Neue Zürcher Zeitung - 22.02.2020

(Frankie) #1

Samsta g, 22. Februar 2020 GESELLSCHAFT 49


Damit sie bleiben können


InSchweden erkranken Kinder aus Flüchtlingsfamilien immer wiederam«Resignationssyndrom». Ausgerechnet


dieoffeneGesellschaft könntedie Entstehungdiesesseltsamen Phänomensbegünstigt haben. VONRUDOLFHERMANN


Schweden stand vor einem medizini-
schenRätsel.1998 war im hohen Nor-
den desLandes der ersteFall einer selt-
samen Krankheit beobachtet worden:
Ein durch stark traumatisierende Er-
lebnisse belastetes Kind fällt zuerst in
einen Zustand der Lethargie und be-
ginnt nach und nach physisch und geistig
aus dem Leben zu gleiten. Es isst nicht
mehr, bewegt sich nicht mehr, kommu-
niziert nicht mehr. Ohne ärztliche Hilfe
stirbt es.
Seltsam war nicht nur die Krankheit
an sich,sondernauch, bei wem und wo
sie auftrat. Betroffen waren Kinder und
Jugendliche ausFamilien Asylsuchender,
deren Antrag in erster Instanz abgelehnt
worden war. DieFamilien stammten fast
ausschliesslich aus demWestbalkan oder
aus Nachfolgestaaten der Sowjetunion.
Registriert aber wurde das Phänomen
nur in Schweden. Dort schien es sich


rasch auszubreiten; allein bis 2006 wur-
den rund 450Fälle festgestellt.
Seltsam war nicht zuletzt auch die
einzige erfolgreiche Art der Heilung.
Für das Abgleiten derPatienten in eine
vollkommene Apathie konnten die
Mediziner keine physiologische Ur-
sache ausmachen. Entsprechend schwer
tat man sich mitTherapieansätzen. Hel-
fenkonnte jedoch die Staatsverwaltung:
indemsie der betroffenenFamilie eine
ständigeAufenthaltsgenehmigung er-
teilte. Danach gesundeten die Kinder in
derRegel innertWochen.


Offene Politik führt zuTabus


In einerWegleitung der schwedischen
Sozialbehörde (Socialstyrelsen) von
2013 zum «Resignationssyndrom» hiess
es denn auch, die Gewährung einerAuf-
enthaltsbewilligung habe sich als die
weitaus erfolgreichste «Behandlungs-
methode» erwiesen. Zudem wurde die
wichtigeRolle der Eltern im Behand-
lungsprozess unterstrichen. Sie soll-
ten dem kranken Kind ein Gefühl von
Sicherheit und Zukunftsvertrauen ver-
mitteln.
Der heute 25-jährige Nermin (Name
geändert) hat umgekehrt gerade wegen
derRolle seiner Eltern monatelang an
dieser Krankheit gelitten. Nermin be-
hauptet jedenfalls, seine Eltern hätten ihn
gezwungen, die Krankheit zu simulieren,
um derFamiliezueinerAufenthaltsbewil-
ligung zu verhelfen. Er kamals Zehnjähri-
ger nach Schweden. Als er zwölf war, ver-
suchte er sich umzubringen, da er an der
Situation verzweifelte. Seine Geschichte
hat der schwedischeJournalist Ola Sand-
stig aufgeschrieben.Nermin hat ihm eine
Vollmacht für den Zugang zur gesamten
Krankengeschichte und zu den Akten der
Migrationsbehörde gegeben.
Sandstigs Bericht wurde im Herbst
2019 in «Filter» publiziert,einem an-
erkannten Göteborger Nachrichten-
magazin. Erstmals wurde das Problem
primär aus derPerspektive zweier Kin-
der – ausser aus Nermins auch aus jener
eines Mädchens aus Armenien – be-
leuchtet. Die heute jungen Erwachse-


nenkommen sich verraten vor, und das
nicht nur von ihren eigenen Eltern, son-
dern auch von den schwedischen Insti-
tutionen, die sie vor diesen Eltern nicht
zu schützen vermochten.
DerJournalist brach einTabu, als er
dieFrage in denRaum stellte, ob die
Krankheit simuliert seinkönnte. Zwar
erwähnte bereits eine frühere staat-
liche Untersuchung diese Möglichkeit.
Jedoch wollte die Öffentlichkeit nichts
davon wissen. Schweden verstand sich
bis zur grossen Flüchtlingskrise von
2015 als «humanitäre Supermacht» mit
einer für Asylsuchende weit offen ste-
hendenTür. In der öffentlichen Diskus-
sion oder unter Arbeitskollegen war
es heikel, auch nur ansatzweiseVorbe-
halte gegenüber der offenen Migrations-
politik zu äussern. Der Rassismus-
vorwurf warrasch zur Hand. Diesem
wollte sich niemand aussetzen, schon
gar nicht, was das dramatischeResigna-
tionssyndrom betraf: Eine leidgeprüfte
Familie der Unehrlichkeit zu verdächti-
gen, galt als monströs.
Doch Ungereimtheiten hatte es da-
bei fast von Anfang an gegeben. So
zweifelte das Pflegepersonal an der
Echtheit gewisser Krankheitsfälle, hielt
aber angesichts der gesellschaftlichen
Stimmung still.Auch dieTechniker eines
Fernsehteams, das vor fünfzehnJahren
über dasThema berichtete, wunderten
sich über die kranken Kinder, die, sobald
sie sich unbeobachtet fühlten, «ziemlich
frisch» wirkten.
Die für die Sendung verantwort-
lichen Journalisten erwähnten die
Betrugsverdächtigungen zwar, taten sie
aber als grundlose Gerüchte ab. Die
2006 ausgestrahlte Reportage stiess
in der Öffentlichkeit auf grossen Bei-
fall und bestimmte denTon der Be-
richterstattung in den nachfolgenden
Jahren.
Umso mehr schlägt nun der Bericht
im Magazin «Filter» ein. Die Anschuldi-
gungen der Kinder wiegen schwer. Zwar
ist damit nicht gesagt, dass die insgesamt
knappüber tausendFälle, bei denen das
Resignationssyndrom festgestellt wurde,
allesamt dasResultat von Manipulation

waren. Doch den Umkehrschluss las-
sen sie zu: Manipulation ist möglich und
kam tatsächlich vor.
Die psychischen Symptome der
Patienten verlangten gleichwohl nach
einer Behandlung. Darüber sind sich
die behandelnden Psychiater, Ärzte und
Krankenpfleger einig. Allerdings müs-
sen sie sich nun dieFrage stellen, ob
ihnen bei der Suche nach den Ursachen
der Krankheit nicht das eigeneWeltbild
in die Quere kam. Den Gedanken, dass
dieSymptome zumindest in gewissen
Fällen einResultat unbewussten oder
gar bewussten Kindsmissbrauchs durch
die Eltern seinkonnten, hätten sie in Er-
wägung ziehen müssen.

Münchhausen lässt grüssen


Derrenommierte Kinderarzt Karl Sal-
lin beleuchtete 20 16 in einem wissen-
schaftlichen Artikel dieKontroverse, die
es innerhalb desFachs immerhin gab.
Bereits da nannten mancheVertreter
als mögliche Ursache der angeblichen
Krankheit das Münchhausen-Stellver-
treter-Syndrom.Dabei werden Kinder
von ihren Eltern absichtlich «krank ge-
macht» oder als krank ausgegeben,bis
hin zukörperlicher Schädigung. Als
sekundären Krankheitsgewinn erhalten
die «fürsorglichen» Eltern, die oft medi-
zinische Behandlungen einfordern,Auf-
merksamkeit.Wenn Eltern ihr Kind so
manipulieren, dass esSymptome einer
psychischen Störung zeigt, handelt es
sich ebenso um eineForm der Kinds-
misshandlung.
Diese Hypothese wurde von der
Gegenseite als xenophob abgetan. Statt-
dessen wurde postuliert, das lange und
ungewisse Asylverfahren mit harschen
Befragungsmethoden mache die Kin-
der krank.
Kein Arzt beschuldigt Eltern leicht-
fertig, ihr Kind willentlich zu schädigen
oder gar gezielt zu manipulieren. Beim
Verdacht auf das Münchhausen-Stell-
vertreter-Syndrom wird dasVerhält-
nis zwischen Arzt undPatient plötzlich
von Misstrauenuntergraben.Das Miss-
trauen ist schwierig zurechtfertigen, zu-

mal meistschlüssige Beweise fehlen.
Ohne diese kann man ein Kind seinen
Eltern nicht wegnehmen – was einzig
helfen würde. BeimResignationssyn-
drom hingegen soll gerade die stützende
Beziehung zu den Eltern bewirken, dass
es dem Kind besser geht und eine Be-
handlung erfolgreich seinkann. Man
tastet diese Beziehung also wenn mög-
lich nicht an.
Das war anders in einem Heim
namens Solsidan in der westschwedi-
schen Provinz. Dort stellte man fest,
dass Eltern von Kindern mitResigna-
tionssyndrom diese wie Sterbende be-
handelten. Diesen Ansatz hielt man für
kontraproduktiv und bezog die Kinder
stattdesseninalle Aktivitäten desTages
mit ein. Mit den Eltern arbeitete man
nicht mehr zusammen, wenn diese be-
sonders pessimistisch und verzweifelt
wirkten; allerdings erst nachdem man
zu ihnen einVertrauensverhältnis auf-
gebaut hatte. Obwohl es nicht der gängi-
gen Meinung entsprach, wie das Kinds-
wohl zu wahren sei, trennte man Kinder
und Eltern.
Tatsächlich wurden im Heim Sol-
sidan seit 2006 über dreissig Kinder

vomResignationssyndrom geheilt. Und
zwar, ohne dass denFamilien eineAuf-
enthaltsgenehmigung gewährt worden
wäre. Die damalige Heimleiterin Annica
Carlshamre sagte 2017, aus ihrer Sicht
habe die Krankheit in erster Linie mit
früherenTr aumata derFamilien zu tun
und nicht mit der Asylfrage. Ein Kind,
das erlebt habe,dass seine Eltern ihm
keine Sicherheit mehr gebenkönnten,
verliere die Hoffnung. Um sie wieder-
zugewinnen, müssten dieFamilienbezie-
hungenrepariert werden. Doch dafür
müsse das Kind zuerst gesund werden.

Der weltanschaulicheEinfluss


Erstaunlicherweise fand die Solsidan-
Methode trotz den erreichtenResul-
taten praktischkeineResonanz, weder
in derFachwelt noch bei den Medien.
Wollte man davon nichts wissen, weil
man sich dieWirklichkeit anders zu-
rechtgelegt hatte? ImRückblick drängt
sich die Frage auf, welcheRolle in
Schwedendas Selbstbild der Gesell-
schaft und die Signale, die davon ausgin-
gen, bei der Herausbildung desResigna-
tionssyndroms spielten.Für den Kinder-
arzt Karl Sallin jedenfalls ist dazu auch
ein gesellschaftliches Umfeld nötig, in
dem ein gewisses psychologisch gene-
riertes Phänomen als «legitim» akzep-
tiert wird.
Wie die mysteriöse Krankheit ent-
steht, bleibt zwar unklar. Was zu ihrem
Auftreten führt, istkompliziert, viel-
schichtig und weiterhin wenig erforscht.
Der soziokulturelle Einfluss macht je-
doch plausibel, weshalb die Kinder bis
jetzt in diesemAusmass nur in Schwe-
den«resigniert haben».
Mittlerweile wird der bisherigeKurs
auch bei der schwedischen Sozial-
behörde hinterfragt, die sich lange der
Diskussion verwehrte.Ineiner von ihr
unlängst veranlassten Untersuchung
heisst es, vorläufig wisse man so wenig
über das Phänomen, dass es nicht ge-
rechtfertigt erscheine, die 2014 allein
in Schweden eingeführte eigenständige
DiagnoseResignationssyndrom anzu-
wenden.

Kindermit dem «Resignationssyndrom» fallen in einen Zustand der Lethargieund gleiten nach und nach physisch und geistig aus dem Leben. MARKEARTHY / TT / KEYSTONE

Das Pflegepersonal


zweifelte an der Echtheit


gewisserKrankheitsfälle,


hielt aberangesichts


der gesellschaftlichen


Stimmungstill.


Erteilte die Staats-


verwaltungder Familie


eineständige


Aufenthaltsgenehmigung,


gesundetendie Kinder in


der Regel innert Wochen.

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