Neue Zürcher Zeitung - 22.02.2020

(Frankie) #1

Samstag, 22. Februar 2020 MEINUNG & DEBATTE 11


Kündigungdes amerikanisch-philippinischenMilitärabkommens


Duterte – Geisterfahrer auf dem Jetski


Zu den amüsanten Episoden des letzten philippini-
schenWahlkampfs, an dessen Ende der Haudegen
RodrigoDuterte in den Präsidentenpalast einzog,
gehört der Spruch mit demJetski: Er werde, so gab
der angehende Staatschef Anfang 2016 zum Bes-
ten, persönlich auf die von China beanspruchten
Atolle im «westphilippinischen» Meer sausen und
dort die philippinische Flagge hissen.Vier Jahre
später sind dieLacher bei seinenAuftritten selte-
ner geworden. Stattdessen gibt es häufigerKopf-
schütteln oder betretenes Schweigen. Zum Bei-
spi el alsDuterte vor zehnTagen das bilaterale
Militärabkommen mitden USA, das sogenannte
VisitingForces Agreement (VFA), kündigte.
Inzwischen hat man imAussen-und imVertei-
digungsministerium in Manila wieder Luft geholt
und übt sich in Schadensbegrenzung. Dazu gehören
juristische Abklärungen über dieFrage, ob Duter-
tes Entscheid nicht noch die Hürde des Senats neh-
men muss, bevor er gültig wird.Damit bleibt ge-
wissermassen eine Hintertür offen,um den bei Mili-


tärs und Diplomaten sehr umstrittenenRauswurf
der USArückgängig zu machen. Die Zustimmung
der Senatoren war1991 als nötig erachtet worden,
als Manila Amerika erstmals dieTür wies und das
langjährige Militärbasisabkommen aufkündigte,
das die dauerhafte Stationierung amerikanischer
Truppen auf den Philippinen vorgesehen hatte.
JenerAbzug aus Subic, Clark und anderen,klei-
neren Militärbasen vollzog sich vor dem Hinter-
grund einer wachsenden Emanzipation der philip-
pinischen Nation,die fünfJahre davor dasJoch von
Dikt ator Ferdinand Marcos abgeschüttelt hatte. Es
war dasJahr, in dem sich dieAuflösung der Sowjet-
union vollzog. Damals wollte niemand Krieg, die
friedliebendenFilipinos am allerwenigsten.Feinde
verschwandenwie im Dominoeffekt, und selbst
Vietnam und die USAreichten sich die Hand.
Die Freude dauerte immerhin bis1995. Dann
bemächtigte sich China des Mischief-Riffs auf
den Spratly-Inseln, das in der ausschliesslichen
Wirtschaftszone der Philippinen liegt. China be-
gann mit baulichenVeränderungen, derenAus-
mass längstkeine Zweifel mehr über die wah-
ren AbsichtenPekings zulässt.Auf dem Hinter-
grund dieser Entwicklungen suchten die Philippi-
nen schon bald danach wieder eine Annäherung
an die USA.1999 ebneten sie mit dem VFA und
dem dort verbrieften Besuchsrecht vonamerika-

nischenTruppen dann denWeg für neue umfas-
sende Militärkooperationen und Manöver.
China hat mit dem Coronavirus derzeit andere
Sorgen als denAusbau von Inselchen, die 10 00
Kilometer südlich vomFestland im Meer liegen.
Aber dieTür zu jenen Atollen, die innerhalb der
von Peking propagierten«nine-dash line» liegen,
steht mit derAufkündigung desVFA durchDuterte
no ch weiter o ffen.Faktisch stellt der Schritt alle ver-
bliebenen Militärabkommen infrage, insbesondere
den militärischen Beistandspakt zwischenWashing-
ton undManila. Man muss davon ausgehen, dass
China sich diese Gelegenheit wie zu Beginn der
neunzigerJahre nicht entgehen lassen wird.
Bereits zum zweiten Mal gibtDuterte damit
ohne Noteinen aussenpolitischenTrumpf ganz
ohne Gegenleistungaus der Hand: Schon imJuli
2016 hatte ein Schiedsgericht in Den Haag den
Philippinen in Souveränitätsfragen im Südchine-
sischen Meer in allen Punktenrecht gegeben,
doch bis heute foutiert sichDuterte um diesen
rechtlichen Beistand. Pikanterweise setzt er sich
mit seinem Kniefall vor China nicht nur über die
Stimmung imLand und in seinen Ministerien hin-
weg. Er fällt auch denjenigen Asean-Partnern wie
Vietnam, Malaysia und Indonesien in denRücken,
die im Südchinesischen Meer ebenfalls in Gebiets-
streitigkeiten mit China verwickelt sind.

Postauto-Affäre


Der Bundesrat macht es sich zu einfach


Vor zweiJahren ist aufgeflogen, dassPostauto mit
gesetzeswidrigen Umbuchungen Subventionen in
dreistelliger Millionenhöhe erschlichen hat. Doch
noch immer beschäftigt der Skandal Behörden und
Medien. MitteWoche veröffentlichte der «Blick»
ein Protokoll desVerwaltungsrats. Es soll angeblich
beweisen,dass dieser die illegalen Gewinnverschie-
bungen sogar angeordnet hat.AmFreitag nun wies
der Bundesrat in einer Stellungnahme jegliche Mit-
schu ld amSkandal von sich. Er widerspricht damit
der Geschäftsprüfungskommission, die derRegie-
rung Verfehlungen in der Affäre vorwirft.
Die Betrugsaffäre beiPostauto ist also wegen
einesPapiers wieder ins Scheinwerferlicht gera-
ten.Doch wichtiger ist für die Öffentlichkeit eine
andereFrage:Wo stehen Bund undPost heute bei
der Aufarbeitung desFalls? Auffällig ist, dass der
gelbe Riese nach anfänglichem Zögern entschlos-
sen durchgegriffen hat. Nicht nur dieKonzern-
chefin SusanneRuoff musste den Hut nehmen,


auch mehrere Verwaltungsratsmitglieder waren
gezwungen, ihrenPosten zuräumen.Viel wich-
tiger noch:Das Unternehmen wechselte die ge-
samteFührung vonPostauto aus – und stellte die
Tochterfirma personell und strukturell auf völ-
lig neue Beine. Eine Selbstverständlichkeit ist das
nicht:Selten hat ein Unternehmen in der Schweiz
so kompromisslos auf eine Betrugsaffäre re agiert.
Weniger gute Noten verdientsich der Bu ndes-
rat. Er zeigte sich zwar bereit, im Nachgang der
Affäre dieAufsicht über den subventionierten
Personenverkehr neu zu organisieren.Auch ver-
anlasste er, dass die verantwortlichen Mitarbei-
ter – so auch dieKonzernchefinRuoff – ihre Boni
zurückzahlen müssen, falls die strafrechtliche
Unt ersuchung eine Mitverantwortung zutage
bringt.Trotzdem entsteht der Eindruck, der Bun-
desrat stehle sich bei derAufarbeitung der Affäre
aus derVerantwortung. So erkennt er nach wie vor
keinen Zielkonflikt zwischen denRenditeerwar-
tungen und dem Gewinnverbot im subventionier-
ten Personenverkehr. Die Landesregierung macht
es sich damit etwas gar einfach:Freilich war der Be-
trug beiPostauto nur möglich, weil einigePostka-
der mit grösster Skrupellosigkeit handelten. Doch
soviel heute bekannt ist, flossen die ergaunerten
Subventionen nicht in die Geldtasche der Mana-

ger. Vielmehr wurde das Geld dazu verwendet, um
die Gewinnziele zu erreichen, die der Bund vorgab.
Erst die widersprüchlichen Zielvorgaben des Eig-
ners – also des Bundes – haben den Nährboden für
das Fehlverhalten bei denPost-Managern gelegt.
Dazu passt, dass der Bundesrat auch in der
Steuerung der Bundesbetriebe praktisch alles beim
Alt en belassenwill. Zwarführt er in seiner Stel-
lungnahme insFeld, er habe Massnahmen zurVer-
besserung der Governance der Bundesbetriebe be-
schl ossen. So soll etwadie Wahl derVerwaltungs-
räte transparenter und der Informationsaustausch
mit den Betrieben intensiviert werden. Doch mehr
als kosmetischeKorrekturen sind das nicht.
Man hätte sich erhofft, dass der Bundesrat die
Postauto-Affäre zum Anlass nimmt, seinFüh-
rungsmodell für die Bundesbetriebe grundsätz-
lich zu hinterfragen. Dazu hätte zum Beispiel
auch dieFrage gehört, ob es weiterhin angezeigt
sei , sich als einzigesLand in ganz Europa eine
Post mit einem eigenen Busunternehmen zu leis-
ten. Doch von einem grundsätzlichen Neubeginn
kannkeine Rede sein. Zurück bleibt daher der
Eindruck, dass der Bundesrat dieAufarbeitung
des Postauto-Skandals als Pflichtübung ansah,bei
der das Ergebnis – die Beibehaltung des Status
quo – von Anfang an feststand.

Streit umden nächstenFinanzhaushalt


Die EU ist kein Honigtopf


Portugal ist ein schönesLand mit einem guten
Autobahnnetz. Dieses ist auf weiten Strecken
nicht nurrecht wenigbefahren,sondern auch zum
grossenTeil mit EU-Geldern gebaut.Portugal
hat sich dieserTage als Anführer der «Freunde
der Kohäsion» hervorgetan.17 Länder aus Süd-
und Osteuropa wehren sich gemeinsam gegen
jede Verringerung derKohäsionszahlungen, wel-
che die EU anRegionen ausschüttet, die unter-
durchschnittlich entwickelt sind.Das System ist in
den letztenJahrzehnten unter dem Einfluss zahl-
reicher Interessen und Lobbyisten immerkom-
plexer geworden und hat dazu geführt, dass in
manchenRegionenbis zu zwei Drittel des Inves-
titionsvolumens der öffentlichen Hand durch
EU-Gelderbestritten wurden. Nun argumentie-
ren einzelne osteuropäischeVertreter prompt, es
ginge nicht an,dass der Hauptgrund, wieso sie
sich nach einem mühsamen Beitrittsverfahren der
EU angeschlossen haben, ausgehöhlt würde.


Frankreich ist ebenfalls ein schönesLand, das
nicht nur die Hochkultur des guten Essens pflegt,
sondern auch seineBauern hätschelt. DenFranzo-
sen haben es die «Freunde derLandwirtschaft» zu
verdanken,dass die EU tatsächlich immer noch fast
40 Prozent ihrerFinanzmittel für die Unterstützung
der Bauern ausgibt. DieKohäsionszahlungen ma-
chen derweil gut einen Drittel allerAusgaben aus.
Die EU der «Freunde derKohäsion» und die
EU der «Freunde derLandwirtschaft» ist ein teu-
res und erst noch wenig effizientes Umverteilungs-
projekt.Wie der Streit um den nächstenFinanz-
rahmen der EU beunruhigend offenbart, droht
das Feilschen um Nettozahlungen deneigentlichen
Daseinszweck des europäischenIntegrationswerks
in den Hintergrund zu drängen. Denn die Stärke
der EU liegt in derFörderung desWohlstands–
nicht durch immer feiner ziselierte bürokratische
Umverteilung, sondern durch denAbbau von pro-
tekt ionistischen Hürden und die Liberalisierung
von Märkten. DerKern des Erfolgs der EU ist in
ihrem gemeinsamen Binnenmarkt begründet.
Eine erfolgreiche EU ist eine, die denWett-
bewerbstärk t undAufgaben anpackt, die multi-
lateral besser gelöst werdenkönnen als national.
Offensichtlich wäre das beim Schutz der Gren-
zen,in der Flüchtlings- und in manchenTeilen der

Aussenpolitik derFall, ebenso imCO 2 -Emissions-
Handel.Für Asyl, Migration, Schutz der Grenzen
und Sicherheit wendet die EU aber derzeit bloss
zwei Prozent ihrerFinanzmittel auf.
Das vorerst ergebnisloseFeilschen um den
nächsten Haushaltrahmen der EU dreht sich zu
sehr um Einnahmen-Promille und zu wenig um
Pri orit äten und den eigentlichenDaseinszweck
des Integrationsprojekts. Nach demAustritt Gross-
britanniens fehlt ein einigermassen liberal gesinn-
tes EU-Mitglied, das bisher jedesJahr nettorund
7 Milliarden Euro mehr in den EU-Haushalt ge-
zahlt als erhalten hat. Die kleineren, sparsameren
Länder habenrecht, wenn sie nun darauf pochen,
dass eine kleinere EU auch ein kleineres Budget
brauche. Handlungsbedarf besteht nicht primär auf
der Einnahmenseite, sondern bei der Struktur der
Ausgaben. Eine EU, die sich als Gemeinschafts-
werk versteht, braucht zwar wohl einen gewissen
solidarischenAusgleich, der dafür sorgt, dass nicht
nur die dynamischen Zentren profitieren. Aber
über die Zeit nimmt der Bedarf an neuenAuto-
bahnen halt ab. Eine erfolgreiche EU ist ein Inte-
grationswerk, das dieWettbewerbsfähigkeit im
Wettstreit der Nationen und geopolitischen Blö-
cke stärkt. Sie darf nicht zum blossen Honigtopf
der Bauern,Bauarbeiter undPolitiker verkommen.

DAVID VONPLON

SCHWARZ UND WIRZ


Das Kind,


der Staat


und die Eltern


Von CLAUDIA WIRZ

Das Ross hatteAugen aus Bernstein, Hufe aus
Marmor und Zähne aus Elfenbein – eine
wahrhaft göttliche Erscheinung. Kann es einen
Grund geben, ein so wunderbares Geschöpf
nicht hereinzulassen und direkt vor dem
eigenenTempel aufzustellen, wenn es – sozu-
sagen – gratis und geschenkt vor derTüre steht?
Mahner hattees fürwahr gegeben. «Ich
fürchte dieDanaer, auch wenn sie Geschenke
bringen», warnte der SeherLaokoon, und auch
die Rufe der Kassandra rieten zurVorsicht.
Doch leicht lässt sich der Mensch vonWohl-
taten blenden. Gegen den Zauber derVerheis-
sungen waren dieWarner machtlos. Was dann
mit der wehrhaften Stadt geschah, wissen wir.
Aus der Distanz von ein paar tausendJahren
mag man sich fragen, wie die kriegserprobten
Troer auf eine so simple List hereinfallen
konnten.Aber sind wir heute klüger?
Der Trick mit dem Geschenk funktioniert
jedenfalls noch heute bestens. Die Familienpoli-
tik ist ein facettenreiches Beispiel dafür. Auf
diesemTerrain wimmelt es nur so von «Ge-
schenkideen». Ob Elternzeit, subventionierte
Krippenplätze oder flächendeckende Früh-
förderung – der Staat, seineFachkommissionen,
Professoren, die OECD, zahlreiche NGO und
nicht zuletzt verschiedene Abteilungen der Uno
kümmern sich unermüdlich um dasWohlerge-
hen derFamilien und zimmern eine vermeint-
lich gute Massnahme nach derandere n.
Die Welt der Kinder undJugendlichen ist
auf dieseWeise zu einer wahren Goldgrube für
die Sozialarbeit geworden. Die Massnahmen,
die propagiert werden, haben neben ihrer
Finanzierung durch den Steuerzahler mindes-
tens zwei weitere Dinge gemeinsam: Sie sind
das geistige Kind einerstaatsnahen akademi-
schen Expertenelite, und die Eltern spielen
dabei eine immer weniger wichtigeRolle. Für
den Staat und seine Expertenist di e Pri vatheit
der Familie suspekt. Und dass es in einer freien
Welt Unterschiede unter denFamilien gibt, ist
ihnen ein Dorn imAuge. Deshalb wollen sie im
Namen der Chancengerechtigkeit amFamilien-
tisch mitreden und umverteilen, und zwar
möglichst ab Geburt der Kinder. Den Eltern ist
jedenfalls nichtrecht zu trauen. Der Staatsieht
sich als der bessere und gerechtere Erzieher.
Schon lange träumen die Experten und ihre
politischenVerbündeten von einer «umfassen-
den Politik der frühen Kindheit». Mit dem
jüngsten Entscheid der zuständigen National-
ratskommission zu einemVorstoss von
SP-Nationalrat MatthiasAebischer ist dieser
Traum ein ganzes Stückrealistischer gewor-
den. DieVerlierer in diesem Spiel sind die
Eltern, deren Erziehungshoheit Stück für
Stück demontiert wird.
Wenn derBasler Ökonom GüntherFink in
der Zeitschrift «DieVolkswirtschaft» darüber
fachsimpelt, wie man kleine Kinder möglichst
gut frühfördert,kommt dasWort Eltern nicht
vor. Das gleiche anmassendeWeltbild vertritt
die ForscherinRegina Guthold von der
Weltgesundheitsorganisation, welche die
Regierungen in der Pflicht sieht, die Kinder zu
mehrkörperlicher Ertüchtigung zu erziehen.
Und wenn derPädagoge AndreaLanfranchi
ein besorgniserregendes Bild der sozialen
Situation der Kinder in der Schweiz malt,
dann deshalb, um mit neuen «Geschenken»
neue staatliche Eingriffe in die Privatsphäre
der Familien zu legitimieren.
Während sich die Eltern also immer mehr
staatlichen Stützunterricht in Erziehung
gefallen lassen müssen – den sie im Übrigen
selber bezahlen –, erleben die Kinder in der
Schule so etwas wie eine Scheinemanzipation.
Das Reformkonzept des selbstorganisierten
Lernens soll sie endlich vom Fluch der Noten,
des Frontalunterrichts und der starren
Lehrpläne befreien. Doch dieseFreiheit ist
trügerisch. Spätestens wenn die Kinder selber
Eltern werden, heisst es: nachsitzen.

Claudia Wirzist freie Journalistin und Autorin.
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