zu sitzen, in die Gegend
zu schauen und an nichts zu denken.
Karlheinz Ludwig,
Edingen-Neckarhausen, Baden-Württemberg

Der Stapel Skizzenblöcke auf meinem Tisch.
Gefüllt auf Reisen. Anregungen für neue
Arbeiten und Erinnerungen – kostbarer denn je.
Ina Seeberg, Essen

Kontaktverbot, alle meine Seminare wurden
storniert. Dann ein Anruf, es meldet sich Mo-
hammad, ein junger Mann aus Afghanistan, den
wir seit einigen Jahren begleiten: »Karin, wenn
du Hilfe brauchst, ich habe etwas gespart.« Allein
das Angebot ist ein Geschenk!
Karin Probst, Ulm

Wenn meine Kinder nach dem Abendessen den
Esstisch in die Mitte des Wohnzimmers rücken,
mit zwei Rollen Klopapier ein »Netz« aufspannen
und Tischtennis-Rundlauf spielen.
Jan von Delft, München

Wir wohnen in der obersten Etage eines alten
Mehrfamilienhauses. Am Sonntagabend – drau-
ßen ist es ganz still – gehen meine Söhne mit
Trompete und Posaune hinaus auf den Dach-
balkon und spielen die Ode an die Freude.
Am Ende der Europahymne wird es wieder still.
Dann plötzlich: Beifall und Jubel.
Hagen Krast, Meißen, Sachsen

Wir sitzen in Quarantäne, freuen uns, dass un-
sere Lieblingsrubrik wegen des Jubiläums ver-
doppelt wurde. Wie immer lesen wir gemeinsam,
und wie so oft muss ich bissl aus Rührung wei-
nen ... Dann stellt mein Partner fest, dass uns
diese liebe Gewohnheit schon genauso lange
begleitet, wie es uns als Paar gibt: zehn Jahre! Und
nun muss er ganz ein bissl mitweinen.
Heidi Wallner, Haar bei München

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Beiträge bitte an [email protected] oder an
Redaktion DIE ZEIT, »Z-Leserseite«, 20079 Hamburg

E


s gibt bis heute keinen Nachweis,
dass ich wirklich Corona hatte. Aber
mein bester Freund wäre fast daran
gestorben, und ich bin sicher, er
hatte es von mir.
Dabei habe ich das Virus früh ernst genom-
men. Mein Bruder arbeitet als Krankenpfleger.
Er warnte mich schon im Fe bru ar, wie gefähr-
lich es ist. Ich habe mir seitdem ständig die
Hände gewaschen. Und im Supermarkt die
Maske aufgesetzt, die er mir geschickt hatte. Im
Büro trug ich sie nicht. Da war ich in Kontakt
mit einem Kollegen, der Besuch aus Norditalien
hatte und sich fünf Tage später krankmeldete.
Am Wochenende, es war Mitte März, hing
ich wie immer mit Christoph ab (der anders
heißt, aber anonym bleiben möchte). Ich hatte
schon ein Kribbeln im Hals. Manche Leute in
unserem Alter haben viele Freunde; wir nicht,
wir haben uns. Tage später bekamen wir beide
Fieber. Eine Erkältung, dachte ich. Ich legte
mich eine Weile ins Bett, mit Waschlappen auf
der Stirn. An Corona dachte ich nie, nicht mal,
als Christoph mich anrief und von seinem
Husten erzählte. Stell dich nicht so an, habe ich
gesagt und aufgelegt. Ich war es nicht gewohnt,
mir um ihn Sorgen zu machen. Er ist 32 und
lebt gesund. Wenn einem von uns die Nase lief,
ist es immer meine gewesen. Doch nun ging es
ihm mit jedem Tag schlechter. Zum Husten
kam Durchfall, er verlor seinen Geruchssinn,
das Fieber wurde stärker.
Einmal nachts rief ich bei ihm an. Ich hatte
irgendwie ein schlechtes Gefühl. Am Telefon
war Christoph so kurzatmig, dass er kaum spre-
chen konnte. Hals über Kopf bin ich zu ihm in
die Wohnung gelaufen. Da saß er des orien tiert
am Bettrand, in einem Pulli, durchtränkt von
Schweiß. Das Thermometer zeigte 40 Grad an.
Ich wählte die Nummer des ärztlichen Bereit-
schaftsdiensts, 116 117. Es dauerte ewig, bis die
Leitung frei war. Irgendwann rückten Sanitäter
in Schutzkleidung an, die Christoph unter-
suchten und wieder gingen, nachdem sie einen
Arzt verständigt hatten. Doch der kam nicht.
Wir warteten die ganze Nacht. Christophs Atem
wurde immer flacher. Er sagte, es fühle sich an
wie sterben. Ich dachte: Mein bester Freund hat
Corona. Und er hat es von mir.
Immer wieder wählte ich die 116 117. Es
dauerte 24 Stunden, bis ich jemanden erreichte.
Und noch einmal sieben, bis ein Arzt kam. Er
ließ Christoph gleich ins Krankenhaus bringen.
Ich durfte nicht mit. Auf der Sta tion haben sie
ihm Sauerstoff gegeben. Der Corona-Test war
positiv. Drei Tage musste er bleiben. Ich wollte
mich auch testen lassen, um endlich Gewissheit
zu haben. Aber das Gesundheitsamt lehnte ab,
weil ich keine Symptome mehr hatte.
Christoph geht es wieder gut, trotzdem
quält mich mein Gewissen. Wie konnte ich
seinen Husten runterspielen? Ihm sagen, er
solle nicht jammern? Er ist mir nicht böse des-
wegen, sagt er. Wir telefonieren wieder jeden
Tag, es ist fast wie früher. Aber eben nur fast.
Ich denke oft an meinen Kollegen. Er ist ein-
fach weiter zur Arbeit gekommen, obwohl da-
mals jeder wusste, was in Norditalien los war.
Der Gedanke macht mich dermaßen wütend,
dass mir heiß wird. Dabei weiß ich, ich war
selber genauso verantwortungslos wie er.


... seinen besten


Freund mit Corona


anzustecken


WIE ES WIRKLICH IST

Jane H., 24, ist
Designerin und lebt in Bayern

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Schweifen


Ein geliebtes Verb, das ich ausschließlich im positiven Sinn verwende, ist schweifen. Es versetzt die Beine, die
Blicke, die Gedanken, die Emotionen und die Tagträume in sanfte Bewegung, bringt sie zum Schweben und Schwingen
gleich einem glücklichen Falter. Übers Land geht die Reise, durch die Stadt: flanieren, sich ergehen, lustwandeln,
durch Feld und Wald, bei Sonne und Regen, unter ebenfalls schweifenden Wolken, ach, gern in die Abenddämmerung
hinein, notwendigerweise allein, jedoch nicht einsam, durch Bücher auch und Bilder und alte Landkarten von
fernen Ländern. Leicht wird der Sinn und die Wirklichkeit weniger schwer.
Ludwig Engstler-Barocco, Bonn

Eine Meise haben


Mittagspause: Ich döse in der warmen Frühlingssonne am offenen Fenster. Plötzlich flattert eine Meise in meine Zelle
und testet Bilderrahmen, Blumentopf und Bücherregal als Sitzgelegenheit. Nach dem Kurzbesuch frage ich mich
schmunzelnd, was es mit Verrücktheit zu tun haben soll, einen so munteren Gesellen zu beherbergen – und wie der
Ausdruck »eine Meise haben« entstand. Ob unter den Lesern und Leserinnen jemand Aufschluss darüber geben kann?
Bruder Simeon Friedrich, Benediktinerabtei St. Matthias, Trier

MEIN WORTSCHATZ

Du siehst aus, wie ich mich fühle


Das Kaninchen Wuschel ist acht Wochen alt und lebt mit seiner Freundin Berta, dem Gänseküken, auf einem kleinen Bauernhof in Mittelfranken. Fotografiert von Jeanette Hutfluss

Folge 200


Illustration: Eva Revolver für DIE ZEIT; kl. Fotos: privat

Ist er’s?
Frühling, abgesperrt mit Flatterband:
Viren wabern durch die Lüfte.
Polizisten, Waffe an der Hüfte,
streifen jetzt durch Stadt und Land.
Menschen träumen schon,
woll’n so gern zusammenkommen.


  • Horch, da klingelt’s Telefon!
    Glückspilz, der du bist,
    hast du Klopapier bekommen?
    Eicke Schüürmann, Düsseldorf


Aufgezeichnet von Stefanie Witterauf

Leben


Wa s mein


reicher macht

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