Neue Zürcher Zeitung - 22.02.2020

(Frankie) #1

LITERATUR UND KUNSTLSamstag, 22. Februar 2020 Samstag, 22. Februar 2020 ITERATUR UND KUNST


Robert Musil


teilte sich


die Mutter mit


dem Vater und


ihrem Liebhaber


Die Eltern d es Schriftstellers führten über lange


Jahre eine Ménage-à-trois. Das Kind geriet


dadurch wieder holt in Konflikte, für die Literatur


war es ein Gewinn.Von Karl Corino


Der SchriftstellerRobert Musil in einer um dasJahr 1930 entstandenenAufnahme. ULLSTEIN

sogenannte gesunde Menschenverstand
wäre vom sexuellenFait accompliausge-
gangen,der Sohn warvon einer abgrün-
digenRatlosigkeit.
Einerseits sprach er – um mit dem
Erzähler von«Tonka» zureden – von
einer unerklärlichen «ausdauernden, be-
wundernden, selbstlosen Liebe» dieses
mysteriösen Onkels, andererseits schil-
derte er Erlebnisse, die ihn an diesem
Platonismus zweifeln liessen.

Mitgefühl fürden Vater


«Er war einmal nachts mit der Mutter
und Hyazinth gereist, und so um zwei
Uhr, in der rücksichtslosen Müdig-
keit, wenn dieKörper im Eisenbahn-
zug schwanken und nach Unterstützung
suchen, schien es ihm, dass seine Mut-
ter sich an Hyazinth lehnte, voll Ein-
verständnis, und Hyazinth fasste ihre
Hand. SeineAugen waren weit gewor-
den vom Zorn damals, denn seinVa ter
tat ihm leid; aber als er sich vorbeugte,
sass Hyazinth allein und seine Mutter
hatte denKopf zu der von ihm abge-
wandten Seite geneigt.
Und nach einerWeile wiederholte sich
das Ganze. So gross war die durch das un-
genaue Sehen hervorgerufene Qual oder
so ungenau durch die Qual in derDunkel-
heit das Sehen. Er sagte sich schliesslich,
dass er nun doch überzeugt sei, und nahm
sich vor, seine Mutter am Morgen zur
Rede zu stellen; aber als derTag schien,
war das verflogen wie dieDunkelheit.»
DieTa tsache, dass derVa ter zu Be-
ginn desJahres1911 die ersten kleineren
Schlaganfälle erlitt, vertiefte das Mitge-
fühl des Sohnes. Am 25.Februar 1911
registrierte er in seinemTa gebuch eine
Nachricht der Mutter und des Hausarztes,
«dassPapa nur bei grosserSchonung noch
zehnJahre leben kann, aber auch jeden
Augenblick Blutaustritt ins Gehirn zu ge-
wärtigen ist. Ein Anfall vorher.»
Die Apoplexien wiederholten sich tat-
sächlich, Glaukomoperationen und ein
Eingriff an der Prostata kamen hinzu. Sol-
cheWidrigkeiten hinderten aber die «Un-
getrennten und Nichtvereinten» – wie
man dasrätselhaftePaar nennenkönnte


  • keineswegs, im Sommer1911 und 1912
    noch einmal à deux die Annehmlichkei-
    ten desBadehotels Elisabeth an der Alt-
    ausseer Strasse zu geniessen.
    Das Ende dieserReisenvoll schmerz-
    hafter Lust kam erst mit demAusbruch
    des ErstenWeltkriegs. Hermine war in-
    zwischen zur fülligen Matrone geworden
    und gebrauchteRadiumtinkturen gegen
    die entzündeten Kniegelenke. Das Echo
    auf die neue Situation in«Tonka» – man
    beachte die militärische Metaphorik:
    «Ihre Ehe hatte erst einen Inhalt be-
    kommen, als seinVa ter erkrankte. Als
    etwas Soldatisches, eineWache, die ihren
    Posten gegen Übermacht verteidigte...
    Bis dahin hatte sie mit Onkel Hyazinth
    nicht vor noch zurück gekonnt.. .Sie
    maskierten ihrVerhältnis sorgfältig und
    auch vor sich als geistigeFreundschaft,
    aber es gelang nicht immer, und zuwei-
    len waren sie ganzentsetzt über Hya-
    zinthische Schwächen, die sie in Gefahr
    brachten und unsicher machten, ob sie
    nun fallen müssten oder starkmütig zur
    alten Höhe wieder hinansteigen soll-
    ten.Alsaber der Gatte erkrankte, war
    den Seelen der Halt geschenkt, nach
    dem langend, sie um den einen Zenti-
    meter wuchsen, der zuweilen noch ge-
    fehlt hatte. Von da an war die Gattin ge-
    schützt durch Pflicht, machte gut durch
    verdoppelte Pflicht, was etwa noch in
    Empfindungen gesündigt wurde, und
    das Denken wardurch eine einfacheRe-
    gel, welche jetzt denAusschlag gab, vor
    jenem Schwanken zwischenVerpflich-
    tung zur Grösse der Leidenschaft und
    zur Grösse derTreue gesichert, das so
    besonders unangenehm war.»


Don Juan in Filzpantoffeln


Während Hermine ab demJahr 1914den
von Schlagflüssen geplagten Gatten so-
wie inLazarettenVerwundetepflegte
und HeinrichReiter auf Distanz hielt,
betrachteteRobert dieFront-Jahre als
Urlaub von derFamilie. DieTrafoier Eis-
wandan der SüdtirolerFront warkeine
schlechte Metapher für die Unterkühlung
seinesVerhältnisses zu den Eltern.
Sie bekamen offenbar oft wochen-
langkeinePost von ihm, worüber sich
Hermine bei der Schwiegertochter Mar-
tha bitter beklagte. Zu einem Besuch in
Brünn kam es gar erst imFebruar 1918 an-
lässlich der Prostataoperation bei Alfred


  • einWiedersehen nach dreieinhalbJah-
    ren. Dort, in derAugustinergasse 10, er-
    leb te er ein Idyll vor dem Hintergrund
    einer «Operation auf Leben undTod».
    Zum ersten Mal lässt er Heinrich
    Reiter selbst zuWort kommen. «Er-
    zählt:Das hats Minnerl gern, wenn sie
    imroten Stuhl sitzen kann und wir ma-
    chen einrechtesGemurmel, der Donath,
    der Alfred und ich. Und sie hört hie und
    da ein bissel zu und schlaft dann wieder.
    Daruht sie sich am besten aus.»
    Das hat den Charme eines DonJuan
    in Filzpantoffeln. Mehr Caritas als Eros.
    Und das ist die Entwicklung der letzten
    Jahre. Je kränker Hermine und Alfred
    werden,desto wichtiger werden die
    pflegerischen QualitätenReiters. An
    ihrem letzten Krankenbett sitzt er, nicht
    Alfred, der zu solchenTag- und Nacht-
    wachen nicht mehr in derLage ist.
    «Sie war in ihrer Krankheit [Diabetes
    im Endstadium] oft sehr zornig. Sie liess
    Heinrich15mal hintereinander, immer
    zorniger denPolster umdrehn. Er macht
    nach, wie sie ihn anfletschte, Zähne ent-
    blösst, beideKiefer vorgeschoben, und
    ist gerührt darüber.. .» «Heinrich zeigt
    es mir. In diesem Zimmer ist sie ge-
    storben. Und platzt heraus;sein Unter-
    kiefer schiebt sich hakenförmig vor.»
    «Papa willkeinenTrost mit Möglichkei-
    ten. Sein Schmerzist: nie mehr wird das
    wieder sein. Alles soll weg, was ihn erin-
    nert.Ich bin mit ihr zum Einsiedler ge-
    worden, sagt er, nimms nicht übel, ich
    bin auch lieber ohne Dich.»
    «Fürchterlicher Zustand: man möchte
    etwas Liebes tun oder sagen. Man will
    nicht begreifen, dass es nicht mehr mög-
    lich ist. Ich habe ja nicht Abschiedge-
    nommen,es ist unabgeschlossen: es ist
    nicht für mich zuende, nur für sie. Die
    sie hinsiechen gesehn haben, sind vor-
    bereiteter; da ist eine Erlösungskompo-
    nente auch für sie.»
    Musil vollzog den Abschied vier
    Jahre später in seiner Novelle «Die
    Amsel», die1928 erstmals in der «Neuen
    Rundschau» erschien. Im «Mann ohne
    Eigenschaften» und seinenVorstufen
    war dieRolle der Mutter ausgespart.
    Musil hatte zuRecht das Gefühl, dass
    er diese Lücke schliessen musste, ja, dass
    vielleicht seine Arbeitskrise hinsichtlich
    des grossenRomans mit diesemVer-
    säumnis zu tun hatte.
    In diesem neuenTe xt, der in einem
    soehrenden Sinne wie möglich ein
    Lückenbüsser war, versuchte er, eine
    Bilanz der mütterlichen Existenz zu zie-
    hen, nicht ohne kritischeTöne in dem
    Gesang, in den er die Mutter, den Him-
    melsvogel, verwandelte. Er nannte die
    Mutter eine «Löwennatur.. ., in das
    wirklicheDasein einer mannigfach be-
    schränktenFrau gebannt».


Eine Beute derNervosität


«Sie war nicht klug nach unseren Begrif-
fen, siekonnte von nichts absehen und
nichts weit herholen; sie war, wenn ich
mich an meine Kindheit erinnere, auch
nicht gut zunennen,denn sie war heftig
und von ihren Nerven abhängig;und du
magst dir vorstellen,wasaus derVerbin-
dung von Leidenschaft mit engen Ge-
sichtsgrenzen manchmal hervorgeht.
Aber ich möchte behaupten, dass es
eine Grösse, einen Charakter gibt, die
sich mit derVerkörperung, in der sich
ein Mensch für unsere gewöhnliche Er-
fahrung darstellt, heute noch so unbe-
greiflich vereinen, wie in den Märchen-
zeiten Götter die Gestalt von Schlangen
undFischen angenommen haben.»
ImRückblick auf seinen «Nachlass zu
Lebzeiten» notierte Musil:«Es ist mir in
der ‹Amsel› nicht gelungen, die Stärke
meiner Mutter auszudrücken, die schein-
bar in nichts bestand.. .Es war oft ein
hoher affektiver Druck hinter ihren
Reaktionen, u. dieser war in edlen und
sympathischen Grundsätzen stabilisiert.
Leider auch dieBeuteihrer ‹Nervosität›.»
Es fehlten in diesem Gesang offenbar
manche Höhen undTiefen, die dem Un-
vermögen wie der Schweige-Bitte der
Verstorbenen zum Opfer fielen.
Litt Musil, wie mancheAugenzeugen
behaupten, unter seiner Mutter schlim-
mer als Rilke unter der seinen? Ein Ge-
dicht Rilkes aus dem Oktober 1915 be-
ginnt mit demVers: «Ach wehe, meine
Mutterreisst mich ein.» Die letzte Stro-
phe hebt noch deutlicher an:«Von ihr zu
mir war nie ein warmerWind.»
Vielleichtkönnen die hohen Her-
ren auf demParnass das unter sich
ausmachen.

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