Neue Zürcher Zeitung - 22.02.2020

(Frankie) #1

52 LITERATUR Samstag, 22. Februar 2020


und Asche gelegt worden war. Am
Abend lauschte ich, obwohl mich die
beiden schon schlafend wähnten, heim-
lich ihren Erzählungen über bange ge-
meinsam verbrachte Stunden während
der Luftangriffe, die sie im Arbeitsdienst
in derFarbenfabrik erlebt hatten, hörte
von den Fliegeralarmen, die meine Mut-
ter in derTe lefonzentrale auszulösen
hatte, bevor die dröhnenden Bomber-
geschwader die Stadt erreichten.
Noch heute bleibe ich erstarrt ste-
hen, und es läuft mir Gänsehaut über
denRücken, wenn in einer österreichi-
schen Stadt, samstagmittags Punkt zwölf
Uhr, der Probealarm der Sirenen metal-
lisch die friedliche Luft durchschneidet.
Die Geschichte unsererFamilie begann
im ZweitenWeltkrieg, alsVa ter in sei-
nerFunktion im Meldedienst derWehr-
macht Mutter am Te lefon mitteilte,
dasseinAngriff bevorstand und sie die
Sirene auslösen sollte.
Schliesslich haben sie sich zwischen
zwei Bombenalarmen zu einem Kino-
besuch verabredet.Jahrzehnte später
sollten sie kläglich an den Gespenstern
scheitern, die sich imLärm der Bom-
beneinschläge, Granatenexplosionen
und Maschinengewehrsalvenin ihren
Körpern eingenistet hatten und deren
unfreiwillige Zeugen mein Bruder und
ich während unseresAufwachsens wer-
den sollten. Die Schreie der französi-
schen Zwangsarbeiter, die nach einem
Angriff in einemKeller gegenüber von
Mutters Dienststelle hilflos verbrannten
undvon denen sie mir immer wieder er-
zählt hatte, höre ich heute noch.
An diese Kriegsgefangenen dachte
ichJahre später, als ich auf einer Brü-
cke über der Seine stand und hinter
denDächern derPariserWohnhäuser
die blaue Stunde den Himmel über-
ziehen sah, die ich nirgendssonst in die-
ser Intensität wahrgenommenhabe. Ich
war zu Beginn der neunzigerJahre das
erste Mal für ein paarWochen inParis,
hatte um dieWeihnachtszeit einige Zeit
dort verbracht und verlebte dieTage in
den Cafés undMuseen der Stadt, ver-
sunken in die Niederschrift meines ers-
ten Buches.


Die kleine PariserWohnung, die
mir zurVerfügung stand, lag im obers-
ten Stock eines alten Bürgerhauses, in
meiner Erinnerung sehe ich den mit
quadratischen weissen und schwarzen
Fliesen gekachelten Boden der schma-
lenKüche, die hohen, schlecht schlies-
sendenFenster, die Holzwendeltreppe
im Gang, dieAttrappe einesoffenen
Kamins mit einem Gasofen und dem an
denRändern facettierten Spiegel dar-
über, in dem ich noch mein Spiegelbild
erahnen kann.
Im Flur derWohnung stehen beige
Wildlederschuhe mit Absatz, in denen
ich mir damals, auf denrastlosen Streif-
zügen durch die unbekannte Stadt, Bla-
sen gelaufen hatte. Es war für mich mit
einer besonderen Magie verbunden,ein-
fachein paarWochen inFrankreich zu
leben und mir damit einenWunsch zu
erfüllen, den ich bereits währenddes
Gymnasiums gehegt hatte.
Als ich zehnJahre alt war, fuhren
Va ter, der uns die Orte seiner Statio-
nierung im ZweitenWeltkrieg zeigen
wollte, Mutter und ich nach Piräus. Da-
bei sollten wir in schäbigen Zugsabtei-
len mehr als vierzig Stunden unserDa-
sein fristen, immer wieder dieFenster
bis zum Anschlag geöffnet, um der Hitze
und denAusdünstungen unserer wech-
selnden Mitreisenden etwas entgegen-
zusetzen. DieReiseführteuns vorbei an
den Plattenbauten von Belgrad, deren
Ausmassmir damals als Bewohnerin
einer österreichischenIndustrieklein-
stadt monströs erschien.

Die Spuren des Krieges


In gemächlichemTe mpo und unter dem
Generalbass des begleitenden «ta-tam-
ta-tam» durchquerten wir unendliche
grüneFelder, fuhren an Flussläufen
entlang undrollten immer weiter hin-
ein in Gebirgslandschaften mit einer
nicht enden wollenden Anzahl von en-
gen dunklenTu nnels. Ich erinnere mich
an lange, scheinbar grundloseWartezei-
ten an heruntergekommenen, schmutzi-
genBahnhöfen, an den Geschmack der
fremdartig gewürzten kleinenLamm-

spiesse, die uns vonLandfrauen an der
Grenze zum damals noch unter Militär-
diktatur stehenden Griechenland ver-
kauft wurden.
Va ter sollte noch vieleJahre immer
um die Osterzeit in dasLandreisen,
wo er einJahr als jungerWehrmachts-
soldat verbracht hatte. Meteora, Piräus,
Korinth, mit diesen verheissungsvollen
Namen war ich aufgewachsen, und auf
dieserReise mit meinen Eltern sollte ich
zum ersten Mal das Meer in seiner tür-
kisfarbenen Unendlichkeit sehen.Wir
haben damals bei einem Griechen und
seinerFamilie, die uns freundlich auf-
nahm und bewirtete, in einem kleinen,
weiss getünchten Haus im Hafen von
Athen gewohnt.
Die beiden Männer hatten während
des Krieges etwas miteinander erlebt,
über das sie nicht sprachen, in ihrem
holprigen Englisch, in dem sie sich
unterhielten. Es schien ein stilles freund-
schaftliches Einverständnis zwischen
ihnen vorhanden, dessen Grund uns ver-
borgen bleiben sollte, und ich selbst war
damals zu jung, umVa ter mit Nachdruck
über seine Erlebnisse zu befragen.
Irgendwann habe ich in späteren
Jahren aufgehört, auf den Spuren mei-
nesVa ters während seiner Zeit in der
Wehrmacht zurecherchieren, die Schil-
derungen der grausamen Massaker
der deutschenWehrmacht in griechi-
schen Dörfern zu lesen, in englischen
und deutschen Archiven die Berichte
der militärischen Einheiten zu sichten,
denen er zugeteilt gewesen war. Er hat
das Geheimnis seinerFreundschaft oder
vielleicht auch das seiner Schuld mit ins
Grab genommen.
England wurde mir seit meinem
zwölften Lebensjahr immer vertrauter,
denn die Mutter meiner Schulfreundin
kam aus London undkochte zu Mittag
Curry mit Chutney, servierte um fünf
Uhr nachmittags denköstlichen engli-
schenTe e mit Biskuits, dessenFunktion
ich erst viel späterbei den Vorberei-
tungen zur Anatomie- undPathologie-
prüfung schätzen lernen sollte, weil er
mich bis spät in die Nacht über den
Büchern wachhielt. Ich habe damals oft

bei meiner englischenFreundin über-
nachtet, bin mit einem kleinenRuck-
sack,gefüllt mit Nachthemd, Schulhef-
ten und Gemüse, das mir Mutter aus
unserem Schrebergarten mitgegeben
hatte, vor der Eingangstüre gestanden
und habe gewartet, bis sie mir öffnete
und ich bei ihr zu Hause in ein ande-
res, englisches Leben eintauchenkonnte.
Wir sind nachmittagelang in ihrem
Zimmer gesessen und haben Beatles ge-
hört oder Simon and Garfunkel, haben
dieTe xte der Lieder auswendig gelernt,
um sie dann mit unseren dünnen Mäd-
chenstimmen nachzusingen.Wir be-
suchten beide die Unterstufe des Gym-
nasiums, übten kleine Sketches, die wir
dann am nächstenTag in der Englisch-
stunde vortrugen.
Vor wenigenJahren habe ich im Os-
ten Londons ein halbesJahr mit einem
Literaturstipendium verbracht und
wollte ursprünglich an meinemRoman-

projekt weiterarbeiten, doch war ich viel
zu abgelenkt mit Streifzügen durch die
Stadt.Von einer plötzlichen Eingebung
getrieben, begann ich mitRecherchen
zu Va tersAufenthalt in einem Gefange-
nenlager als Soldat der deutschenWehr-
macht und wurde schliesslich fündig in
Romsey, im Süden Englands.
Dort hatte ichKontakt aufgenommen
zur lokalen historischen Gesellschaft,
und eine ältere, freundlicheDame sollte
sich für eineFührung zurVerfügung
stellen.Va ter hatte zweiJahre dort in
Kriegsgefangenschaft verbracht und war
in den letzten Monaten vor seiner Ent-
lassung auf einem demLager nahe ge-
legenenBauernhof derFeldarbeit zu-
geteilt worden. Mutter hatte später ein-
mal denVerdacht geäussert, es könnte
vielleicht sogar ein Halbgeschwister in
England existieren.

Das erste Auslandjahr


Als Sechzehnjährige meldete ich mich
im Gymnasium für ein Schul-Ausland-
jahr und wurde aufgenommen. Die drei
Mitschüler, die sich gleichzeitig mit mir
beworben hatten,wollten in die USA,
was mir meine Eltern jedoch strikte ver-
boten, denn über den Atlantik wollten
sie mich nichtreisen lassen. Also blieb
mir nichts anderes übrig, als mich für das
Europaprogramm einzuschreiben, wo-
bei man dasLand, in dem man für zwölf
Monate bei einerFamilie untergebracht
wurde, nicht aussuchenkonnte.
Ich hatte gehofft, nachFrankreich
reisen zu dürfen, denn ich hatte Gefal-
len an der Sprache gefunden und wollte
die Gelegenheit nutzen, noch weiter in
dieseKultur einzutauchen.Dann kam
ein Brief mit demFoto einerFamilie in
der Nähe von Stavanger, Norwegen, und
zunächst war ich enttäuscht, doch dann
wich meine anfängliche Skepsis einer
ungeduldigen Neugierde.
Ich habe später am Sterbebett mei-
ner MutternorwegischeVolksweisen
in Moll gesungen, leise und getragen, in
einer Sprache, die mir zur zweiten Spra-
che geworden war, Lieder, die ich ge-
lernt hatte, als ich dort zur Schule ging.

Und dann Slowenien.


Der Heurig e


in den Buschenschanken


schmeckte gerade über


der Grenze «drüben»


in der sü dlichen Luft


besser als «herüben».


Europawächst mitdem Tourismus zusammen.Piazza dellaVittoria inPavia. ALAMY
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