58 FORSCHUNG UND TECHNIK Samstag, 22. Februar 2020
Antimaterie entpuppt sich
wieder einmal al s ziemlich normal
Eine der grossen Fr agen der Physik bleibt weiterhin ungeklärt. VON HELGA RIETZ
Am Cern ist es gelungen,die sogenannte
Feinstruktur des Spektrums von Anti-
wasserstoff zu vermessen. Unterschiede
zum gewöhnlichenWasserstoff fanden
die Forscher nicht.Antimaterieent-
puppt sich – wieder einmal – als ziemlich
normal. Genauso war es auch bei frühe-
ren Experimenten dieserArt.
Antimaterie ist das (fast) perfekte
Gegenstück zur Materie. Zu jedem be-
kannten Materieteilchen gibt es einen
Partner aus Antimaterie, der die glei-
chen Eigenschaften hat – mitAusnahme
der elektrischenLadung und des magne-
tischen Moments. Diese beidenParame-
ter weisen in Materie- undAntimaterie-
teilchenjeweils umgekehrteVorzeichen
auf. TreffenTeilchen und Antiteilchen
aufeinander, dann «zerstrahlen» sie;
das heisst, sie löschen sich gegenseitig
aus. Übrig bleibt nur die Energie (die
ja nicht einfach verschwinden kann) in
Form von Strahlung. Diese Spiegelbild-
lichkeit von Materie und Antimaterie
heisst imFachjargon der Physik «CPT-
Symmetrie».
Speicherungüber Tage hinweg
Am Cern, dem europäischen Kern-
forschungszentrum nahe Genf, gibt es
Labore, die umgekehrt aus hochkonzen-
trierter EnergiePaare ausTeilchen und
Antiteilchen produzieren, etwa Elektro-
nen undPositronen oder Protonen und
Antiprotonen. Am Alpha-Experiment
werden diese Antiteilchen verwendet,
um Antiwasserstoffatome herzustel-
len: Alle paar Minuten werden in einer
raff iniertenFalle etwa 90000 Antip ro-
tonen mit rund 3 MillionenPositronen
vermischt.Dabei bilden sich jeweils
etwa 20 Antiwasserstoffatome (aus
jeweils einem Antiproton und einem
Positron), die wiederum in einer geeig-
netenFalle gespeichert werden. Glück-
licherweise gelingt diese Speicherung
inzwischen über mehrere Tage hinweg;
zudemkönnen dieForscher Antiatome,
die in einem späteren Arbeitsgang pro-
duziert werden, in die Falle «nach-
laden». So lassen sich in der aufwendi-
gen Vakuumapparatur Proben von eini-
gen hundert Antiwasserstoffatomen für
Experimente herstellen.
Bereits 2016 und 2018 konnte die
Alpha-Kollaboration unter der Lei-
tung vonJeffre y Hangst von der Uni-
versität Aarhus diesbezüglich Erfolge
vermelden.Damals war esden For-
schern gelungen, die Antiatome mit
Laserlicht anzuregen. Sie wiesen nach,
dass dieser Übergang in Antiwasser-
stoff bei derselbenWellenlänge (bezie-
hungsweise Energie) geschieht wie der-
jenige inWasserstoff, und zwar bisauf
die zwölfte Stelle hinter demKomma.
Auch die exakteForm der Spektrallinie
stimmt inWasserstoff und Antiwasser-
stoff überein.
Nun hat dieAlpha-Kollaboration bei
der Vermessung des Antiwasserstoffs
die nächste Stufe gezündet. Hatten die
Forscher bis anhin «nur» den Übergang
vom Grundzustand in den ersten ange-
regten Zustand untersucht,berichten sie
in der neuen Arbeit,die diese Woche im
Fachblatt «Nature» erscheint, von Mes-
sungen an der sogenanntenFeinstruk-
tur des angeregten Zustands.^1 Dieser
zerfällt bei näherer Betrachtung näm-
lich in mehrere Unterniveaus, die jeweils
leicht unterschiedliche Energien haben.
Dies hängt damit zusammen, dass der
Drehimpuls desPositrons unterschied-
licheWerte annehmen kann.Ausser-
dem sorgen Quantenfluktuationen für
ein e subtileVerschiebung einiger die-
ser Unterniveaus; dieser Effekt heisst
«Lamb-Shift». Verkompliziert wird die
Messung dadurch, dass die momentan
einzige praktikable Möglichkeit,Anti-
wasserstoffatome zu speichern,darin be-
steht, sie in einem starken Magnetfeld
festzuhalten. Und dieses Magnetfeld
verschiebt die Energieniveaus nochmals.
Glücklicherweise lassen sich alle
diese Effekte fürWasserstoff- und Anti-
wasserstoffatome mit grösster Präzision
berechnen und theoretisch vorhersa-
gen. Umgekehrt erlaubt eine möglichst
genaue Messung derFeinstruktur des
Antiwasserstoffspektrums, zu überprü-
fen, ob dieTheorien, auf denen unser
modernesAtommodell beruht,en détail
auch aufAntiatome zutreffen.
Fänden sich signifikante Unter-
schiede zwischenWasserstoff und Anti-
wasserstoff, dann könnten diese zu er-
klären helfen, warum das Universum so
ist,wie es ist:Bis jetzt ist es nämlich eine
offeneFrage, warum nach dem Urknall
praktisch nur Materie und fastkeine
Antimaterie übrig geblieben ist. Irgend-
ein Unterschied zwischen den beiden,
so die gängigeTheorie , muss dazu ge-
führt haben, dass etwas weniger Anti-
materie als Materie entstand. Die Anti-
materie zerstrahlte dann mit einemTeil
der Materie zu Energie, während aus
der übrigen Materie das sichtbare Uni-
versum entstand: Sterne, Planeten, wir
Menschen und alles andere.
Nur haben sich derartige Unter-
schiede zwischen Materie und Anti-
materie imLabor noch nicht dingfest
machen lassen. Die bisher einzigeAus-
nahme:minimaleAbweichungen bei be-
stimmten Zerfällen exotischerTeilchen.
Diese sind aber zu unbedeutend,um den
Materieüberschuss im Universum zu er-
klären. Und auch die jüngsten Ergeb-
nisse derAlpha-Kollaboration weisen in
die gleiche Richtung: Die dieseWoche
publizierten Untersuchungen anFein-
struktur undLamb-Shift in Antiwasser-
stoff stimmen mit dem theoretisch Er-
warteten überein.
RandolfPohl, der an der Universität
Mainz im Bereich Atomphysik forscht,
am Alpha-Experiment aber nicht direkt
beteiligt ist,hat die Studie für«Nature»
kommentiert.^2 Der Lamb-Shift, schreibt
er darin, beruhe zwar grösstenteils auf
Quantenfluktuationen.Dabei entstehen
spontanPaare ausTeilchen undAntiteil-
chen, die sich sofort wieder gegenseitig
auslöschen. Allerdings spielten für die
exakte Grösse desLamb-Shifts auch
einig e andereParameter eine Rolle,
an denen sich womöglich ein Unter-
schied zwischen Materie und Antimate-
rie manifestierenkönne. Auf diese habe
man bei früheren Messungen an Anti-
wasserstoffkeinen Zugriff gehabt, er-
läutertPohl im Gespräch: «Wir h aben ja
keine Ahnung, wo genau dieSymmetrie
zwischen Materie und Antimaterie ver-
letzt seinkönnte; deshalb müssen wirin
allen Ecken suchen.»
Laserkühlung fürAntiatome
Der jüngste Erfolg der Alpha-Wissen-
schafter, betontPohl, gehe aber über
das eigentliche Messergebnis weit hin-
au s. Denn die neu vermessenen Über-
gä nge im Antiwasserstoffspektrum eig-
nen sichprinzipiell auch fürdie Küh-
lung der Antiatome mitLaserlicht. Da-
mit rückt eine neue – und wesentlich
komfortablere– Methode in Reich-
weite, mit der Antiwasserstoffatome in
Zukunft manipuliert und untersucht
werdenkönnten. Die dafür notwendi-
gen Technologien sind inzwischen weit
entwickelt und diversifiziert; sie ermög-
lichen unter anderem die Herstellung
von Bose-Einstein-Kondensaten.
(^1) Nature 578, S. 375–380 (2020) ; (^2) ebd., S. 369 f.
HAUPTSACHE, GESUND
Aus Kummer
ergraut
Von Lena Stallmach
Man hört immer wieder von Menschen,
die ausKummerüber Nacht ergraut
seien. Allerdings ist das wohl eher bild-
lich gemeint. Denn es scheint äusserst
unwahrscheinlich,dass sämtlicheFarb-
pigmente plötzlich aus den Haaren ver-
schwinden. Eskommt aber durchaus
vor, dass Haare nach einem schweren
Schicksalsschlag nur noch grau nach-
wachsen. Der graue Ansatz kann den
Eindruck erwecken, die Person habe
sich früher die Haare gefärbt und
irgendwann damit aufgehört.
So war es auch bei einerFreundin
der Familie. Sie verlor vor vielenJahren
ihren Sohn.Er war an einem Hirntumor
erkrankt und starb im Alter von fünf
Jahren. Es war ein schwerer Schlag für
alle, die diesen entzückendenJungen ge-
kannt hatten.Aber seiner Mutter brach
es das Herz. Als ich sie einige Monate
nach der Beerdigung wiedersah, war sie
deutlich gealtert, und ihre ehemals hell-
braunen Haare wuchsen nun grau nach.
Sie muss damals um die dreissigJahre
alt gewesen sein.
Normalerweise werden die Haare
über vieleJahre langsam grauer, wenn
im Haaransatz immer weniger desFarb-
pigments Melanin produziert wird. Die-
ses kommt im menschlichen Haar in
zweiVarianten vor, einer dunklen und
einer gelblich-rötlichen.Je nachdem,
wie viel der beiden Sorten in die Haare
eingebaut wird, erscheinen diese blond,
braun,rot oder schwarz mit allen Schat-
tierungen. Istkein Pigment mehr vor-
handen, werden Luftbläschen in die
Haare eingelagert.
In einer Studie mit Mäusen haben
Forscher nun untersucht, wie es dazu
kommen kann, dass die Melaninpro-
duktion plötzlich nachlässt. Dafür setz-
ten sie ihreVersuchstiere massiven Be-
lastungen aus, sie veränderten ständig
etwas an ihrem Käfig, isolierten sie von
ihren Artgenossen oder fügten ihnen
Schmerzen zu. Die armen Mäuse stan-
den enorm unter Stress. In diesem Zu-
stand wird das sympathische Nerven-
systemakti v. Das hat nichts mitSympa-
thie zu tun,sondern es versetzt denKör-
per in einen Alarmzustand, der schnelle
Reaktionen ermöglicht, zum Beispiel,
die Flucht zu ergreifen oder zu kämpfen.
Nervenzellen aus dem sympathischen
System wachsen auch in die Haarfolli-
kel ein und geben dort unter Stress den
Neurotransmitter Noradrenalin ab. Wie
die Forscher zeigten,führt das dazu,dass
gewisse Stammzellen in grosser Zahl zu
pigmentproduzierenden Zellen werden.
Diese Melanozyten bilden in kurzer
Zeit sehr viel Melanin, das gar nicht ge-
braucht wird,und sterben dann ab. Nach
ein paar Tagen massivemStress waren
laut denForschern alle dieser speziel-
len Stammzellen aufgebraucht.Damit
kam die Herstellung derFarbpigmente
für immer zum Erliegen.
Auch ein schwerer Schicksalsschlag
bedeutet massiven Stress für denKör-
per. Es ist gut vorstellbar, dass dabei in
kurzer Zeit alle Stammzellen, die für
die Pigmentproduktion im Haaransatz
reserviert sind, aufgebraucht werden.
Wie schnell so etwas passiert, ist vermut-
lich vonPerson zuPerson verschieden.
So wie manche Menschen schon mit
dreissigJahren erste graue Haare be-
kommen und andere erst sehr viel spä-
ter im Leben.
Die Freundin derFamilie hat irgend-
wann ihrenFrieden gefunden und auch
noch ein zweitesKind bekommen.Ihre
Haare sind heute schlohweiss, was ihr
richtig gut steht.
Jeffrey Hangst von der Universität Aarhusleitet die Alpha-Kollaboration am europäischenKernforschungszentrum Cern naheGenf. CERN
«Wir haben jakeine
Ahnung,wogenau
die Symmetriezwischen
Materie und Antimaterie
verletztseinkönnte;
deshalb müssenwir
in allen Ecken suchen.»
RandolfPohl
Atomphysiker ander Uni versität Mainz