Samsta g, 22. Februar 2020 LITERATUR 51
Hinter Wiens
Riesenrad
endete
schon fast
Europa
Vor nochnicht sehr vielen Jahren lebten wir
mit viel en Grenzen, passierbaren und
unpassierbaren. Anihrem Verschwinden
erkennt man, wie sehr sichdieZeiten
geändert haben. VON MELITTA BREZNIK
Das Reiseschach aus Holz bekam ich
von meinen Eltern zu Ostern, als ich
gerade achtJahre alt war. Kaum hatte
ich meine ersten Spielversuche darauf
absolviert,überkam mich das Bedürfnis,
auf der Innenseite meineKoordinaten
einzutragen. Melitta Breznik,Winkler-
weg, Kapfenberg, Steiermark, Öster-
reich, Europa, Erde , Sonnensystem,
Milchstrasse. Wenn ich das heute lese,
ist es mir ein wenig peinlich, doch muss
ich auch darüber schmunzeln.
Was mich erstaunt, ist die Nennung
von Europa, damals als Begriff im all-
gemeinenVerständnis eher ein Subkon-
tinent und noch nicht so politisch be-
setzt wie heute. Von einer Schulreise
wusste ich, dass es am östlichen Hori-
zont , den man bei einemAusflug auf
das Riesenrad inWien in derFerne er-
ahnenkonnte, eine scharfe Begrenzung
gab, den EisernenVorhang mit seinen
St acheldrähten undWachtürmen, eine
von Menschenhand gefertigteTeilung
eines geografisch zusammengehörigen
Gebietes inWest- und Osteuropa.Was
würde wohl1969 eine tschechische, pol-
nische oder lettische Schülerin in mei-
nem Alter in ihrReiseschach geschrie-
ben haben? Europa?
Wenn man von Kapfenberg mit dem
Zug nachWien fuhr und am Südbahn-
hof dieratt ernden Anzeigetafeln stu-
dierte, wurde einem die Grenze des
EisernenVorhangs immer wieder ins
Unterbewusste gestempelt, denn in der
hohen, düsteren Halle, die den Charme
der fünfzigerJahre verströmte, las ich
im Gegensatz zu heute lediglich Namen
von Grenzbahnhöfen im Inland.
Ein wachsamesAuge
Die an einem langen Kabel von der
hohen Decke hängendeKunstinstalla-
tion, die auf einem Bildschirm ein blin-
zelndesAuge zeigte, das immer wieder
ein klickendes, von weitem hörbares
Geräusch vonsich gab, wenn man lang-
sam mit derRolltreppe von derBahn-
steigebene hinunter in die Schalter-
halle fuhr, war nicht zu übersehen.Das
schwarz-weisseAuge passte so ganz und
gar nicht an diesen trostlosen Unort der
Ankünfte und Abfahrten – oder eben
doch, weil es die Überwachungsmaschi-
nerie als selbstverständliches Alltagszu-
behör thematisierte und in seiner akusti-
schen und optischenAllgegenwärtigkeit
unangenehm berührte. Den Südbahnhof
gibt es nicht mehr, er ist dem Haupt-
bahnhof gewichen, der mit seiner funk-
tionalen Modernität emotionslos den
Ausgangspunkt für eineReise Richtung
Bratislava, Budapest oder Brünn bildet.
Zu «unserem Europa», von Öster-
reich aus betrachtet, gehörte auch ein
bisschen Ungarn, denn manche der Er-
wachsenen fuhren noch immer an den
Plattensee zurKur, aber auch ein we-
nig Kroatien, denn man verbrachte
auf einer kroatischen Insel dieFerien,
wie es die Grosseltern oder Eltern vor
dem Zusammenbruch der Donaumon-
archie bereits getan hatten. Und dann
gehörte natürlich noch ein wenig Slo-
wenien dazu, denn der Heurige in den
Buschenschanken gerade über der
Grenze schmeckte «drüben»in d er süd-
lichen Luft besser als «herüben».
Mit Jugoslawien war das ja immer
schon anders gewesen, die Grenze dort
war nie so dicht erschienen wie die in
den «wirklichen» Osten. In unserem
Arbeitermietshauswohnte ein jugo-
slawischer Gastarbeiter, mit dem man
zwar nicht so viel zu tun haben wollte,
und doch vertrauten alle auf seineKör-
perkräfte, wenn esdarum ging, dass
er der altenWitwe, die imParterre
wohnte, gegen ein paar Schilling den
Garten umstach oder in der Gemüse-
handlung die Kisten mit Kartoffeln auf
den Lastwagen hievte, um dazuzuver-
dienen für seineFrau und die vier Kin-
der in Serbien.
Dass Grossvater selbst in den1920er
Jahren aus dem heutigen Slowenien,der
ehemaligen k. u. k. Untersteiermark,
zeitweiligJugoslawien,auf der Suche
nach Arbeit zugewandert war, wurde in
unse rer Familie nur beiläufig erwähnt.
Eher war nennenswert, dass der Opa,
ein wortkarger dürrer Mann, an dem
ich besonders hing, aus einemWeiler
namens Breznik kam,als ob damit auch
ein Besitzanspruch verbunden sei oder
gar eine ArtAdelsprädikat.
Jahrzehnte später, inzwischen selbst
in der Schweiz sesshaft, sollte ich auf
den Spuren seiner Herkunft diesenWei-
ler besuchen. Als ich mich im Drautal
oberhalb vonRadlje auf demFriedhof
umsah und bei den umliegendenBau-
ern nach meinem Grossvater und unse-
ren Vorfahren fragte, wurde ich freund-
lich aufgenommen. Man telefonierte in
der Nachbarschaft herum, um Erkun-
digungen über den Eduard einzuzie-
hen, Essen wurde aufgetischt,Wein und
Schnaps wurden kredenzt, bis ich kaum
mehr aufrecht stehenkonnte.
Ich fühlte mich seltsam glücklich und
aufgenommen in einer Gemeinschaft,
von der ich nicht wusste, ob sie mit mir
verwandt war. Beim Abschied wandte
ich mich der alten Grossmutter zu, die
ein klassisches, bunt gemustertesKopf-
tuch trug, ein typischesAccessoire der
Landfrauen in südöstlichen Gegenden.
Sie hatte den ganzenTag zu demTru-
bel um meinAuftauchen nur schwei-
gend gelächelt, bis sie dann, zur Über-
raschung ihrerFamilie, einen einzigen
Satz in gestochenem Deutsch an mich
richt ete: «Es freut mich sehr, dass Sie
uns besuchen.»
Sie hatte als Kind noch Deutsch ge-
sprochen, es aber später nie mehr ge-
braucht,eswärenachdemEndedesErs-
ten Weltkrieges, als die Grenzen enger
um Wien gezogen worden waren, auch
nicht mehr opportun gewesen, weil an-
dere Herrscher denTon angaben im
KönigreichderSerben,KroatenundSlo-
wenen,aus dem dann nach dem Zweiten
WeltkriegJugoslawien entstehen sollte.
Gespensterder Bombennächte
Mutter stammte ausFrankfurtam Main,
und als ich siebenJahre alt war, fuhr ich
mit ihr über die Grenze nach Deutsch-
land, um ihre Freundin zu treffen und
Spaziergänge in einer Stadt zu unter-
nehmen, die, wie Mutter stets betonte,
andersaussah als in ihrerJugend, nach-
dem ein grosserTeil der Gebäude durch
die Bombardements im Krieg in Schutt
Eine Schülergruppe aufFerienfahrt imWienerSüdbahnhof. Die Aufnahme entstand imJahr 1970. BARBARA PFLAUM / IMAGNO / KEYSTONE