Neue Zürcher Zeitung - 22.02.2020

(Frankie) #1

Samsta g, 22. Februar 2020 FORSCHUNG UND TECHNIK 57


Gejagt bis zum bitteren Ende


Die Nachfahre n Eriks des Roten be uteten die grönländische Walrosspopulation so stark aus,


dass sie immer grössere Risiken eingehenmussten. Das konnte nicht gu tgehen.VON ESTHER WIDMANN


Am Ende, als sie nichts mehr hatten,
assen sie nicht nur die neugeborenen
Kälber, sondern auch deren Hufe. So
endete die Besiedlung Grönlands durch
die Nordmänner, irgendwann nach1410.
Wie war es so weit gekommen? Schon
lange versuchen Archäologen heraus-
zufinden, was geschah, 400Jahre nach-
dem die ersten Nordmänner unterFüh-
rung Eriks desRoten Grönland um das
Jahr 980 erreicht hatten.Sie hattenBau-
ernhöfe an den weit insLand ragenden
Fjorden auf derWestseite gebaut: die
«Ostsiedlung» und die«Westsiedlung»,
die allerdings beide auf der Südwest-
seite der Insel liegen. EineWeile ging
alles gut.Dann wurden im14. Jahrhun-
dert zuerst die Gehöfte der nördlicheren
Westsiedlung aufgegeben, um hundert
Jahre später die der Ostsiedlung.


Tausch gegenEisen, Holz,Teer


Eine neue Studie stellt jetzt dieThese
auf, dass die Nordmänner die grönlän-
discheWalrosspopulation wegen ihrer
Stosszähne so exzessiv ausbeuteten,
dass sie sich damit, im Zusammenspiel
mit globalen Handelsmechanismen,
die eigene Lebensgrundlage zerstörten.
Schon 2015 hatte ein anderesForscher-
team spekuliert, das Elfenbeinkönnte
sogar der Grund gewesen sein, weshalb
überhaupt Menschen auf die lebens-
feindliche Insel zogen: Seit das Mittel-
meer nicht mehr unter christlicherKon-
trolle stand und deshalbkeine Elefan-
ten-Stosszähne aus Afrika mehr erhält-
lich waren, warenWalrosszähne die
einzige Elfenbeinquelle. Diesen begehr-
ten Rohstoff verkaufen zukönnen, war
also höchst lukrativ.
Elfenbein war eine Handelsware, die
wenig Platz brauchte und viel Geld oder
dringend benötigte Güter einbrachte:
Die Grönländer bekamen im Gegen-
zugWerkzeuge aus Eisen, Bauholz,
Teer, Kirchenglocken, farbige Kirchen-
fenster aus Glas und vieles mehr, was es
auf ihrer kargen Insel nicht gab. Es kam
hinzu, dassWalrosse auch noch andere
gesuchte Materialien lieferten:Aus ihrer
Haut liessen sich die besten Schiffsseile
der damaligen Zeit winden, und der bis
zu 60Zentimeter langePenisknochen
lag als Axtstiel gut in der Hand.
Die Wissenschafter um James
Barrett von der Universität Cam-
bridge untersuchten nun in ihrer
Studie 67 Walrossschädel aus dem



  1. bis 15. Jahrhundert auf Verar-
    beitungsschritte, DNA und Isotope
    und identifizierten so ihre Herkunft.
    Für dieDatierung der Knochen muss-
    ten sich dieForscher auf denAusgra-
    bungskontext – viele Exemplare wur-
    den in denRuinen der beiden Nord-
    mann-Siedlungen auf Grönland ge-
    funden – oder die stilistische Analyse
    geschnitzterVerzierungen verlassen.
    Die sonst für organischesMaterialgut
    geeigneteRadiokarbondatierung kam
    nichtin B etracht, da sie auf der Menge
    des in der Atmosphäre vorkommenden
    Kohlenstoffisotops^14 C basiert und für


Meerestiere andere Werte gelten; ein
entsprechenderDatensatz existiert nach
Angaben derAutoren fürWalrosskno-
chen nicht.
Die Isotopenanalyse – ein Isotop ist
eineVariante eines chemischen Ele-
ments mit einer abweichenden Anzahl
Neutronen – erlaubt es zwar nicht,einen
genauen Ort der Herkunft derWalrosse
zu identifizieren. Doch ein bestimmtes
Kohlenstoffisotop gibt unter anderem
Hinweiseauf die Eisbedeckung des Mee-

res, ein Schwefelisotop verrät indirekt
etwas über den Salzgehalt desWassers ,
und einWasserstoffisotop gibt Informa-
tionen zurTemperatur und zurPosition
eines Lebewesens in der Nahrungskette.
Die Kombination dieser Indizien erlaubt
es denForschern zumindest, bestimmte
Orte auszuschliessen.
Barrett und seineKollegen mach-
ten sich ausserdem den Umstand zu-
nutze, dass es zwei separate Gruppen
von Walrossen gibt, die sich genetisch

unterscheiden und unterschiedlicheVer-
breitungsgebiete besiedeln: Die östliche
Gruppekommt von der europäischen
Arktis bis nach Ostgrönland vor, aber
auch inWestgrönland. Der Lebensraum
der westlichen Gruppereicht vonWest-
grönland bis Kanada.
Ostgrönland war wegen der grossen
Menge Meereis für die mittelalterlichen
Siedler kaum zugänglich, und archäo-
logischeFunde zeigen, dass ihreJagd-
gründe an derWestküste in der Gegend

der Diskobucht lagen. Die DNA-Unter-
suchung derWalrossschädel belegt, dass
die frühesten Elfenbeinstücke von der
östlichen Gruppe stammten; daskönnte
bedeuten, dass dieTiere in Norwe-
gen oder in Island erlegt wurden. Hier
kommt jedoch die dritte verwendete
Methode ins Spiel: Die Art der Bearbei-
tung der Schädel zeigt, dass auch sie aus
Grönlandstammen.
Zwischen der Mitte des 12. und
dem14. Jahrhundert ändert sich dann
etwas: Zehn der elf in diese Zeit datier-
ten Walrossknochen stammen nun von
der westlichen Gruppe. Die Archäolo-
ge n halten es daher für plausibel, dass
die Jäger weiter nach Norden vordran-
gen, wo sich diese Gruppe häufiger auf-
hielt,vielleicht sogar bis zum Smithsund,
der Meerenge zwischen Grönland und
der kanadischen Ellesmere-Insel. Dort
wurden Planken eines Nordmann-Schif-
fes gefunden – zurRückreise kam es of-
fenbar nicht mehr. Die späterenWal-
rossschädel stammen zudem von klei-
nerenTieren. Nur die grösstenTiere zu
jagen,reichte offenbar nicht mehr. Die
Jäger mussten in immer weiter entfernte
Gegenden vordringen und grössere Risi-
ken eingehen – dieAutoren schreiben
von einem «klassischen Muster vonRes-
sourcenerschöpfung».

Multifaktorielles Scheitern


Auch wenn die ersten Siedler wohl von
dem zu jener Zeit herrschenden wär-
meren Klima profitierten und es aus-
reichendWeideland für dieKühe und
Schafe der Nordmänner gab, blieb
deren Existenz immer eine marginale.
Es waren vermutlich mehrereFakto-
ren, die die Besiedlung Grönlands am
Ende scheitern liessen, wie dieWis-
senschafter schreiben: Das Klima
wurde kälter, die natürlichen Res-
sourcen waren aufgebraucht – und der
Wert vonWalrosselfenbein auf dem
Weltmarkt sank dramatisch. Ab dem


  1. Jahrhundert, dafür gibt es viele Be-
    lege, war es viel einfacher, an Elefan-
    ten-Stosszähne zukommen, als vorher.
    Weil sie nun also für dieWalrosszähne
    weniger bekamen, so die Archäologen
    in ihrer Studie, sahen sich die Grönlän-
    der offenbar gezwungen, mehr davon
    zu liefern.
    Die Archäologensprechen im Hin-
    blick auf das Walrosselfenbein von
    einer «Boom-Bust-Wirtschaft»: Die
    Nachfrage schaukelt sich so lange hoch,
    bis siekollabiert,in diesemFall, weil
    der gehandelteRohstoff erschöpft war
    und der Preis wegen des wieder erhält-
    lichen Elefantenelfenbeins einbrach.
    Für die Nordmänner auf Grönland be-
    deutete das Zusammenspiel ungüns-
    tiger Faktoren das Ende ihrer Exis-
    tenz auf der Insel,das auch die in letz-
    ter Verzweiflung verspeistenRinder-
    füsse nicht aufhaltenkonnten.Für das
    Walross , schliessen dieAutoren, sei die
    Rückkehr zu von traditionellem öko-
    logischemWissen geleiteterJagd hin-
    gegen ein Glück gewesen.


Die Kirche von Hvalsey stammt ausder Zeit der Nordmänner. CHRISTIAN KOCH MADSEN / AP


Warum nicht


Wikinger?


wde.·Weil «Wikinger» weder eine eth-
nische noch eine kulturelle Gruppe be-
zeichnet, sondern eine Aktivität, näm-
lich die Abenteuerfahrt übers Meer auf
der Suche nach Beute, und ihreTeil-
nehmer. Kein Wikinger war also immer
«Wikinger». Im Englischen existiert des-
halb die präzisere Bezeichnung «Norse-
men», die sie von den später daraus ent-
standenen«Normans», also Normannen,
unterscheidet.Im Deutschen gibt es da-
für kein Äquivalent.Als Behelf steht
dafür hier der Begriff «Nordmänner»,
der natürlich auchFrauen einschliesst


  • auch wenn diese bei derWalrossjagd,
    um die es hier geht,eher nicht dabei
    waren.


Walrosszähnewaren zeitweise die einzige Elfenbeinquelle und deshalb sehr begehrt. ALAMY
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