Neue Zürcher Zeitung - 22.02.2020

(Frankie) #1

Samstag, 22. Februar 2020 ∙ Nr. 44∙ 241. Jg. AZ 8021Zürich∙ Fr. 5.50 ∙ €5.


Verschwörungstheorien: Staatsdiener sind für Donald Trump ein willkommener Feind Seite 12


«Zürich tut sehr viel


für Homosexuelle»


StadträtinRykart weist Vorwürfe andie Behördenzurück


lkp.· Übergriffe auf Homosexuelle häu-
fen sich in der Stadt Zürich.In den letz-
ten zwölf Monaten gingen bei derPoli-
zei fünf Anzeigen wegen Straftaten
ein, die eindeutig homophob motiviert
waren. Tatsächlich dürfte die Zahl der
schwulenfeindlichen Angriffe jedoch
deutlich höher liegen. Offizielle Statisti-
ken gibt es nicht. Und vieleFälle bleiben
imDunkeln, weil sich die zumeist jun-
gen Opfer schämen und gar nicht erst
zurPolizei gehen.
Die LGBT- Community fühlt sich von
derPolitik im Stich gelassen. Im Inter-
view mit der NZZ weist die grüne Sicher-
heitsvorsteherin KarinRykart denVor-
wurf, die Stadt habe das Gewaltproblem
zu wenig ernst genommen,entschieden


zurück: «Zürich tut sehr viel für Homo-
sexuelle.» Die Übergriffe aus homopho-
ben Motiven machten dem Stadtrat Sor-
gen. Deshalb habe man etwa diePolizei-
präsenz verstärkt, und die Einsatzkräfte
seien vermehrt auch zuFuss unterwegs.
DochRykart sagt auch:«Wir können
das Problem, dass Schwule angefeindet
und auchkörperlich angegriffen werden,
nicht mit einer einzelnen Massnahme
lösen.» Neben derPolizeipräsenz sei die
Prävention entscheidend – und zwar bei
allen Gruppen. Homophobie etwa mit
dem Migrationshintergrund von Tätern
zu erklären, sei zu einfach. «Ausländer
sind nicht per se schwulenfeindlicher als
Schweizer.»
Zürich undRegion, Seite 17

20 Personen in der Schweiz


stehen unter Quarantäne


Rückkehrer vonKreuzfahrtenaus China betroffen


cb.· In der Schweiz gibt es vorderhand
keine bestätigtenFälle von Ansteckun-
gen mit dem Coronavirus. Das erklärte
amFreitagDanielKoch vom Bundesamt
für Gesundheit. Allerdings müssen gut
zwanzigPersonen vierzehnTage in Qua-
rantäne verbringen. Es handelt sich um
ein gutesDutzendRückkehrer von zwei
Kreuzfahrtschiffen sowie um weiteresie-
benPersonen, die amFreitag überParis
ausWuhan in die Schweiz zurückreisten.
ImFall des Kreuzfahrtschiffs MS
«Westerdam» waren sämtlichePassa-
giere als gesund vom Schiff entlassen
worden,später zeigtesichaber, dass ein
Tourist doch infiziert war. Daraufhin in-
formierte dieWeltgesundheitsorgani-
sation sämtliche betroffenenLänder.

Eine Quarantäne erwartet auch die zwei
Schweizer, die sich an Bord der «Dia-
mond Princess» befanden. Alle Betrof-
fenen sind bereits in Quarantäne oder
auf demWeg dorthin. Sie müssen sich
in ihrenWohnungen aufhalten und dür-
fenkeinen direktenKontakt mit Mitbe-
wohnern haben. Bisher wurde niemand
positiv getestet.
Diese Menschen seienkeine Gefan-
genen, betonteKoch, sie brauchten in
ih rer schwierigenLage Unterstützung
undkeine Einschüchterung. Ausserdem
hätten sie mittels einerVereinbarung be-
stätigt, dass sie sich an die Quarantäne-
massnahmen halten würden. Andernfalls
machten sie sich strafbar.
Weitere Berichte auf Seite5, 22, 25, 34

WOCHENENDE


Wie wir


Gerüche


wahrnehmen


Düfte sindallgegenwärtig.
Sie beeinflussenunser
Verhalten. DochGerüche
zuidentifi zieren,fällt
uns schwer.
Warum ist das so?

Seite 45–


Spekulieren schwächt die Schweiz


Nachden «Crypto-Leaks»kanndie Schweiz gelassenauf ihren Rechtsstaatvertrauen.Politisches Schattenboxenund wilde


Gerüchte schaden der Sicherheit des Landes imglobalenKampf umKommunikationsüberlegenheit.Von Georg Häsler Sansano


Der wohlinszenierte Abwurf der «Crypto-Bombe»
hat in den vergangenenTagen vor allem Staub auf-
gewirbelt, begleitet von parteipolitisch motiviertem
Lärm. Dies stört die Sinne und behindert eine klare
Sicht auf die effektiveFaktenlage.
Mit ihrer geballten Kraft ist es SRF und dem
MedienhausTamedia gelungen, den Diskurs mit
einem geschickten Drehbuchweitgehend zu be-
stimmen: Über manipulierte Chiffriergeräte der
ZugerFirma CryptoAGhätten CIA und BND die
«Weltpolitik beeinflusst». Die Mitwisserschaft von
«Schweizer Geheimdiensten» undPolitikern über
dieVorgänge stelle dieNeutralität der Schweiz in-
frage.Kurzum: Die Geschichte der vergangenen
Jahrzehnte müsse neu geschrieben werden. So lau-
ten die medial verbreiteten und immer weiter mul-
tiplizierten Axiome unter dem einprägsamenTitel
«Crypto-Leaks».
Die ausgehorchteWelt hat von den Enthüllun-
gen zwarKenntnis genommen, liess sich aber kaum
von derTagesordnung abbringen.Auch die Schweiz
selbst ist weit weg von einer Staatskrise. Nach an-
fänglicher Hektik im vergangenenSpätherbst wartet
der Bundesrat, insbesondere die VBS-ChefinViola
Amherd – man möchte fast sagen: cool –, die Unter-
suchung vonAltbundesrichter Niklaus Oberholzer
ab. Ausserdem hat die Geschäftsprüfungsdelegation
(GPDel)als ordentliche parlamentarischeAufsicht
über den Nachrichtendienst ihre Arbeit bereits auf-
genommen. Diskret und unaufgeregt.


Sicherheithat einen Preis


Gleichzeitig wäre es falsch, die Angelegenheit her-
unterzuspielen und die möglichenFolgen zu ver-
harmlosen: DieRecherche der drei SRF-Journalis-
tinnen belegt auf derBasis von Dokumenten und
sorgfältig montierten Zeugenaussagen, dass sich
die ZugerFirma CryptoAGtatsächlich im Besitz
von CIA und BND befunden hat. Der Beauftragte
der deutschen Nachrichtendienste aus der Ära
Kohl, Bernd Schmidbauer, hatden Sachverhalt
in den Grundzügenbestätigt.DieNachrichten-
dienste der USA und Deutschlands missbrauch-
ten demnach den Namen der neutralen Schweiz


währendJa hrzehnten, um ausländischen Staaten
manipulierteVerschlüsselungstechnik zu verkau-
fen. Aus Sicht der Beteiligten eine überaus erfolg-
reiche Operation, die möglicherweise zu weniger
Gewalt in fragilenRegionen führte, den USA und
anderen Staaten imWesten aber auch eine unzim-
perliche Interessenpolitik ermöglichte – vor allem
wohl inLateinamerika.
Für das Schweizer Selbstverständnis werfen die
EnthüllungenFragen politischer, strafrechtlicher
und auch ethischer Natur auf, die es ohneRück-
sicht auf allenfalls schmerzhafte Erkenntnisse zu
klären und zu diskutieren gilt:Was hat der Bun-
desrat gewusst, und wie aktiv hat die Schweiz von
den ausländischen Nachrichtendienstaktivitäten
mit Geräten der CryptoAGprofitiert? ImVo r-
dergrund der Überlegungen müssen die Sicher-
heit desLandes, die Glaubwürdigkeit der Insti-
tutionen und dieVerlässlichkeit desWirtschafts-
standorts Schweiz stehen.
Denn diese Grundlagen für ein Leben inFrei-
heit undWohlstand sind heute nicht mehr so
selbstverständlich wie in denJahren nach dem
Ende des Kalten Kriegs. Die Schweiz muss wie-
der bereit sein,einen Preis dafür zu bezahlen. Im
Wettkampf zwischen liberalen und autoritärenSys-
temen unserer Zeit setzen sich die Grossmächte
notfalls auch unter Missachtung derregelbasierten
Sicherheitsordnung durch. Ein zentrales Mittel die-
ser neuen Machtpolitik ist derWille zurKommu-
nikationsüberlegenheit: einerseits über dieTech-
nik– ganz besonders im Cyberspace –,anderer-
seits aber auch inForm eines Informationskriegs,
dessen Ziel es ist,Zweifel an den Grundlagendes
freiheitlichen Zusammenlebens zu säen unddie
demokratischenGesellschaften zuschwächen. Die
wirtschaftlich überdurchschnittlich prosperierende
Schweiz ist davon genauso betroffen wie alle ande-
ren europäischenLänder.
Auch deshalb ist einekonsequente Anwen-
dung desRechtsstaats der richtigeWeg, dieHinter-
gründe derVorgänge um die ehemaligeCryptoAG
zu untersuchen, gewissermassen als Beweisführung
für dieResilienz des eigenenSystems. Denn dank
der Gewaltentrennung und massvollen Gesetzen
könnenBundesrat,Parlament undJustiz ohneAus-

nahmezustandTr ansparenz schaffen und, wenn nö-
tig, Massnahmen ergreifen. Sollte der Bericht der
GPDel nicht ausreichen,steht sogar die Möglich-
keit einer parlamentarischen Untersuchungskom-
mission (PUK) zurVerfügung, die gewisse Kreise
als marktschreierisches Allerheilmittel auf dem
politischenBasar subito und praktisch in den Minu-
ten der ersten Push-Nachrichten über die «Crypto-
Leaks» forderten.
Ähnlich durchsichtig, aber gleichzeitig auch un-
würdig sind dieVersuche, aus derParteizugehörig-
keit von AltbundesrätenTagespolitik zu machen.
Die blosse Erwähnung seines Namens in einem
flapsig und zur Mythenbildung geschriebenen CIA-
Dokumentreicht nicht aus für einKesseltreiben
gegen den ehemaligen EMD-Vorsteher KasparVil-
liger (fdp.).Auch derKontext eines fragwürdigen
Papiers aus einer militärischenKommandoanlage,
dasVilliger erwähnt, ist bis anhin unbekannt.
Gleiches gilt für die Spekulationen über die
Rolle von Altbundesrat ArnoldKoller (cvp.) als
politischVerantwortlichem für die Bundespoli-
zei (Bupo) in den1990erJahren. Der Bupo wird
eine absichtlich nachlässige Untersuchung von
Verdachtsmomenten gegen die CryptoAGvor-
geworfen.Koller orientierte gemäss Zeitungs-
berichten den Gesamtbundesrat über die Ermitt-
lungsergebnisse.Zweifler aller politischen Cou-
leur in derLandesregierung hätten demnach die
Möglichkeit gehabt, kritischeFragen zu stellen.
Taten sie aber nicht.

PolitischeMythenpflege


Statt Kleinkrämerei zu betreiben, hätte die
Schweiz jetzt die Chance, die eigene Geschichte
im Kalten Krieg und in der Zeit nach derWende in
allerRuhe aufzuarbeiten. Denn noch immer prä-
gen Zorn und Eifer dieAuseinandersetzung mit
der jüngstenVergangenheit.
Der Mythos des Nachrichtendienstes als Staat
im Staat, der verwerflich mit bösenRegimen ver-
bunden sei und eine «Geheimarmee» unterhalten
habe, wird entgegen neuenForschungsergebnissen
weiterhin sorgsam gepflegt.Besonders pikant ist

in diesem Zusammenhang derretrospektive Neu-
tralitätspurismus im linkenLager im Diskurs um
die Crypto-Affäre.
Selbstverständlich standdie Schweiz während der
Auseinandersetzung zwischen demkommunistisch-
totalitären Sowjetblock und der westlichenWelt auf
der Seite des freiheitlichen,demokratischen und
marktwirtschaftlichenWestens. Dies gilt übrigens bis
heute. Die Neutralität betraf und betrifft vor allem
die militärische Beteiligung anKonflikten. Heute
macht die Schweiz beim Nato-Programm «Partner-
ship forPeace» mit, ist aber nichtTeil derKollek-
tivverteidigung gemäss Artikel 5 des Nordatlantik-
pakts, der einen Angriff auf ein Mitgliedland als An-
griff auf die Allianz betrachtet. Diese Haltung wird
sowohl von den westlichen Staaten anerkannt als
auch vor allem vonRussland, das die bewaffnete,
westlich orientierte Neutralität der Schweiz als
glaubwürdigen Kanal zur Gegenseite schätzt.
Die wilden Spekulationen um die «Crypto-
Leaks» schaden genau diesem Instrument der
schweizerischen Sicherheitspolitik.Auch deshalb
ist eine lückenlose Untersuchung mitrechtsstaat-
lichen Mitteln zwingend. Nicht nur extern wegen
der Guten Dienste, sondern auch intern. Einmal
mehrsteht dasVertrauen in den Nachrichtendienst
zur Diskussion, der gerade in der unübersichtlichen
Welt von heute ein zentrales Element für die Sicher-
heit der Schweiz darstellt. Bei aller Kritik ermög-
licht die Arbeit des NDB der Schweiz bis anhin den
Luxus von verhältnismässig wenigPolizisten und
einer aufs Minimum geschrumpften Armee.
Apropos Neutralität: Die Nachrichtendienst-
chefs müssen dem zuständigen VBS-Vorsteher
jährlich mitteilen, mit welchen Diensten imAus-
land sie sich austauschen wollen.Darunter sind bei
weitem nicht nur westlichePartner, sondern auch
solche von Staaten mit angespanntemVerhältnis
zur Nato oder zur EU. Auch auf dieser Ebene kann
keineRede davon sein, dass die Nachrichtendienste
der Schweiz ein alarmierendes Problemfeld für die
Neutralität darstellen.
Nach demLärm und den Staubwolken der ver-
gangenenTage braucht es jetzt die Gelassenheit,
die Ergebnisse der beiden laufenden Untersuchun-
gen abzuwarten und demRechtsstaat zu vertrauen.

Redaktion und Verlag: Neue Zürcher Zeitung, Falkenstrass e 11, Po stfach, 8021 Zürich , Telefon: +41 44 25811 11,
Leserservice/Abonnements: + 41 44 2581000, http://www.nzz.ch
Wetter: 21, TV/Radio: 62, 63, Traueran zeigen : 8, Kino: 20, Impressum: 21 9771420 531061

20044

Free download pdf