2020-04-08 Die Zeit

(Barré) #1

  1. APRIL 2020 DIE ZEIT No 16 POLITIK 9


D


ie Europäische Volkspartei (EVP) sieht
sich in der Tradition von Robert Schu-
man, Alcide de Gasperi und Konrad
Adenauer. Stolz verweist sie auf ihrer Internet-
seite auf die drei »europäischen Gründungsvä-
ter«. Stolz ist die EVP auch darauf, dass sie zurzeit
elf der insgesamt 27 Regierungschefs der Euro-
päischen Union stellt; einer von ihnen ist der
Ungar Viktor Orbán. Im Internet präsentiert ihn
die EVP in einer Reihe mit Angela Merkel.
Orbán, Merkel, Adenauer? Seit Langem ist
dieses Nebeneinander innerhalb der EVP um-
stritten. Orbáns Partei, der Fidesz, ist seit dem
März 2019 offiziell suspendiert. Orbán darf
nicht mehr an den Parteitreffen teilnehmen; die
Fidesz-Abgeordneten im Europaparlament ge-
hören aber weiterhin zur EVP-Fraktion.
Seit der vergangenen Woche eskaliert die Aus-
einandersetzung. Orbán hatte sich in einer Art
Selbstermächtigung mit weitreichenden Voll-
machten ausstatten lassen, um die Corona-Epi-
demie zu bekämpfen. Zeitgleich hat er einen
Brief an alle in der EVP organisierten Parteien
geschrieben, in dem er den amtierenden EVP-
Präsidenten Donald Tusk scharf attackiert.
13 Mitgliedsparteien der EVP haben deshalb
offiziell den Ausschluss des Fidesz beantragt. Zu
ihnen gehören die Christdemokraten der EU-
Gründungsländer Niederlande, Belgien und Lu-


xemburg; auch der griechische Ministerpräsident
hat den Antrag unterschrieben.
In den Reihen von CDU und CSU ist der
Unmut über Orbán ebenfalls groß. Trotzdem
haben Annegret Kramp-Karrenbauer und Mar-
kus Söder, die beiden Parteivorsitzenden, in den
vergangenen Tagen zu den Vorgängen in Ungarn
beharrlich geschwiegen. Dabei hängt es wesent-
lich von den deutschen Unionsparteien ab, ob
Orbán in der EVP bleiben kann oder nicht.
Ähnlich wie AKK und Söder war auch Angela
Merkel, als sie noch CDU-Chefin war, trotz häu-
figen Ärgers stets davor zurückgeschreckt, die
Verbindung zu Orbán zu kappen. Zu groß war
ihre Sorge vor einer Spaltung der EVP und ei-
nem von Orbán angeführten osteuropäischen
Machtblock in der EU. Ähnliche Argumente
hört man nun aus dem Umfeld von AKK.
Die Auseinandersetzung um Orbán markiert
dabei weniger eine geografische als vielmehr eine
inhaltliche Bruchlinie innerhalb der EVP. Par-
teien wie die niederländische CDA oder die
schwedischen Moderaten verstehen sich unver-
ändert als christdemokratische Parteien der poli-
tischen Mitte. Orbán hingegen steht für einen
nationalpopulistischen, autoritären Kurs. Damit
hat er in der EVP zwar keine Mehrheit. Aber er
ist stark genug, um CDU und CSU vor sich her-
zutreiben. M AT T H I A S K R U PA

G


roßbritannien hat wieder eine Oppositi-
on. Seit Mitte Dezember vergangenen
Jahres, als Premierminister Boris John-
son für die Konservativen einen überlegenen
Wahlsieg errungen hatte, war die sozialdemokra-
tische Labour-Partei, die wichtigste Gegenspiele-
rin der Regierung, praktisch führungslos gewe-
sen. Der Vorsitzende Jeremy Corbyn, dessen ra-
dikal linker Kurs bei der Bevölkerung wenig be-
liebt war, amtierte als politischer Untoter weiter,
während in einem langwierigen Prozess ein
Nachfolger gesucht wurde. Nun ist er gefunden:
der Unterhausabgeordnete Sir Keir Starmer.
Sir Keir könnte in der Tat für die Wiederbele-
bung Labours die richtige Wahl sein. Er hat eini-
ge Handicaps: Der Ex-Staatsanwalt ist ein eher
trockener Typ, kein Volksredner oder Medien-
star. Auch ist Starmer für viele Brexit-Freunde
(die es auch im Labour-Milieu gibt) zu eng mit
dem verlorenen Kampf für den Verbleib des Ver-
einigten Königreichs in der EU verbunden.
Doch Starmer verfügt über zwei wichtige
Stärken. Einmal bedeutet seine Wahl eine un-
missverständliche Abkehr vom gescheiterten Ra-
dikalismus. Der scheidende Vorsitzende Corbyn
hatte sich eine entschiedene Linke, Rebecca
Long-Bailey, als Nachfolgerin gewünscht. Dass
Starmer am Ende deutlich vor ihr lag, deutet die


gewandelten Prioritäten in der Labour-Mitglie-
derschaft an: Vermittelbarkeit in die Bevölkerung
hinein zählt jetzt mehr als sozialistische Recht-
gläubigkeit. Die Konservativen, die sich zuletzt
bequem auf Corbyn als politisches Schreckge-
spenst verlassen konnten, werden Starmer kaum
auf ähnliche Weise dämonisieren können.
Die zweite Stärke des neuen Vorsitzenden
wurzelt im Politikertypus, den er verkörpert: den
präzisen Profi. Labour kann die Regierung John-
son kaum ideologisch angreifen. Durch großzü-
gige Ausgabenprogramme nach der Wahl und
erst recht durch die immense Staatsausweitung
in der Corona-Krise hat Johnson so dramatisch
mit der traditionellen Marktgläubigkeit der Kon-
servativen gebrochen, dass es aussichtslos wäre,
ihn als Kapitalistenbüttel zu attackieren.
Verwundbar ist die Regierung dagegen beim
Thema Kompetenz. Vom hartnäckigen Mangel
an Corona-Testkapazitäten bis zu mühsam ka-
schierten Machtkämpfen im Kabinett wirkt die
Reaktion auf die Virus-Krise alles andere als
souverän und effizient. Das ist der Augenblick
für einen Oppositionsführer, der die nationale
Kraftanstrengung in harten Zeiten loyal unter-
stützt, aber bei Pannen und Pleiten unangeneh-
me Fragen zu stellen versteht. Gut möglich, dass
Keir Starmer das kann. JAN ROSS

S


echs Monate lang wüteten verheeren-
de Buschbrände in Australien. Eine
Waldfläche, größer als Irland, wurde
vernichtet, 34 Menschen kamen ums
Leben, mehr als 6000 Häuser brann-
ten ab. Im Februar erloschen die letzten Feuer, die
Narben aber sind noch nicht gezählt.
Biologen schätzen, dass eine Milliarde Tiere ums
Leben kamen. Bis zu ein Drittel aller Koalas sollen
getötet worden sein. Schmalfuß-Beutelmäuse,
Kurzschwanzkängurus und Schnabeltiere haben
ihren Lebensraum verloren. Eine detaillierte Bilanz
können Forscher aber noch nicht ziehen. Landes-
weit muss die Arbeit von Wissenschaftlern, Natur-
schützern und Landschaftspflegern wegen der
Corona-Krise und der damit verbundenen Reise-
beschränkungen pausieren. Was Experten bereits
abschätzen können: Viele Ökosysteme werden sich
erst in einigen Jahren erholt haben, andere erst
in Jahrzehnten oder in mehr als einem Jahrhun-
dert. Den Anteil des menschengemachten Klima-
wandels am diesjährigen Ausmaß der Buschfeuer
schätzen Forscher aus den Niederlanden auf min-
destens 30 Prozent.
Auch nach dem Ende der Brände kam die Natur
nicht zur Ruhe: Kaum waren die Flammen erlo-
schen, hagelte es base ball gro ße Eiskörner im Süden
Australiens. Im Februar zogen Wirbelstürme übers
Land, gefolgt von schweren Regenfällen, die Seen
und Flüsse über die Ufer treten ließen. In Zehn-
tausenden Haushalten fiel der Strom aus. Versiche-
rungen riefen zum fünften Mal in sechs Monaten


den Katastrophenfall aus. Am berühmten Great
Barrier Reef maßen Forscher im Februar die heißes-
ten Temperaturen seit Beginn der Wetteraufzeich-
nung. Zum dritten Mal in fünf Jahren findet ein
Massensterben der Korallenriffe statt. Meteorologen
sprechen von auf ein an der tref fen den Extremen: Ein
Klimadesaster verstärkt das nächste. Das erschwert
den Wiederaufbau zerstörter Gemeinden.
Da Forscher für die kommenden Jahre mit
noch größeren Bränden rechnen, dürften viele
Regionen unbewohnbar werden. Die unabhän-
gige Organisation Cli mate Council geht davon
aus, dass die Folgen der Klimaerwärmung austra-
lische Immobilienbesitzer im kommenden Jahr-
zehnt 360 Mil liar den Euro kosten werden.
72 Prozent der Australier sehen einer neuen
Studie zufolge den Klimawandel als Problem. 60
Prozent sind der Ansicht, dass die Regierung ihre
Klimapolitik dingend ändern muss. Zehntausen-
de gingen im Januar dafür auf die Straße.
Doch die Politik hat das nicht zum Umdenken
bewegt: Zwar erkennt der konservative Premier-
minister Scott Morrison inzwischen die menschen-
gemachte Erderwärmung an, nachdem seine Re-
gierung sie jahrelang geleugnet hat. Neue, ehrgei-
zigere Emissionsziele will er seinem Land jedoch
nicht setzen. Im Februar gab Morrisons Regierung
eine zwei Millionen Euro teure Machbarkeitsstudie
für ein neues Kohlekraftwerk in Queensland in Auf-
trag. Die Bauarbeiten an der umstrittenen Adani-
Miene – Siemens liefert Signalanlagen hierfür –
gehen voran. Statt den Ausstoß von CO₂ zu senken,

Christdemokraten wollen Orbán ausschließen


Warum bleibt er trotzdem in der EVP?


Keir Starmer zum Labour-Chef gewählt


Ist der Neue auch der Richtige?


HINTER DEN NACHRICHTEN


Die Buschbrände in Australien sind erloschen


Ändert die Regierung ihre Klimapolitik?


spricht Morrison nun von »Resilienz und Adaption«:
Australien müsse sich an den Klimawandel anpassen.
Will heißen: Für sinnvolle Maßnahmen, ihn aufzu-
halten, ist es aus Sicht der australischen Regierung
sowieso zu spät.
In der öffentlichen Debatte ist das Thema Kli-
ma wieder in den Hintergrund gerückt. Auch die
oppositionelle Labor-Partei scheut den Konflikt
mit den mächtigen Kohlekonzernen. Australien ist
der größte Kohleexporteur der Welt, in vielen
Landstrichen sind die Minenbetreiber die wich-
tigsten, manchmal auch die einzigen Arbeitgeber.
Die Medienlandschaft wiederum wird von Zei-
tungen und Fernsehsendern des Murdoch-Kon-
zerns News Corp dominiert, in dem seit Jahren
Unterstützer der Morrison-Regierung und notori-
sche Klimaleugner den Ton angeben.
Nun kommt zu alledem noch das Coronavirus.
Mit der Pandemie wird Australien binnen weniger
Monate von einer zweiten Megakrise heimgesucht:
Die Tourismusbranche etwa, die bereits Milliar-
denverluste durch die Buschfeuer hinnehmen
musste, erleidet einen Totalausfall. Ökonomen
fürchten, dass die Arbeitslosenquote auf bis zu
25 Prozent hochschnellen könnte. Australiens
Wirtschaft, die wegen ihrer Kohleexporte und der
engen Beziehung zu China den längsten Boom der
Geschichte hinter sich hat, steht damit zum ersten
Mal seit 29 Jahren vor einer Rezession. Dass die
Politik dem Klimaschutz Vorrang vor Wachstum
einräumt, ist für die Zeit nach Corona noch un-
wahrscheinlicher als zuvor. XIFAN YANG

»Paradise lost«:
Junge Kängurus müssen nun
gefüttert werden

Foto: Jorge Silva/Reuters

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