Neue Zürcher Zeitung - 22.02.2020

(Frankie) #1

Samsta g, 22. Februar 2020 INTERNATIONAL 7


Griechenland scheitert in der Migrationsfrage

Die Regierung hat das Problem lange unterschätzt – jetzt fällt es ihr auf die Füsse


VOLKERPABST, SAMOS UNDATHEN


Auf einer Brachfläche im Hinterland
der griechischen Insel Samos sindBau-
fahrzeuge zugange. ZweiBagger planie-
ren den Boden.Weiter unten hebt ein
Kran einen Container von einemLast-
wagen. Über hundert Stück der normier-
tenWohneinheitensind bereits installiert,
Dutzende weitere stehen noch auf dem
Parkplatz.Auch das grosseVerwaltungs-
gebäude ist schon erstellt. Überall ist
das Logo des Uno-Flüchtlingshilfswerks
UNHCR angebracht.
Nach den Plänen der griechischen
Regierung soll das neueLager für Asyl-
suchende in denkommendenWochen
eröffnet werden. MitBetonplatten und
Metallzäunen wirkt die Anlage nicht
sehr einladend.Dass sie mitten aufder
grünenWiese steht, wo höchstens ein-
mal ein Schäfer mit seiner Herde vorbei-
kommt, bringt für die künftigen Bewoh-
ner auch logistische Schwierigkeiten mit
sich. Wenn diese aber tatsächlich nur ein
paar Wochen hier verbringen müssen, bis
ein Asylentscheid gefällt ist,könnte der
Umzug aus dem bestehendenLager den-
noch eineVerbesserung bringen.Wenn.


Hoffnungslosüberlastet


Der Bau neuerLager ist eine der Mass-
nahmen,mit denen die griechischeRegie-
rung von MinisterpräsidentKyriakos Mit-
sot akis die dramatischeLage der Migran-
ten auf den Ägäisinseln Lesbos, Chios,
Samos, Leros undKos entschärfen will.
Die Asylsuchenden, die nach der Über-
fahrt aus derTürkei hier anlanden, müs-
sen bis zur Bearbeitung ihresAntrags auf
den Inseln bleiben. So sieht es das EU-
Türkei-Abkommen vor. Dieses führte
nach der Krise von 2015 zu einer dras-
tischenReduktion des Flüchtlingsstroms
nach Europa.Unter anderem sieht es vor,
dass nur schutzbedürftigePersonen aufs
griechischeFestland weiterreisen dürfen.
Wer kein Anrecht auf einen Asylstatus
hat, wird in dieTürkei zurückgebracht.
So dieTheorie.
Weil dieVerfahren aber viel zu lange
dauern, stecken die Antragsteller oft-
mals jahrelang auf den Inseln fest. Und
wöchentlichkommen neue Migranten
hinzu, 2019 waren es fast 60000. Zudem
ist es bisher kaum zuRückführungen ge-
kommen, auch weil die frühere Links-
regierung von Alexis Tsipras diese aus
ideologischen Gründen ablehnte.
Entsprechend überlastet sind die be-
stehendenAuffanglager. Am bekanntes-
ten ist jenes von Moria aufLesbos. Doch
auch auf Samos sind die Zustände kata-
strophal. Die hiesige Einrichtung ist auf
600 Personen ausgerichtet, mittlerweile
leben hier aber fast 7000 Asylsuchende.
Die meisten von ihnen stammenaus
Syrien, Afghanistan und dem Irak. Aber
auch viele Menschen aus Afrika.
Der Kongolese Blaise, der sich in Kin-
shasa für den unterlegenen Präsident-
schaftskandidaten MartinFayulu einge-
setzt hatte und nach derWahl mit sei-
ner Familie dasLand verlassen musste,
hat guteAussichten auf eine Anerken-
nung als Flüchtling. Für Christopher aus
Ghana, der bereits acht Monate in der
Türkei arbeitete, bevor er nach Grie-
chenland übersetzte, stehen die Chan-


cen wohl schlecht. Beide erzählen, dass
ihr Interview erst Ende desJahres statt-
finden wird.
Um das eigentlicheLagergelände, das
aus einigen Containern am Hang über
dem Hauptort Samos besteht, hat sich
eine grosse Zeltstadt gebildet,in der auch
Christopher und Blaise wohnen. ImVer-
gleich zum Besuch vor anderthalbJahren
haben sich nicht nur dieAusmasse verän-
dert, auch die Strukturen wirken dauer-
hafter. Die meisten der aus Blachen ge-
bauten Zelte verfügen über Holzgerüste,
einige habensogar Türen. In den steilen
Hang wurdenTreppenabsätze geschlagen,
es gibt festgetreteneWege zwischen den
Zelten. Sogar einige Gewerbebetriebe
haben sich etabliert. Eine syrischeFami-
lie verkauft hausgemachteFalafel.
Dennoch sind die Bedingungen wei-
terhin haarsträubend. Die medizinische
Versorgung ist unzureichend, die sani-
tären Zustände hochproblematisch, vor
allem imWinter und nachRegentagen.
Obwohl die absoluten Zahlen im inter-
nationalenVergleich nicht dramatisch
sind,ist der griechische Staat mit derVer-
sorgung hoffnungslos überfordert.Was an
Leistungen zurVerfügung gestellt wird,
kommt meist von NGO oder der Uno.
SamosVolunteers, eine Initiative von
Freiwilligen aus ganz Europa,bietet unter
anderem einenWäscheservice an.«Wir
schaffen etwa 2000 Maschinenladungen
pro Monat», erklärt der Niederländer
Michiels Zwijnenburg imWaschsalon der
Organisation. «Bei 7000 Personen imLa-
ger reicht es proKopf trotzdem nur alle
paar Monate für eineWäsche.
Auf den Inseln kippt allmählich die
Stimmung, bei den Lagerbewohnern
und bei der Bevölkerung. Auf mehre-
ren Inseln gab es Protestveranstaltungen.
«DieLage ist ausserKontrolle, es leben
hier bald mehr Flüchtlinge als Einheimi-

sche», sagt der ehemalige Bürgermeister
von Samos, MichalisAngelopoulos. «Auf
Dauer kann das nicht gutgehen.» Beob-
achter befürchten,dass trotz dem Nieder-
gang der faschistischenPartei Goldene
Morgenröte bald wieder eineRechts-
aussenpartei Zulauf erhaltenkönnte.
Die konservative Regierung von
Kyriakos Mitsotakis, die im Juli das
LinksbündnisSyriza von Alexis Tsipras
an der Macht ablöste, hat die Herausfor-
derung des dysfunktionalen Asylsystems
in Griechenland unterschätzt.«Während
in den erstenWochen eine Steuerreform
aufgegleist wurde, gab es für die Migra-
tionspolitikkeinen Plan», erklärt Nick
Malkoutzis, der in Athen ein Nachrich-
tenportal betreibt.Dass Mitsotakis das
Migrationsministerium zuerst abschaffte
und später wieder formierte, zeig t die
Konzeptlosigkeit derRegierung.
In der zweiten Hälfte 2019 ist die
Zahl der Neuankömmlinge stark gestie-
gen. DieRegierung schiebt die Schuld
der Türkei zu, die Schlupflöcher an der
Grenze geöffnet habe. Es istunbestrit-
ten, dass der türkische Präsident Erdo-
gan das Migrationsthema inVerhandlun-
gen mit der EU geschickt einzubringen
weiss. Anzeichen für eine systematische
Vernachlässigung des Grenzschutzes gibt
es aber nicht. Der Grund für die gestie-
genen Zahlen dürfte eher im stärkeren
wirtschaftlichen und politischen Druck
auf Flüchtlinge in derTürkei liegen.

Wieder mehr Neuankömmlinge


Für Ministerpräsident Mitsotakis ent-
wickelt sich das Migrationsthema zu
einem Problem. In einer Umfrage gaben
drei Viertel der Befragten an, dieRegie-
rung mache diesbezüglichkeinen guten
Job. In betroffenenRegionen schlägt ihr
offeneFeindseligkeit entgegen.
Auf den Inseln sind sich alle einig, dass
die gegenwärtige Situation unerträglich
ist; die meisten Bewohner fordern die
Verlegung der Asylsuchenden aufsFest-
land. MitAusnahme von Samos hat bis-
her keine InselLand für ein neuesLager
zur Verfügung gestellt. Die Regierung in
Athen kündigte daraufhin Zwangsenteig-
nungen an.Nach einerWelle der Empö-
rung wurde dieser Plan vorerst auf Eis ge-
legt.Wann auch in Lesbos oder Chios die
Bagger auffahren, ist völlig unklar.
Unter dem öffentlichen Druck hat
sich die Rhetorik in Athen verschärft.
Viele Regierungsmitglieder sprechen nur
noch von Migranten und nicht mehr von
Flüchtlingen, obwohl immer noch viele
echte Schutzbedürftige auf den griechi-
schen Inseln ankommen. Die Anerken-
nungsrate derAsylbewerber liegtlaut
Schätzungen bei etwa dreissig Prozent.

Die geplanten neuenLager werden
als geschlossene Einrichtungen bezeich-
net, obwohl es sich inRealität umLa-
ger mit Schliesszeiten am Abend han-
deln dürfte, wie es auch in der Schweiz
üblich ist.Zudem wurden plakative Mass-
nahmen angekündigt wie die Errichtung
eines schwimmenden Grenzzauns in der
Ägäis. Für NGO wurde eine Registrie-
rungspflicht eingeführt.
Ein westlicher Diplomat bemerkt
dazu,dieRegierungkönne kein Interesse
an einem Abzug der Hilfsorganisationen
haben. Die Übernahme des grossenBar-
geldprogramms des UNHCR bis Ende

Jahr stellt bereits eine grosse Herausfor-
derung dar. «Wir können nicht aufDauer
die Aufgaben des griechischen Staats
übernehmen», erklärt der Chef des Uno-
Hilfswerks in Griechenland, Philippe
Leclerc. Vielerorts geschieht aber genau
das. Ohne die Arbeit von Médecins sans
Frontières etwa wäre die medizinische
Versorgung noch dramatischer.
Es gab aber auch aussichtsreichere
Reformvorhaben derRegierung. Das
neue Asylgesetz ist nicht frei von Män-
geln.Das Ziel beschleunigterVerfahren
und einerkonsequentenRückführung
von Personen, die nicht schutzbedürf-
tig sind, begrüssen aber die allermeis-
ten Beobachter. Dies ermögliche es, tat-
sächlich gefährdetenPersonen effekti-
ven Schutz zu gewähren und möglichst
viele andere von der gefährlichen Über-
fahrt abzuhalten.
«Diese Prioritäten sindin unseren
Augen richtig», erklärt auch der Chef des
Schweizer Staatssekretariats für Migra-
tion, Mario Gattiker, der vergangene
Woche in Athen weilte. «Die Schweiz hat
mit der Umstellung auf kurze, faireVer-
fahren sehr gute Erfahrungen gemacht,
die wir gerne teilen.»
Neben dem Erfahrungsaustauschhabe
er Migrationsminister Mitarakis auch die
Übernahme unbegleiteter Minderjähri-
ger angeboten, die familiäreVerbindun-
gen in die Schweiz hätten. Dazu kommen

humanitäre Hilfeleistungen.«Wenn Grie-
chenland ein Problem hat, haben wir als
Schengen-Mitglied ebenfalls eines. Es ist
in unserem eigenen Interesse, Unterstüt-
zung zu leisten.»
Auch andere europäische Zielländer
bieten vermehrt Hilfe an, in der Sorge,
mit dem griechischen Asylsystem werde
auch das Abkommen mit derTürkei kol-
labieren.Auf europäischer Ebene stockt
die Behörde zur Unterstützung des Asyl-
wesens (Easo) ihren Einsatz von 500 auf
1000 Mit arbeiter auf.
Panagiotis Nikas macht sich dennoch
keine grosse Hoffnung auf eine baldige
Besserung derLage. Nikas leitete bis
2016 die griechische Behörde, die für die
Erstaufnahmezentren verantwortlich ist.
Nachdem er aus dem Staatsdienst ausge-
schieden war, baute er Zeuxis auf, eine
NGO, die Zentren für unbegleitete Min-
derjährige betreibt.Auch die Eidgenos-
senschaft unterstützt seine Organisation.
«Viele der bisherigenReformen se-
hen auf den erstenBlickgut aus. Doch die
Detailplanungkommt oft zu kurz.» Um
die ambitiösen Ziele derRegierung zu er-
reichen, brauche es neue Gesetze, mehr
Mittel und mehr Angestellte sowie eine
engeKooperation zwischen unterschied-
lichen Behörden – kurzum eine schlag-
kräftigeVerwaltung.Das ist allerdings
keine Stärke Griechenlands. Oftmals
ist die griechische Bürokratie ist mehr
Hindernisals Wegbereiter. Viele Mit-
arbeiter von Hilfsorganisationen, aber
auch Diplomaten erzählen imVertrauen
Anekdoten vonkonkreten Hilfsangebo-
ten, etwa Sachspenden für dieLager, die
am bürokratischen Dickicht der griechi-
schenVerwaltung scheiterten.

Mathematisch fragwürdige Pläne


Zudem sind viele der angekündigten
Zielvorgaben derRegierung nur schon
aus mathematischen Gründen kaum ein-
zuhalten. DerRückstau von 60000 un-
bearbeiteten Asylanträgen soll in einem
Jahr abgetragen werden. Ein ehemaliger
Mitarbeiter des Migrationsministeriums,
der ungenannt bleiben möchte, rech-
net vor, dass dafür zehnmal mehr Sach-
bearbeiter nötig wäre als tatsächlich vor-
handen sind. Neueinstellungen in dieser
Zahl sind aberkeine geplant.
So rechnet auch kaum jemand damit,
dass Griechenland diesesJahr, wie ange-
kündigt,10 000 abgelehnte Asylbewer-
ber zurück in dieTürkei schickt.Auch die
neuenLager auf den Inseln werfenFra-
gen auf. Das Migrationsministerium plant
eine Gesamtkapazität von 20000 Perso-
nen. Zurzeit befinden sich aber mehr als
40 000Asylbewerber auf den fünf Inseln.
Auf demFestland gibt es ebenfalls nicht
genügend Plätze.
«DieRegierung muss sich eingeste-
hen, dass sie Hilfe von aussen braucht.
Mit Geldern aus EU-Töpfen allein ist es
nichtgetan», resümiert Nikas. Im Gegen-
zug müssten diePartnerstaaten bereit
sein, auch die politischenKosten der
Migrationspolitik zu teilen, etwa indem
man gemeinsam dieVerantwortung für
Rückführungen übernähme. Er sei sich
nicht sicher, wie ehrlich man in Europa
an einerLösung interessiert sei. «In der
Finanzkrise hat man unseremLand die
drastischsten Massnahmen auferlegt.
Grundsätzlich müsste auch in der Migra-
tionsfrage mehr möglich sein.»
Oder es braucht eine neue europäi-
sche Lösung. Nicht ganz zu Unrecht hat
Ministerpräsident Mitsotakis am WEF
die mangelnde politische Solidarität
innerhalb der Union beklagt. DieRufe
nach einerReform desDublin-Systems,
das die Hauptlast der Migrationsströme
den Staaten an derAussengrenze aufbür-
det, werden lauter. In Griechenland lie-
gen die Hoffnungen hierfür nicht zuletzt
auf der deutschenRatspräsidentschaft im
zweiten Halbjahr.
Die Bundesregierung hat kürzlich
ein Konzeptpapier zur Reform des
europäischen Asylwesens erarbeitet,
das inAuszügen bereits in die Medien
gelangte. DasThema dürfte in denkom-
menden Monaten nicht nur in Grie-
chenland zureden geben.

Die medizinische
Versorgung ist
unzureichend, die
sanitären Zustände
hochproblematisch, vor
allem imWinter und
nach Regentagen.

Auf der Insel Lesbos lebenFlü chtlinge in einemZeltlagermitten in einem Olivenhain. DIMITRIS TOSIDIS / EPA
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