50 GESELLSCHAFT Samstag, 22. Februar 2020
BESONDERE KENNZEICHEN
Die Trouble-Makerin
Barbara Lüthiwurde als KorrespondentininPekingmehrmals festgenommen. Auchim«Club»von SRF gibtdie
Alleinerziehendealles für ihren Job.Und sie weiss, woChina der Schweiz weit vorausist. VONROBINSCHWARZENBACH
Für Barbara Lüthi ist der «Club» vom
vorletzten Dienstag ein Heimspiel.
China liegt der früheren China-Korre-
spondentin von SRF immer noch am
Herzen. Und weil sich das Coronavirus
und seineAuswirkungen imReich der
Mitte hartnäckig in den Schlagzeilen
halten, hat sich daskleineTeam der
Fernsehsendung für diesesThema ent-
schieden – und gegen einenTalk zum
Abgang des CS-ChefsTidjaneThiam
im Zuge der Überwachungsaffäre, der
am Freitag davor bekanntgeworden war.
Das Bankenbeben wäre aktueller gewe-
sen. Doch dieRunde und die Informa-
tionen, die Lüthi und ihre Crew einen
Tag vor der Sendung zu Corona beisam-
menhatten, überzeugten mehr.
«Journalismusist mein Leben!»
Dienstag, im Büro der «Club»-Redak-
tion.Die Uhr tickt.Bis zurAufzeichnung
am frühen Abend bleiben nur wenige
Stunden. Doch das scheint Lüthi nichts
auszumachen. «Journalismus ist kein
Job, er ist mein Leben!», sagt die 46-Jäh-
rige, als sie zusammen mit der Produzen-
tin das Skript der Sendung noch einmal
durchgeht.Lüthi,ihre engste Mitarbeite-
rin Erika Burri undPeter Hossli haben
in denTagen zuvor mehrere Gespräche
geführt mit möglichen und mit den tat-
sächlichen Gästen der Sendung.Aus die-
sen Recherchen ergeben sichFragen an
die betreffenden Gesprächspartner in
der Runde, die sich ihrerseits zuThemen-
blöcken formen lassen: Wie ist die Situa-
tion vor Ort?Was macht dieRegierung?
Und welcheFolgenkönnte dasVirus für
das Regime inPeking haben?Wer sagt
was wozu und warum? Und werkönnte
was ergänzen, wie kontern?
Das gibt der Sendung eine Struktur
und den Zuschauern Orientierung. Und
es gibt viel zu tun – auch wenn das mit
einemAuftritt proWoche am Bildschirm
kaum zu vermitteln ist: Ein paar Gäste
einladen, die Leute «ein bisschen plau-
dern lassen» vor der Kamera... Ist das
ein Fulltime-Job? DieseFrage müssen
sich Lüthi(100 Prozent) und Burri (90
Prozent) immer wieder anhören.Das
regt die beiden «Club»-Macherinnen
zwar auf, doch dafür bleibt imFernseh-
alltagkeine Zeit.Das Skype-Gespräch,
das Lüthi mit einerPassagierin des fest-
gesetzten Kreuzfahrtschiffs «Diamond
Princess» geführt hat, muss noch fertig
übersetzt und bereitgemacht werden;
die SRF-Korrespondentin in Schanghai
wird noch einmal gebrieft, bevor sie am
Abend «live-to-tape» zugeschaltet wird.
Termin imAussenministerium
Ob sie jetzt gerne selber in China wäre,
um über das Coronavirus zu berichten?
«Ja» , sagt Lüthi. Man merkt, dass die
Antwort aus tiefer Überzeugungkommt.
Als Korrespondentin hatte sie stets den
Drang, den Ort des Geschehens einzu-
fangen, Nähe zu transportieren, bei den
Leuten zu sein. Nach dem verheerenden
Tsunami inJapan 2011reiste sie nach
Fukushima; von der Erdbebenkatastro-
phe in der chinesischen Provinz Sichuan
mit über 70000Toten berichtete sie 2008
ebenfalls vor Ort. «10 vor 10»-Zuschauer
konnten erleben, wie Lüthi und ihr
Kameramann von einem Nachbeben da-
von rannten.
Diese Risikobereitschaft zeigte sie
auch beiThemen, die denKommunis-
ten in Peking nicht genehm waren. Ihre
«Betreuerin» imchinesischenAussen-
ministeriumsagte einmal bei einem der
monatlichenTreffen, in denen Lüthi
ihre nächsten Beiträge jeweils kurz vor-
stellte: «Barbara, du bist einTrouble-
Maker.» Aber man liess sie gewähren–
solangekeine «roten Linien» derPartei
überschritten wurden beiThemen wie
Tibet oder der uigurischen Minderheit.
In achtJahren als China-Korrespon-
dentin wurde Lüthi über zehnmal fest-
genommen. Sie habe immer damit ge-
rechnet, dass sie einesTages ausgewie-
sen werde, sagt sie.
Lüthi, die unerschrockeneReporte-
rin aus demWesten, die einem autoritä-
ren Regime mit Mikrofon und Kamera
entgegentritt – und ihrem Publikum
somit eine «fast ausschliesslich nega-
tive Sicht auf China» zumutete, wie die
«Weltwoche» kürzlich kritisierte?
Die «Club»-Leiterin winkt ab. Sie
hat ihre Beiträge im Archiv überprüft.
Lüthi sagt: «Ich habe mich mit der un-
widerstehlichen Dynamik vonChina be-
fasst. Und ich wäre nie so lange dort ge-
blieben, wenn ich diesesLand und seine
Menschen heute nicht total vermis-
sen würde. Aber ich halte es für meine
Pflicht, auf Despotismus, Willkür und
Gewalt hinzuweisen.»Dass manPeking
gegenüber Haltung zeigen muss, ist für
sie nichtverhandelbar. Auch nicht als
Moderatorin im «Club» von SRF. Lüthi
ist viel zu sehrJournalistin, als dass sie
sich mit netten Stichworten begnügen
würde. Wenn Kurt Haerri von der Han-
delskammer Schweiz-China die Mög-
lichkeiten hiesigerFirmen imReich der
Mitte als phantastisch bezeichnet, hakt
sie ein und fragt:«Wo ist die Grenze?»
Mit Blick auf einRegime, das über eine
Million Uiguren «in KZ-ähnlichen Zu-
ständen» einsperren lasse? Mit Blick auf
die Proteste in Hongkong?
Fragen stellen, zuhören, immer neu-
gierig bleiben.Das hat Lüthi von ihrem
Vater gelernt, einem früheren Medien-
trainer. Ihre Mutter führte einen Mär-
chenbuchladen in Zürich und war als
Vorleserin auch amRadio zu hören.
Wenn eskalt war imWinter, setzte sie
kurzerhand denBalkon unterWasser,
damit die Kinder ihr eigenes Eisfeld
hatten.Von ihr hat sie das Unkonven-
tionelle, das Unbändige, die fröhliche
Unbekümmertheit. Und von beiden das
Vertrauen, Neues auszuprobieren. Als
Kind interviewte Lüthi wildfremde Men-
schen im Zug, mit einer Haarbürste als
Mikrofon – und nicht ohne selber per-
sönliche Dinge derFamilie preiszugeben.
Als sie in China Mutter wurde, nahmsie
das Baby immer mit aufReportage.
Sie kann nichtanders
Heute lebt Lüthi mit ihren zwei Kindern
in einer Siedlung in der Nähe desFern-
sehstudios in Zürich. Die Ehe mit einem
tschechischen Asien-Korrespondenten
gin g vor dreiJahren auseinander; seit
zweiJahren leitet sie den «Club», eine
der wichtigsten Diskussionssendungen
des SchweizerFernsehens. Die Kinder
besuchen eine Primarschule mit Mit-
tagstisch und Hort, am Dienstagabend
kümmert sich eine guteFreundin um sie.
Lüthi praktiziert, was in China selbst-
verständlich und in der Schweiz immer
noch ungewöhnlich ist.Das habe sie
«hammerhart» zu spüren bekommen,
als sie aus Hongkong zurückgekommen
sei. Tagesschulen mit Betreuungszeiten,
die sich nach berufstätigen Eltern rich-
ten (und nicht umgekehrt), sind selbst in
Zürichkeine Selbstverständlichkeit. Die
Erwartungshaltungist eineandere. Das
spüren sogar kleine Mädchen. Lüthis da-
mals achtjährigeTochter sa gte kurz nach
dem ersten Schultag zu ihr: «Ithink here,
as a girl, it’s not very cool to be bossy.»
Dazu passt, dassFrauen zurückhal-
tender sindals Männer, wenn sie von
der «Club»-Redaktion angefragt wer-
den, in die Sendungzu kommen. Ob-
wohl sie genauso vielWissen mitbrin-
gen. Doch auch hier kann Lüthi nicht
anders, als alles zu geben und es noch-
mals und nochmals zu probieren für
eine ausgeglicheneRunde. Vom Ideal
der perfekten Mutter, dem viele berufs-
tätigeFrauen nacheiferten, hält Lüthi
allerdings gar nichts. Selbst sie, die oft
um fünf Uhraufsteht, um inRuhe zu
recherchieren, kann nicht alles stem-
men. Mit demReporterdasein in Asien
hat sie abgeschlossen, den Kindern zu-
liebe. Und weil der ständigeWandel in
China zermürben kann.Langweilig wird
ihr trotzdem nicht. Bis zum nächsten
«Club» sind es noch dreiTage.
Dass man dem Regime
in Peking gegenüber
Haltun g zeigen muss,
ist fü r Barbara Lüthi
nicht verhandelbar.
Auch nicht als
«Club»-Moderatorin.
Als Kind interviewteBarbara Lüthi wildfremde Menschen im Zug, mit einer Haarbürste als Mikrofon. KARIN HOFER / NZZ