Neue Zürcher Zeitung - 22.02.2020

(Frankie) #1

Samstag, 22. Februar 2020 INTERNATIONAL 3


Die USA


und die Taliban


testen Waffenruhe


Friedensplan folgt Ende Februar


SAMUEL MISTELI

In der Nacht auf Samstag hat in Afgha-
nistan eine siebentägige Phase der Ge-
waltreduzierungbegonnen. Diese«Waf-
fenruhe light» ist dieVoraussetzung für
einenFriedensplan, den die USA und
dieTaliban am 29.Februar unterzeich-
nen wollen. Sowohl dieTaliban als auch
die von den USA unterstütztenRegie-
rungskräfte sollen während einerWoche
möglichst auf Angriffe verzichten. Nach
der Unterzeichnung desFriedensplans
werden Gespräche zwischen denTaliban
und der afghanischenRegierungeinge-
leitet, die den mehrereJahrzehnte dau-
erndenKonflikt beenden sollen. Der
amerikanische Aussenminister Mike
Pompeo schrieb amFreitag aufTwitter:
«NachJa hrzehnten desKonflikts haben
wir uns mit denTaliban auf einesigni-
fikanteVerminderung der Gewalt ge-
einigt.»Das sei ein wichtiger Schritt auf
einem langenWeg zuFrieden, und er
rufe alle Afghanen dazu auf, diese Mög-
lichkeit zu nutzen.

PolitischesChaos in Kabul


Der Prozess wird dadurch erschwert,
dass in Kabul eine politische Krise
herrscht. Am Dienstag hatten die
Wahlbehörden bekanntgegeben, dass
der Amtsinhaber Ashraf Ghani die
Präsidentschaftswahl gewonnen habe.
DieWahl hatte im September 20 19
stattgefunden, die Bekanntgabe des
Schlussresultats verzögerte sich um
fünf Monate. Ghanis Hauptkonkur-
rent Abdullah Abdullah beschuldigt
dieWahlbehörden, Ghani begünstigt
zu haben, und anerkennt dasResul-
tat nicht. Er droht damit, eine eigene
Regierung zu bilden.Aufgrund des poli-
tischen Chaos in Kabul ist unter ande-
rem fraglich, wie eine Delegation zu-
sammengestellt werden soll, die mit den
Taliban verhandeln wird.
Der Inhalt des Abkommens, das die
USA und dieTaliban unterzeichnen
wollen, falls die Gewaltverminderung
erfolgreich verläuft, ist nicht offiziell be-
kannt. Einige Details sind jedoch durch-
gesickert. DieVereinbarungumfasst an-
geblich einen Zeitrahmen für den Ab-
zug der amerikanischenTr uppen, einen
Plan für eine dauerhafteWaffenruhe so-
wie für innerafghanische Gespräche.
In den ersten 135Tagen nachder
Unterzeichnung werden die USA ihre
Tr uppen in Afghanistan auf 8600 Mann
reduzieren. DieTaliban versprechen
im Gegenzug, der Kaida keine Zu-
flucht mehr zu bieten und den Islami-
schen Staat weiter zu bekämpfen. Es
sollregelmässig überprüft werden, ob
dieTaliban diese Garantien einhalten.
Auch eine fortgesetzte Gewaltreduk-
tion ist angeblichTeil des Abkommens.

Talibanwollen neuesSystem


Innerhalb von zehnTagen nach der
Unterzeichnung desPapiers sollenVer-
handlungen zwischen denTaliban und
der afghanischenRegierung beginnen.
In den Gesprächen wird es um die künf-
tige Staatsordnung, eine Machtteilung
und die Integration derRebellen gehen.
DieTaliban werdenverlangen, dass das
gegenwärtige politischeSystem so verän-
dert wird, dass es eher ihrer rigidenAus-
legung des Islams entspricht.Das birgt
unter anderem Risiken für die afghani-
schenFrauen, die während derTaliban-
Herrschaft von1996 bis 20 01 archai-
schenreligiösenVorstellungen unter-
worfen waren.
Auf beiden Seiten gibt es vieleFrage-
zeichen. Die afghanische Regierung
war bisher von denVerhandlungen aus-
geschlossen und hat viel – wenn nicht
alles – zu verlieren. Es ist denkbar, dass
Präsident Ashraf Ghani, der ein politi-
scher Überlebenskünstler ist, versuchen
wird, die Gespräche zu torpedieren.Auf-
seiten derTaliban gibt esFraktionen, die
derFührungvorwerfen, den Amerika-
nern zu grosse Zugeständnisse gemacht
zu haben. Es ist deshalbkeineswegs si-
cher, dass die siebentägige Gewaltver-
minderung erfolgreich verläuft.

Die ausgelöschten Leben


der Opfer von Hanau


Der 43-jährige Täter hatte es vor allem auf Menschen mit Migrationshintergrund abgesehen


CHRISTOPH PRANTNER


Tobias R. steht im Mittelpunkt.Was hat
ihn zu dieser schrecklichenTat bewegt?
Wie wurde erradikalisiert?Wären die
Morde von Hanau zu verhindern gewe-
sen, wenn jemand imUmfeld des 43-Jäh-
rigen Alarm geschlagen hätte? Hätten
die Behörden ihn nicht vorher ausfindig
und unschädlich machen müssen? Diese
Fragen treiben die öffentliche Debatte
zweiTage nach der Blutnacht in der
hessischen Stadt um.Für die Opfer von
Hanau dagegen bleibt vergleichsweise
wenigAufmerksamkeit übrig.


Trauer auf Instagram


Zehn Menschen hat R. umgebracht. Am
Mittwoch gegen 22 Uhrentsicherte der
Sportschütze seine beiden Pistolen und
eröffnete dasFeuer in der Shisha-Bar
Midnight in der Hanauer Innenstadt. We-
nig später griff er einen Kiosk im Stadt-
teilKesselstadt und einenAutofahrer an.
R. suchte sich seine Opfer nicht wahllos
aus. Immer sah er es auf Menschen mit
Migrationshintergrund ab. Wenige Stun-
den später stürmten Sondereinsatzkom-
mandos derPolizei seinWohnhaus und
fanden den mutmasslichen Täter – auch
seineWaffen waren dort – tot auf, neben
dem Leichnam seines letzten Opfers, sei-
ner 72-jährigen Mutter.
«Der deutsche Staatsangehörige
Tobias R. hat in den Bereichen Heu-
markt,Kesselstadt sowieKurt-Schu-
macher-Platz neun Menschen erschos-
sen und mehrerePersonen verletzt, dar-
unter eine lebensgefährlich.Das Alter
derTodesopfer lag zwischen 21 und 44
Jahren. Unter ihnen waren sowohlaus-
ländische alsauch deutsche Staatsange-
hörige.» So lauteten die dürren Angaben
des Generalbundesanwaltes nach derTat
im nüchternen Beamtenjargon. Näheres
gibt die Behörde über die Opfer nicht
bekannt.Namen und ein Gesicht be-
kommen einige erst auf einer Instagram-
Seite, auf der ihrTod betrauert wird.
Es sindFerhat,Nesar, Fatih, Hamza,
Muhammed, Mercedes, Gökhan, Sedat.
Die meisten sind sehr jung. Manche
posieren auf den Bildern oder machen
Selfies, andere sind festlich gekleidet
und lächeln. «Unsere Gedanken und
unsere Gebete sind bei den betroffe-


nenFamilien, die um ihreToten trau-
ern. Möge Gottihnen beistehen, Ge-
duld und Kraft geben. Amen», hat je-
mand über derFotogalerie geschrieben.
Wodie Behörden schweigen (müs-
sen), berichten trauerndeVerwandte
undFreunde über dieToten. GökhanG.
zum Beispiel ist einer der wenigen,die
in der Instagram-Galerie ernst blicken.
Der 37-jährigeTürke arbeitete imBau-
geschäft und wollte sich am Abend mit
seinem Nebenjob in dem Kiosk etwas
dazuverdienen. Seine Hochzeit stand
bevor. Und sein alter, schwer krebskran-
ker Vater, vor mehr als vierzigJahren
aus derTürkei nach Deutschland einge-
wandert, brauchte Unterstützung. Nun
muss er seinen Sohn begraben.
SeinLandsmann MetinU.teilt das
gleiche Schicksal. Sein SohnFerhat hatte
erst vor wenigenTagen seine Ausbildung

zum Anlagenmechaniker abgeschlossen,
wie die «Bild»-Zeitungberichtet. Er sei
Stammgast in der Arena-Bar gewesen.
Am Mittwochabend starb er dort.

«Dann kam er zu uns»


Der türkische Botschafter in Berlin er-
klärte, fünf derToten seien türkische
Staatsbürger gewesen.Laut demDach-
verband derKurden in Deutschland
sind mehrereKurden mit deutschenPäs-
sen beidem Attentat ums Leben gekom-
men. Ermordet wurden auch einjunger
Bosnier, zwei Männer ausRumänien
und Bulgarien sowie eine Deutsche mit
polnischenWurzeln, die alsKellnerin in
einer derBars arbeitete. DieFrau soll
schwanger gewesen sein.
In einem Interviewmit dem tür-
kischen Fernsehen TRT berichtete

unterdessen der Überlebende Muham-
medB.über die dramatischen Ereig-
ni ssein der NachtzumDonnerstag:
Er sei mit mehrerenFreunden in der
Arena-Bar gesessen, sagte der 20-Jäh-
rige, der in einem Krankenbett nach
einer Notoperation gezeigt wurde, mit
tränenerstickter Stimme. Als sie ihr
Essen bestellten, seien vor dem Lokal
Schüsse gefallen.
Dann sei der Attentäter in die
Gaststätte gestürmt und habe sofort
dasFeuer eröffnet: «Er hat dem Ers-
ten, den er sah, in denKopf geschos-
sen. Dann kam er zu uns.» Er selbst
sei an der Schulter getroffen worden,
ein Mann neben ihm in den Hals. Der
habe ihn beschworen, mit ihm ein letz-
tes Gebet zu sprechen. MuhammedB.:
«Es haben nur vier Menschen überlebt.
Einer davon bin ich.»

Hat die AfD in Hanau mitgeschossen?


Die deutsche Politik sucht nach Erklärungen für den Anschlag


HANSJÖRG MÜLLER, BERLIN


Nach dem Anschlag von Hanau, bei dem
ein Mann zehn Menschen und schliess-
lich sich selbst erschossen hat, diskutiert
Deutschland über mögliche Ursachen
der Gewalttat. Der 43-jährige, offensicht-
lich geistig verwirrteTäter hatte sich in
einer von ihm selbst im Internet ver-
öffentlichten Erklärungrassistisch ge-
äussert, dieVernichtungDutzenderVöl-
ker gefordert sowie Hass auf Migran-
ten bekundet. Holger Münch, der Präsi-
dent des deutschen Bundeskriminalamts,
sprach amFreitag von einer «schweren
psychotischen Krankheit» des Schützen.
Dieser handelte offenbar allein und war
nicht in Netzwerke von Gleichgesinnten
eingebunden.


Verfassungsschutz in der Pflicht


AuchFragen nach möglichenVersäum-
nissen der Behörden wurden gestellt.
Der GeneralbundesanwaltPeterFrank
bestätigte, seine Behörde habe bereits
im November letztenJahresKontakt mit
dem Täter gehabt.Damals habe dieser
Strafanzeige gegen eine unbekannte ge-
heimdienstliche Organisation gestellt,
die«sich in die Gehirne der Menschen
einklinkt und dort bestimmte Dinge ab-


greift, um dann dasWeltgeschehen zu
steuern». Rassistisch oderrechtsextrem
habe sich der Mann in seinem Schreiben
nicht geäussert; ein Ermittlungsverfahren
sei nicht eingeleitet worden, sagteFrank.
Die politische Diskussion verlagerte
sichrasch hin zurRolle der AfD. Lars
Klingbeil, der Generalsekretär der
Sozialdemokraten, forderte eine Be-
obachtung der AfD durch denVerfas-
sungsschutz. «Da hat einer geschossen,
aber es waren viele, die ihn munitioniert
haben, und da gehört die AfD definitiv
mit dazu», sagte er.
Die CDU-Chefin Annegret Kramp-
Karrenbauer erklärte, sie fühle sich durch
dieTat in ihrer Haltung bestätigt, wonach
jedeKooperation mit einerPartei ausge-
schlossen sei, die «Rechtsextreme, ja, ich
sage auch ganz bewusst Nazis, in ihren
eigenenReihen duldet». Die AfD sei «der
politische Arm des Hasses», sagte Cem
Özdemir, ein Bundestagsabgeordneter
und frühererParteichef der Grünen.Dif-
ferenzierter äusserte sich Christian Lind-
ner, derVorsitzende der FDP: Er sagte, es
gebe zwarkeine «direkten Linien» zwi-
schen den Ereignissen von Hanau und
denWorten von AfD-Politikern, doch be-
reiteten «Hassreden» wie jene des thü-
ringischen AfD-Chefs Björn Höcke den
Boden fürRadikalisierung und Gewalt.

Der deutsche Innenminister Horst
Seehofer nahm amFreitag vor Presse-
vertretern in Berlin Stellung zu dem An-
schlag. Es sei das dritterechtsterroristi-
sche Attentat innerhalb weniger Monate,
erklärte er und erinnerte an die Ermor-
dung des KasselerRegierungspräsiden-
tenWalter Lübcke imJuni 20 19 sowie an
den Anschlag auf dieSynagoge in Halle,
bei dem im Oktober zwei Menschen ge-
tötet wurden.
Die Gefährdungslage durchRechts-
extremismus, Antisemitismus undRas-
sismus sei sehr hoch, sagte Seehofer. Er
kündigte eine erhöhtePolizeipräsenz an
Bahnhöfen, Flughäfen und an den Gren-
zen sowie eine verstärkte Überwachung
von Moscheen an.

Für die AfDeinf ach ein Irrer


Auch Seehofer deutete eine mögliche
Mitverantwortung der AfD an.Aussa-
gen wie jene Alexander Gaulands, eines
der beiden AfD-Fraktionschefs imBun-
destag, wonach es sich beim National-
sozialismus umeinen«Vogelschiss» in
der deutschen Geschichte gehandelt
hat, bereiteten einen Nährboden für
Taten wie diejenige in Hanau, sagte der
Innenminister. AuchÄusserungen, die
man von AfD-Abgeordneten im Bun-

destag höre,stellten «ein Riesenpro-
blem» dar. Gauland hatte bereits am
Donnerstag denVorwurf zurückgewie-
sen,seine Partei trage eine Mitschuld
an der Bluttat. Es sei schäbig, eine sol-
cheTat zu instrumentalisieren, sagte
er. Der Täter sei ein geistig verwirrter
Mensch gewesen; Reden von AfD-Poli-
tikern, die nun für dieTat mitverant-
wortlich gemacht würden, seien dem
Schützen wahrscheinlich nicht einmal
bekannt gewesen. Ähnlich äusserte sich
der AfD-ChefJörgMeuthen; er sprach
von der «wahnhaftenTat eines Irren».
Die KritikanÄusserungen von AfD-
Politikern ist in vielenFällen berechtigt;
GaulandsRede vom«Vogelschiss» etwa
stellt zweifellos eineVerharmlosung der
Nazi-Verbrechen dar. Irritierend istaller-
dings, mit welcher Eile und Selbstver-
ständlichkeit einigePolitiker undKom-
mentatoren nun eineVerbindung zwi-
schen derPartei und den Ereignissen in
Hanau herstellen.Dabei scheinen Über-
legungen der politischen Opportunität
wichtiger zu sein als eine seriöse Analyse
des Geschehens. Dass sichrechtsextreme
Straftäter von der AfD ermutigt fühlen,
ist möglich. Nur gibt esimkonkretenFall
keinen Hinweis, der dafür spricht. Soweit
bekannt, hat sich der Täter aufkeinen
Politiker berufen.

Auch in Berlin wie hier am BrandenburgerTor legen die MenschenBlumen undKerzen für die Opfernieder. MARKUS SCHREIBER / AP
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