Neue Zürcher Zeitung - 22.02.2020

(Frankie) #1

Samstag, 22. Februar 2020 INTERNATIONAL 5


Das Virus revolutioniert Japans Arbeitswelt


Zum Schutz gegen die Ausb reitung des Co ronavirus fördert das Land die Telearbe it


MARTINKÖLLING,TOKIO


InJapan hat die Coronavirus-Epidemie
anscheinend ein willkommenes Opfer ge-
fordert: die Grippesaison. In der vergan-
genenFebruarwoche hätten sich 60 Pro-
zent weniger Menschen mit dem viralen
Massenmörder infiziert als einJahr zu-
vor, meldetJapans Gesundheitsminis-
terium. Die NachrichtenagenturKyodo
spekulierte prompt, dass dies der in der
Öffentlichkeit verbreiteten Angst vor
dem neuen tödlichen Coronavirus zu ver-
danken sei.
Tatsächlich hat dasLandseinebisher
schon üblicheVorbeugung in den letzten
Wochen noch einmal drastisch gesteigert.
Schonseit Jahren tragenJapaner inBah-
nen Masken, um sich selbst zu schützen
und vor allem eigeneViren nicht wei-
terzugeben. Zudem laden in vielen Ge-
bäudelobbys, Büros, Restaurants und Ge-
schäften Alkoholspender zum Desinfizie-
ren der Hände ein. Doch nun tragen auch
die Unternehmen und Behördenmit
radikalen Massnahmen undVeränderun-
gen der Arbeitskultur dazu bei, die Mög-
lichkeit von Ansteckungen massiv zu sen-
ken. Denn inzwischen schwingt im ganzen
Land die Angstmit, dass dieOlympischen
SommerspielevonTokio in eine andere
Stadt verlegt werdenkönnten.


Digitale Morgenkonferenz


«Ich sorge mich,dass Athletenaus ande-
ren Ländern nicht kommen wollen,
wenn sich dieLageinJapan verschlech-
tert», sagt Musashi Imon, ein Angestell-
ter derTokioter Börse. Auch der japani-
scheVirologe Hitoshi Oshitani von der
Tohoku-Universität will das Horror-
szenario nicht ausschliessen, dassJapan
ohne Erträge auf Milliardeninvestitionen
sitzenbleibenkönnte. Noch übt er sich
allerdings in Zuversicht.«Wahrscheinlich
werden wir imJuli keine grossenAusbrü-
che haben», meint er. Denn dieRegie-
rung, die Unternehmen und die Bevöl-
kerung griffen die möglichen Infektions-
wege des Coronavirus wirklich auf brei-
terFront an.
Die StadtTokio lässt beimjährlichen
Massenmarathon nur noch professionelle
Läufer an denStart. Messen werdeneine
nach der anderen gestrichen. DieTokyo
Game Show ersetzteamFreitag ihreAuf-
taktpressekonferenz für die Spielemesse
im September durch eine dürre Presse-


notiz, Nissan den Event für seinen er-
neuerten MinivanRoox durch eine Live-
Übertragungim Internet.
Auch intern greifen dieFirmen durch.
Eine Managerin einesWertpapierhauses
wurde nach derRückkehr aus China für
14 Tage nach Hause geschickt, damit sie
dort die Inkubationszeit aussitzenkonnte.
«Ich habe mir dannein Notebook eines
Kollegen geliehen und von meinerWoh-
nung aus gearbeitet», erzählt sie. Nur zum
Einkaufen ist sie jeweils kurz nach draus-
sen gegangen. Als Ersatz für ihrJogging
am nahen Fluss kaufte sie sich einTr ai-
ningsrad für dieWohnung.
Nun arbeitet sie wieder in derFirma.
Doch das Arbeitsklima hat sich schlag-
artig verändert. Die traditionelle Mor-
genkonferenz desTeams findet plötzlich
digital statt. Der vortragende Mitarbeiter
sitzt nunallein imKonferenzzimmer, der
Rest wählt sich von den Arbeitsplätzen
ein, meist mit Masken vor dem Gesicht.

Der Atemschutz wurde sogar zu einem
Werbegeschenk an die Schalterkunden
des Brokers aufgewertet. Und die Mas-
ken dürften dankbar angenommen wer-
den, denn in Drogerien sind sie inzwi-
schen meist ausverkauft und werden –
wenn vorrätig– nurrationiert abgegeben.
Der Broker ist damitTeil einer natio-
nalen Massenbewegung. Selbstquaran-
täne für China-Rückkehrer ist weit ver-
breitet, Chinareisen werden meist gestri-
chen. Und viele Unternehmen, die bisher
auf die Anwesenheit ihrer Mitarbeiter
grossenWert legten, ermutigen die Be-
legschaft plötzlich dazu, von zu Hause
aus zu arbeiten.
Toyota beispielsweise veröffentlichte
am18. Februar eine umfassende Leit-
linie, die sich fürJapan wie einAufruf
zu einerKulturrevolution liest. Die Mit-
arbeiter sollten flexible Arbeitszeiten
nutzen oder von zu Hause aus arbeiten,
um Menschenansammlungen in voll-

gestopften Zügen in den Stosszeiten zu
vermeiden.Weniger wichtige Geschäfts-
treffen und Seminaresollten gestrichen,
interne Meetings verschoben oder durch
Videokonferenzen ersetzt werden.
Noch ist offen, ob die Telearbeit
vom politischen Slogan derRegierung
dank der Epidemie tatsächlich zu einem
dauerhaften Hit wird.Ausgeschlossen ist
es nicht. Immerhin nutzt dieRegierung
dieVirusangst, um ihre nationale Kam-
pagne zurReform der Arbeitskultur zu
fördern. In ihrem just veröffentlichten
Firmenleitfaden zum Umgang mit der
Epidemie und Erkrankten führt ein pro-
minenterLink die Firmen zum umfassen-
denTelework-Portal des Ministeriums
für Gesundheit, Arbeit undWohlfahrt.
Einen Hinweis auf gebührenfreie Bera-
tungshotlines gibt es gleich noch dazu.
Die Massnahmenkommen bei den
Japanern teilweise gut an. AlsFamilien-
vater schätzt der Börsenangestellte Imon

dieMöglichkeit, mehr von zu Hause aus
zu arbeiten.Unddies nicht nur, weil er so
das Ansteckungsrisiko für das Kind sen-
ken kann.Auch das Leben gewinnt bei
mehrWork-Life-Balance.
DerVersicherungsmanager Seitaro
Tasaki, der nun für eine zweite Karriere
alsJurist studiert, nimmt diese neuen
Wahlmöglichkeiten ebenfalls erfreut zur
Kenntnis. Allerdings sieht er diereihen-
weise Absage vonMessen und Meetings
kritisch: «EinigeTr effen sind wichtig und
sollten nicht gestrichen werden.»
Noch harscher geht er jedoch mit dem
Entschluss derRegierung ins Gericht,
bisher nur Chinesen aus den Provinzen
Hubei und Zhejiang die Einreise zu ver-
weigern. «Das ist vielleicht verständlich,
weil wir vieleVerbindungen mit China
haben und dieRegierung die angespann-
ten Beziehungen zu demLand verbes-
sern will», meint der 40-Jährige. «Aber
dieKontrollen sollten strikter sein.» An-
dereLänder hätten schliesslich auch die
Grenzen dichter gemacht.

Nach Südkoreaan dritterStel le


Auch die laxe Behandlung derPassa-
giere vom Kreuzfahrtschiff «Princess
Diamond», auf der 3700Passagiere und
Crewmitglieder 14 Tage lang in Quaran-
täne leben mussten, irritiert einigeJapa-
ner. BisFreitag wurden allePassagiere,
die negativ auf das Coronavirus getestet
worden waren, von Bord gelassen. Die
HongkongerinYardleyWong beschwert
sich aufTwitter darüber, dass sie undan-
dere ehemaligePassagiere auf einmal als
Gefahr für die Öffentlichkeit beschrie-
ben würden. Denn vieleJapaner fürch-
ten offenbar, dass mit den Menschen
auchViren von Bord gingen.
Tatsächlich ist das Kreuzfahrtschiff
mit 632 positiv getestetenFällen und zwei
Todesopfern der grössteViren-Hotspot
ausserhalb Chinas. Das amerikanische
Seuchenkontrollamt hat davor gewarnt,
dass auchPersonen, die aus der Qua-
rantänekommen, sich schon angesteckt
habenkönnten. Dabei hatJa pan mit loka-
len Ansteckungen anLand schon genug zu
kämpfen. Bisher wurden landesweit 106
Virusträgerregistriert.Ausserhalb Chi-
nas hat nur Südkorea mehrFälle. Dort ist
die Zahl der Infizierten dieseWoche nach
einem lokalenAusbruch des Coronavirus
in der Millionenmetropole Daegu bis
Freitag auf 204 emporgeschnellt.

Ein Kontrolleurmisst dieTemperatur einerFrau, die das Kreuzfahrtschiff «Princess Diamond» verlassendarf. FRANCK ROBICHON/EPA

Die Corona-Epide mie wütet in südkoreanischer Sekte


Auch in der Schweiz gewinnt die christliche Sekte Shincheo nji immer mehr Anhänger


KATRIN BÜCHENBACHER


Südkorea steht heute da, wo China vor
zwei Monaten stand. ImVerlauf des
Freitags sei die Zahl der mit demVirus
Covid-19 Infizierten auf 208 gestiegen,
meldeten die südkoreanischen Zentren
für Krankheitskontrolle und Prävention.
Am Montag zuvor waren es lediglich 31
gewesen. Brutstätte desVirus scheine
di e Kirchgemeinschaft Shincheonji in
derRegion umDaegu im Südosten
desLandes zu sein, berichtet die süd-
koreanische NachrichtenagenturYon-
hap. Daegu hat 2,4 Millionen Einwoh-
ner. Mehr als die Hälfte der Krankheits-
fälle lassen sich auf Mitglieder der Ge-
meinschaft zurückführen.
KwonYoung Jin, der Bürgermeister
vonDaegu, empfahl den Einwohnern
der Stadt, zu Hause zu bleiben. An einer
Pressekonferenz am Donnerstag sagte
er:«Wir befinden uns in einer nie da ge-
wesenen Krise.»
Shincheonji ist eine umstrittene
christliche Kirchgemeinschaft, die 1984
in Südkorea gegründet wurde. Laut eige-
nen Angaben zählt sie weltweit 20 0 000
Anhänger. Shincheonji glaubt, dass die
Bibel verschlüsselt sei. Die Textekönn-
ten nur vom Gründer der Gemeinschaft,
Man Hee Lee, richtig gedeutet werden.
Mitglieder müssten sich den Zielen
der Kirche unterordnen und ihr sozia-


les Umfeld über die Organisation und
deren Ziele belügen, sagtenAusstei-
ger gegenüber der Schweizer Informa-
tions-Site «Relinfo». Die Site wird von
denreformierten Kirchen der Deutsch-
schweiz unterstützt.

Die Superverbreiterin


Die Behörden vermuten,dassdie Ver-
breitung desVirus von einer 61-jähri-
genFrau ausging –Patientin Nummer


  1. Siekönnte eine sogenannte Super-
    ve rbreiterin sein, die eineVielzahlvon
    Menschen mit dem Coronavirus infi-
    ziert hat.Wosich dieFrau ursprünglich
    angesteckt hat, ist unklar. Fest steht: Sie
    ist Mitglied von Shincheonji und hat die
    Gemeinde inDaegu viermalbesucht,
    bevor und nachdem sie die erstenSym-
    ptome verspürt hatte, wie die Nachrich-
    tenagenturYonhap berichtet.
    Ein ehemaliges Mitglied der Sekte
    erläuterte gegenüberYonhap, dass die
    Anhänger während der Gottesdienste
    nahe beieinander knieten. Sie sängen
    Lieder, während sie die Arme um die
    Schultern ihrer Nachbarn legten.Das
    könnte dieAusbreitung desVirus be-
    günstigt haben. Zwischen 500 und 10 00
    Menschen besuchen die Gottesdienste
    der Gemeinde inDaegu jeweils. Die
    Behörden befragten die mehr als 30 00
    Sektenmitglieder vor Ort undfanden


heraus, dass insgesamt 544Personen
Symptome zeigten.
DenReligionsexperten Georg Schmid,
der die Informations-Site «Relinfo»
betreibt, erreichen viele Berichte über
Aktivitäten der Shincheonji in der
Schweiz. Seit einigenJahren gebe es

eine kleine, sehr aktive Gruppe hierzu-
lande, sagte er gegenüber der NZZ am
Telefon. Doch seit vergangenemJahrsei
die Gemeinschaft offenbar «sehr viel
grösser» geworden. Denn die Organi-
sation wirbt laut Schmid «intensiv und
manipulativ» neue Mitglieder an.Da-
für infiltriere sie «parasitär» Bibelgrup-
pen, stelle sich aber auch anBahnhöfen
öffentlich auf. Am ZürcherBahnhof
Stettbach vor Gottesdiensten derFrei-
kirche ICF seien beispielsweise Shin-

cheonji-Vertreter anzutreffen. Beson-
ders frischbekehrte Gläubige aus dem
Freikirchenmilieu visiere Shincheonji
an,erklärt Schmid. Diese interessierten
sich für die Bibel, wüssten jedoch noch
nicht viel darüber. Deshalbkönnten die
Lehren der Shincheonji bei ihnen leich-
ter ihreWirkung entfalten.
So glauben die Sektenmitglieder,
dass derFührer der Gemeinschaft, Lee,
die heilige Dreieinigkeit inPerson sei
und die Gemeinschaft das neueJerusa-
lem. Bei der Anwerbung neuer Ange-
höriger verbergen die Mitglieder ihre
Zugehörigkeit zu Shincheonji. Die Ge-
meinschaft tritt unter dem Deckmantel
vonTarnorganisationen auf oder unter
dem Namen «Heavenly Culture, World
Peace, Restoration of Light» (HWPL).

Unsterblichkeit infrage gestellt


Die Behörden gehen davon aus, dass
der Ursprung desVirenausbruchs in
Cheongdo liegt. Cheongdo liegt eine
halbstündige Zugsreise südlich von
Daegu und ist der Geburtsort von Lee.
Die Beerdigung von Lees Bruder fand
vom 31. Januar bis zum 2.Februar in
einem Spital in Cheongdo statt. Viele
Mitglieder hätten der Beerdigung bei-
gewohnt, berichtetYonhap, unter ihnen
auch die mutmassliche Superverbrei-
terinPatientin Nummer 31. Der erste

Todesfall des Coronavirus in Südkorea
vom Mittwoch und 19 weitereFälle wur-
denausCheongdorapportiert. Südkorea
hatDaegu und Cheongdo inzwischen zu
speziellenKontrollzonen erklärt.
Dass die Sektengemeinschaft zur
Brutstätte des Coronavirus geworden
ist, deutet Schmid als «grosse Gefahr
für die Organisation», erstrecht, falls
der Shincheonji-Gründer Lee sich an-
gesteckt haben sollte. Lee gilt nämlich
als unsterblich. Doch der imJahr 1931
geborene Lee sei bereits gesundheit-
lich angeschlagen gewesen, bevor Co-
vid- 19 unter den Sektenmitgliedern ge-
wütet habe. Der Mythos um ihn droht
zusammenzubrechen. Lee sagte sei-
nen Anhängern lautYonhap, dass Co-
vid- 19 einvomTeufel geschicktesVirus
sei, das dieVerbreitung des zunehmend
populären Glaubens von Shincheonji
blockieren solle.
Shincheonji hat mittlerweile alle der
zwölf Kirchen im Land geschlossen.
Gottesdienste führt die Organisation
weiterhin online durch.
In Südkorea hat das Christentum
grossen Zulauf. Heute sind 29 Prozent
der Bevölkerung Christen.Das ameri-
kanische Meinungsforschungsinstitut
PewResearch Center ermittelte, dass
Religion in Südkorea kaumreguliert sei
und eine hohe sozialeToleranz gegen-
überReligion bestehe.

Der Shincheonji-
Gründer Lee sagt
seinen Anhängern,
dass Covid-
ein vomTeufel
geschicktesVirus sei.
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