Neue Zürcher Zeitung - 22.02.2020

(Frankie) #1

MOBILITÄT Samsta g, 22. Februar 2020


Das «Kaspische Seemonster» wurde vonzehn Triebwerken angetrieben. PD


Dass komplett autonom fahrende Vehi-
kel einmalkommen werden,davon kann
heute ohne hellseherischeFähigkeiten
ausgegangen werden. Doch dasWann
ist noch ungewiss. Nach ersten, eupho-
rischen Prognosen äussern sich heute
namhafte Exponenten sehr zurückhal-
tend, seienes Technologiekonzerne wie
ZF oder dieForschungsabteilungen der
Autohersteller. Am Rande der CESLas
Vegas AnfangJahr erklärten diverse
Entwicklergeg enüber derFachpresse,
dass die Industrie in Bezug auf die
rasche Einführung vonkomplett selbst-
fahrendenAutos überoptimistisch gewe-
sen sei. Die bestehenden Herausforde-
rungen wurden gar mit einerReise zum
Mars verglichen.

Stossrichtungändern


Alle Hersteller arbeiten derweilen an
unterschiedlichen Lösungen der Pro-
bleme. In England hat Nissan ein zehn
Firmen umfassendes, von der britischen
Regierung finanziertesKonsortium ge-
leitet, welches die Bezeichnung Human
Drive («menschlicheFahrt») trägt. Zwi-
schen 2017 und Ende März 2020 wird
mithilfe computergestützten Lernens
versucht, die autonomeFahrt aus der
bisherigen Entwicklungsrichtung her-
auszulösen und sie näher an ein mensch-
lichesVerhalten zu rücken. Dabei geht
es sowohl darum, wie dasAuto die
jeweiligenVerkehrssituationen erkennt
und einschätzt, als auch um die Art und
Weise, wie dasAuto fährt (Fahrstil).
Human Drive zielte auf die Bewäl-
tigung der typisch britischen Überland-

strecke: engeLandstrassen und Orts-
durchquerungen ohne Strassenmarkie-
rungen und Bordsteinkanten, schlechte
Strassenbeläge, engeKurven, schneller
Gegenverkehr und viele Kreisel.Bei der
Abschlusspräsentation zeigte sich Nis-
san-Projektleiter BobBateman sehr zu-
fri eden:«Die Projektvorgabe derRegie-
rung verlangte eine autonomeFahrt von
20 Meilen, wir haben jedoch 230 Mei-
len (370 Kilometer) absolviert.» Aller-
dings verweisen dieVerantwortlichen
darauf, dass bei derFahrt vor allem der

Aspekt des Erkennens zumTragen ge-
kommen sei.Das ThemaFahrstil hin-
gegen sei noch nicht fürTests auf öffent-
liche n Strassen bereit.Auch gibtBate-
man zu bedenken, dass die mit Human
Dri ve angestrebte autonomeFahrt für
dieAusweitung in die Grossstadt zusätz-
licheRechnerleistung und weitere Lern-
protokolle bedingen würde.
Drei identisch ausgerüstete Nissan
Leaf bildeten dieBasis der Entwick-
lung, aber die 230-Meilen-Fahrt wurde
mit nur einemFahrzeug absolviert. In
den drei Leaf tasten achtLaserscanner
(Lidar), sieben Kameras und einRadar
die Umgebung und das Geschehen ab,
wobei mittels eines hochpräzisen Diffe-
renzial-GPS dieWagen besonders exakt
auf der Strasse positioniert werden.Da-
bei sind nie alle Sensoren gemeinsam in
Betrieb, da sie für unterschiedlicheAuf-
gaben benutzt werden.

Angenehm und situativ


Die Adaption des menschlichenFahr-
stils lag beim ElektronikkonzernHita-
chi und bei der Universität Leeds. Wä h-
rend Hitachi an einer situativ agieren-
den Technologie arbeitet,analysiert
Leeds mit einem virtuosenFahrsimu-
lator, welcheFahrweise wann als ange-
nehm empfunden wird. Beispielsweise
wird an einem sonnigenTag der Ab-
stand beimPassieren von am Strassen-
rand abgestelltenFahrzeugen anders
empfunden als bei Nacht undRegen.
Auch hat sich herauskristallisiert, dass
viele Insassen sich in einer Simulation
eines von einem Menschen gelenkten

Nochhat der Knabe dieKontrolle übersein Automobil.Doch wenn er einmal gross ist undden Fahrau sweis hat, wird erwomöglich in einem autonom fahrendenVehikelkutschieren. ALAMY

Das autonome Auto fährt mit Gefühl


Mit dem Projekt Human Drive wurde im Auft rag der britischen Regierung die menschliche Fahrweise in di e Steuertechnik

autonomerFahrzeugeeingebracht. VON MARTIN SCHATZMANN

Wagens wohler fühlen als in einer Simu-
lation,diedie computerisierte autonome
Fahrt wiedergibt.
Weiterführend erklärte die wissen-
schaftliche MitarbeiterinForoogh Haji-
seyedjavadi,dass Doktoranden in Leeds
in einem nächsten Schritt an Studien zur
Reisekrankheit arbeiteten.Diese kann
beispielsweise für einen Fahrer zum
Thema werden, weil er bei autonomer
Fahrt kein Lenkrad mehr in Händen
hält.Andere Doktoranden in Leeds klä-
ren, wie mit Blick auf dieReisekrank-
heit künftig dasFahrzeuginterieur ge-
staltet werden müsste.
Die situativreagierendeTechnolo-
gie von Hitachi ist bereits in den drei
Projekt-Leaf implementiert, wobei das
System teilweise andere Sensoren be-
nutzt als jene, die für die 230-Meilen-
Fahrt hauptsächlich die Informationen
lieferten.Auch hier dienen die Navi-
gationskarten alsPositionierungshilfe,
aber Hitachi erarbeitet die zu fahrende
Route unter Beachtung der Umgebung
ständig neu. «Das bedeutet, dass, wenn
wir eine Strecke zehnmal hintereinan-
der befahren, die Spur zehnmal anders
gewählt wird», erklärt Nick Blake, Lei-
ter Innovationsstrategie bei Hitachi
Europa. Dieser Ansatz fokussiert die
Rechnerleistung auf die Momenter-
fassung, was wenigerDaten benötigt
und damit weniger Speicherplatz ver-
schlingt. Allerdings stellt auch Hitachi
ab aufeineVielzahl von mitTestfahrern
gesammelten Informationen,dieFakto-
ren wie Spurwahl, Lenkverhalten und
Geschwindigkeitsveränderungen aufge-
zeichnet haben.

«DieProjektvorgabe


der Regierungverlangte


eineautonomeFahrt


von 20Meilen,


wir haben jedoch


230 Meilen absolviert.»


Projektleiter BobBateman

Am Gigantismus


gesc heitert


Während des Kalten Krieges entwickelte die


Sowjetunion ein Flugboot, das flugtüchtig war,


aber trotzdem abstürzte.


WALTER RÜEGSEGGER


Als vor und nach derKubakrise der
Kalte Krieg zwischen den USA und
der Sowjetunion seinen Höhepunkt er-
reichte , entdeckten US-Aufklärungs-
flugzeuge Mitte der1960er Jahre an den
Ufern des Kaspischen Meeres ein selt-
sames und gigantisches Flugobjekt von
etwa hundert MeternLänge. Der ame-
rikanische Geheimdienst nannte das
Objekt «kaspisches Seemonster».
Was die Amerikaner zunächst für
ein riesigesWasserflugzeug hielten und
dem Militär Kopfzerbrechen verur-
sachte, war ein Zwischending zwischen
Flu gzeug und Schiff, ein Flugboot, das
sich den Bodeneffekt zunutze machte.
Dieses physikalische Phänomen führt
dazu, dass ein umströmterKörper in
Bodennähe je nachForm einen zusätz-
lichen dynamischenAuftrieb oder auch
Abtrieb erhält. Die Sowjets gaben dem
monströsen Bodeneffektfahrzeug den
Namen Ekranoplan, englisch «Ground
EffectVehicle» (GEV).


Von Beginn an einSaurier


Die Ausmasse des Ekranoplans, mit
dessenKonstruktion man1964 begon-
nen hatte, waren gigantisch: Der KM
(russische Abkürzung für Schiffsent-
wurf) war rund 100 Meter lang und 40
Meter breit und wog 550Tonnen.Ange-
trieben wurde er von zehnTriebwerken,
je vier beidseits an derVorderseite des
Rumpfes, zwei am Heck. Die vorde-
ren Turbinen dienten lediglich dazu,
den KM auf demWasser zu beschleuni-
gen, die hinteren beiden waren für den
Flugmodus bestimmt. Der Produktions-
standort der neuen sowjetischenWun-
derwaffe befand sich in der Nähe der
Stadt Gorki, des heutigen Nischi Now-
gorod. Bis zumBau der Antonow An-
225 imJahr 1988 war der KM das grösste
und schwerste Flugzeug derWelt.
Nach seinerFertigstellung wurde der
Ekr anoplan zerlegt und auf derWolga,
zwecksTarnung ausschliesslich in nächt-
lichenFahrten, zum Kaspischen Meer
transportiert, wo er im Oktober 1966
seinen erstenTestflug absolvierte. Die
sowjetischen Militärs sahen dieVorteile
des Fahrzeuges darin, dass es zur dama-
ligen Zeit weder von Sonargeräten noch
vomRadarentdecktwerdenkonnte.Aus-
serdemkonnte beträchtlichTreibstoff ge-
spart werden.Das GEV hatte allerdings
eine grosseAchillesferse: Es erreichte
zwar knapp über dem Meer auch voll be-
ladeneine Geschwindigkeit von nahezu
500 Kilometern pro Stunde, doch es
konnte nur bis zu einer maximalenWel-
lenhöhe von zweiMetern starten.Dazu
kamen Probleme der Stabilitätskon-
trolle. Diese Schwachstellenkonnten die
Ingenieure nicht beheben, trotz diversen
Modifikationen.1980 stürzte der KM of-
fenbar aufgrund eines Pilotenfehlers ab
und versank im Meer.
Der Konstrukteur des ersten Ekra-
noplans und späterer Modelle warRos-
tislaw Jewgenjewitsch Alexejew, ein
hochdekorierter sowjetischer Schiffs-
und Flugzeugkonstrukteur. Er hatte den


Auftrag , Bodeneffektfahrzeuge für die
amphibische Kriegsführung zu bauen.
Eine mittelgrosseVersion, dieA-90 Orl-
jonok, sollte militärischeTransportauf-
gaben übernehmen. Es gab auchTy-
pen, die mit einerRaketenplattform
ausgerüstet waren. In den1980erJah-
ren sprachen westliche Militärexperten
von einer grossen Bedrohung durch die
kleineren Ekranoplans.

Fehlende Ressourcen


Doch mit dem Zusammenbruch der
Sowjetunion und den fehlendenRes-
sourcen wurden die verschiedenen
Pläne aufgegeben. Auch die Ortung
durch Satelliten machte den Militärs
einen Strich durch dieRechnung. Zu-
dem waren die Flugobjekte schwerfäl-
li g zu manövrieren.Insgesamt wurden
etwas mehr als zweiDutzend Ekrano-
plans gebaut. Heute existieren noch ei-
nige Exemplare, die vor sich hinrosten
oder in einem Museum ausgestellt sind.
Im Hafen von Kaspiysk, einer Stadt am
Kaspischen Meer, kann man sogar auf
Google Maps noch ein ausgestelltes
Exemplar finden.Letztlich, soein Avia-
tik-Experte, scheiterten die Sowjets mit
dieser Geheimwaffe auch an ihrer Faszi-
nation für Gigantismus. Sie seien zu weit
gegangen, um ein Monster zu erschaffen,
anstatt kleinere und effizientere Ekra-
noplans zukonstruieren.
Die zunehmenden Spannungen zwi-
schen den Grossmächten haben offen-
sichtlich wieder einWettrüsten ausge-
löst. Insbesondere Putin hat in den letz-
ten Jahren durch die wiederholte An-
kündigung neuerWaffensysteme von
sich reden gemacht. Bis 2024 soll die
russische Luftwaffe über achtzig High-
tech-Riesenfrachtflugzeuge verfügen,
die 2000 Kilometer pro Stunde errei-
chen , 200 TonnenLadekapazität und
eineReichweite von mindestens 70 00
Kilometern haben. ZumVergleich: Die
Antonow An-225 verfügt über eine
Ladekapazität von 250Tonnen.

Die Militärs sahen


die Vorteileeines


Bodeneffektfahrzeuges


darin,dass esweder


von Sonargerätennoch


vomRadar entdeckt


werdenkonnte.


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