Frankfurter Allgemeine Zeitung - 11.03.2020

(Greg DeLong) #1
Die Romane, die Michael G.Fritz in den
vergangenen zwölf Jahrenveröffentlicht
hat, sind durch ein großes Thema mitein-
anderverbunden: das mehr oderweniger
stille Weiterleben der DDR imvereinten
Deutschland. So hat er bereits 2009 eine
beunruhigendeTanteLauraaus denUn-
tiefen diesesversunkenen Landes hervor-
kommen und ihren ebensorätselhaften
wie unseligen Einflussauf die neue Ge-
genwartnehmen lassen. In seinem zuvor
erschienenenRoman „Die Rivalen“ hat
er die politische und erotischeKonkur-
renzbeziehungzweier Männer bis ins
Jahr1968 zurückverfolgt.Und auchinsei-
nem neuenRoman„AuffliegendePapa-
geien“ nimmt sichFritz wieder der Heim-
suchung der Gegenwart durch Relikteder
deutsch-deutschen Vergangenheit an.
Dochjetzt wirddeutlich,wie sichdas
Thema über die Jahrehinwegverwandelt.
Waseinstrealistischerzählt warund dar-
in seine zeitgeschichtlicheRelevanz fand,
scheintjetzt durch dünne Schichtenvon
Phantastik überlagertund durchdrungen
voneinemZugins Märchenhafte.Das
wirkt umso eindringlicher,als sichdaran
dreißig Jahre nachEnde der DDR zeigt,
wiedie immerweiter vergehendeZeit not-
wendig den Blickauf dasVergangene mo-
difiziertund damitvonder Vergangen-
heit selbstein in vielen Aspektenverän-
dertesBild zeichnet. Der immergrößer
werdende zeitlicheAbstand des Jetzt zum
Einst zwingt den Erzähler dazu, für die in-
nereVerschränkungvonalter DDR und

heutigem Deutschland neue,–und durch-
aus gewagte –Konstruktionenzusetzen,
derenRealitätsgraddurch die Fiktionwe-
niger bekräftigt als ironischunterlaufen
wird.
Naturgemäß istin„AuffliegendePapa-
geien“ dasPersonalgegenüber den frühe-
renRomanen deutlichgeal tert.Immerhin
steht der JournalistArnonochimBerufs-
leben, in dem er sichseit dreißig Jahren
als fester Freier bei einer mittelgroßen
Zeitung durchschlägt und nachder Tren-
nungvonAngelikagleichnachder Wen-
de kaum nochEhrgeiz entwickelt hat,we-
der im Hinblickauf sein beruflichesFort-
kommen nochinBezug auf sein Liebesle-
ben. Dassernun mit Ende fünfzig die An-
zeichen seineskörperlichen Niedergangs
nicht mehr ignorierenkann, überrascht
ihn nicht, beunruhigt ihn aber auch
kaum. Ihn alsVerlierer derWende zu be-
zeichnenwäre zu hochgegriff en. Undzu
sagen, er haberesigniert, klängeschon zu
pathetisch. Eher hat Arno seine Biogra-
phie an einem bestimmten Punkt einge-
froren, und dieser Punkt liegt dreißig

Jahr ezurück, politischimJahr des Mauer-
falls, privat in derTatsache, dassseine An-
gelikaihn gleichzeitigverlassen hat.
Angelikaist damalsmit einemgewis-
sen Gussewauf und davonund erst nach
einem Jahrzehnt wieder nachBerlin zu-
rückgekehrt. Gussewwirdals neureicher
Kleinoligarch beschrieben, der aus einst
veruntreuten Gelderndes sterbenden
Landes einflorierendes Immobilienge-
schäftaufgebautund zugleichauf seinem
großzügigen Anwesen an der Havelsoet-
waswie einen kleinen Hofstaat um sich
versammelthat. Angelikaist seineFrau
geworden und spielt dieRolle derKöni-
gin am Hofe, dochdie neueFrau, die
Arno durch einen merkwürdigenZufall
kennenlernt,Lilly, gehört ebenfalls in die-
se Entourageund hat zudem dasgleiche
Tattoo wie Angelika zu bieten: einen blau-
gelbenPapageien auf der Schulter,der ei-
nen Flügel spreizt.
Dassder Zufall hier wie an eigentlich
allenWendepunkten der HandlungRegie
führt, springt den Leser als surreale Über-
formung der erzähltenWelt an und führt
direkt in deren innereParadoxie. Die Art
undWeise wie Arno Lillykennenlernt
ebenso wie die anonymenZahlungen, die
er über Jahrzehnteangenommenhat und
die plötzlich,als die eigentliche Hand-
lung beginnt, aussetzen,genauso wie spä-
terdie umstandsloseAufnahme Arnos in
die Geschäfts- und Lebenswelt Gussews
greifen ebenso zurückauf dieVerhältnis-
se in der alten DDR, wie sie derenWeiter-

leben in denkapitalistischen Szenarien
des Kleinoligarchen grotesk überzeich-
nen. Hinzukommt,dassGusse w, der sich
wirtschaftlich denkbarweit vomSozialis-
mus entfernt hat, einegeradezu absurde
Nostalgie nachallem, wasnachDDR
riecht und schmeckt,verbreitet,verbun-
den mit einer befremdlichen kulinari-
schen Deutschtümelei, für die er sogar
eineZeitschriftgründetund Arno als de-
renChef einsetzt.Ja, Gussews Reich ist
gewissermaßen eine paradoxe Post-DDR
im Havelländischen, in der die Männer
nochPatriarchen und dieFrauen ihnen
gern zu Dienstensind, in der treudeutsch
gegessen und sozialistischgeliebt wird
und in der es zu einemrechtüberraschen-
den Schlussdieser Geschichtekommt.
Michael G.Fritz erweistsich darinein-
mal mehr als hintergründiger Erzähler,
der die verschiedenstenTonarten
beherrscht, die er zu einem sehr eigenen,
oftlakonischgrundiertenSoundzumi-
schenversteht. Am Ende erkennt man,
dass sichdie Vergangenheit,vonder die
Rede ist, nicht einfachabwickeln ließ.
Dochzugleichahnt man,dasssie sichin
unseren Erzählungen immerweiter ver-
ändert.Fritzerzählt davon, dassdie Wie-
derkehr der DDR in derGegenwart kein
Gespenstertreibenist,dass sie auch nicht
in nostalgischen Momentenbloß
aufblitzt,sonderndasssie mit demheuti-
genLeben tiefverwachsen istund sie uns
in ihrer befremdlichstenFormals para-
doxe Logik desUnvergangenen begeg-
net. CHRISTIAN SCHÄRF

DieZeit is tgünstig. Während dieWelt
durch Schülerproteste allmählichbe-
greift, dassKlimapolitik mehr istals der
Brüsseler Streit über Reduktionsziele,
werden auchandereförderlichePolitikan-
sätze neu diskutiert. Unterden Stichwor-
tenEnergie-,Finanz-und Verkehrswende
gelangen umfassendeUmbau-Vorschläge
in den politischen Diskurs. In diesem
Fahrwasser bewegt sichdie Journalistin

Kerstin Finkelstein mit ihrem Buch, in
dem sie für eine neue Fahrradpolitik
wirbt:„Der innerstädtischeRaum istbe-
reits aufgeteilt;keineStadt Deutschlands
klagt über zuwenig Verkehr und zu viel
ungenutzteFläche.Stattdessengeht es
darum, den bereits aufgeteilten Platz neu
zu vergeben“, schreibt sie programma-
tischimVorwort.
Finkelsteins Buchist leider weniger
überzeugend als ihr Anliegen. DieNeuver-
messung derStädteist eine Mammutauf-

gabe, weil GewohnheitenvonHundert-
tausenden Verkehrsteilnehmernverän-
dertwerden müssen, wenn Mobilität
CO 2 -frei, sicher und bequem sein soll. Al-
lerdingstendiertdie ehemaligeChefre-
dakteurin derZeitschrift„Radzeit“ dazu,
eine Gruppe derVerkehrsteilnehmer für
die Misereauf denStraßen deutscher
Städtealleinverantwortlich zu machen:
„Autofahrerverursachen die meistenUn-
fälle undverhalten sichschon durch die
Wahl ihresVerkehrsmittels aggressiv ge-
genüber demRest der Bevölkerung.“ Mit
diesem aktivistischanmutenden Ton
könnteFinkelstein potentielleUnter stüt-
zer ihrer Ideegleichwiederverlieren.
Die aber istsinnvoll und wichtig.Zum
Beleg dient eineVielzahl gut ausgewähl-
terBeispiele:Soverursachtetwaein Auto
in derStadt einen Flächenverbrauchvon
dreiunddreißig Quadratmetern –einmal
nahe amZuhause, einmal nahe am Ar-
beitsplatz, einmal beim Einkaufen.Für
ein Fahrraddagegen müssenStadtplaner
gerade einmal 1,2 Quadratmetereinkal-
kulieren. Akribischführtdie Autorinaus,
wie Städteinden vergangenen Jahrzehn-
tenums Auto herumgebaut wurden und
wie Fahrradfahrer schon sprachlichdiskri-
miniertwerden („Rüpel-Radler“, „Rad-
Rowdy“).
Der in derStadt durchschnittlich zu-
rückgelegteWeg hat ihrenAusführungen
zufolgeeine Längevon nur sechs Kilome-
tern.Allerdings lag der Anteil derWege,
die i nDeutschlandmit demRadzurüc kge-
legt wurden, im Jahr 2017 bei elf Prozent.

Im Fall des öffentlichenNahver kehrswa-
renessogar nur zehn, bei denFußgän-
gern immerhinzweiundzwanzig Prozent.
MotorisierterIndividualverkehr dagegen
habe einen Anteilvonsiebenundfünfzig
Prozentgehabt.Finkelstein gibt als Ziel
aus, denFußgängeranteil bis 2040kon-
stant zu halten,Nahver kehr undFahrrad
auf jeweils fünfunddreißig Prozent zu
bringen und den Individualverkehr auf
acht Prozent zureduzieren.
In einigen triftigenPassagen zieht die
Autorinaus Daten und Erlebnissenverall-
gemeinerbareSchlussfolgerungen für die
Verkehrspolitik.Auchdie Kapitel mit
Best-Practice-Beispielen aus dem Aus-
land (Kopenhagen, Amsterdam) und dem
Inland (Nordhorn, Bremen) sind durch-
aus instruktiv.Hier hätteman gern mehr
gelesen.
Insgesamtist das Bucheine Mischung
aus Faktensammlung, Streitschriftund
dem Programm einer nochnicht gegrün-
detenFahrradfahrer-Partei. Am wichtigs-
tensind Finkelstein folgendeFragen:War-
um sollen achtzig Kilogramm schwere
Menschentonnenschwere Fahrzeugefort-

bewegen, um einigeKilometerzurückzu-
legen?Warumhat die Sicherheitstechnik
der Autosnur dasAutofahren sichererge-
macht,während dieZahl verunglückter
Radfahrerkonstant bleibt?Warumwird
der Ausbau derStraßen subventioniert,
während für denAusbau des öffentlichen
Nahver kehrskaum Mittelvorhanden
sind?
Finkelstein hat die Autolobbyin
Deutschland imVerdacht, dieRegierung
mit demVersprechen auf Arbeitsplätze
vorsichherzutreiben.Um das zu illustrie-
ren, vergleicht sieReden, die Angela Mer-
kelauf derAutomesse IAA und derFahr-
radmesse Eurobikegehalten hat. DasFa-
zit fällt eindeutig aus: „Für die Bundes-
regierung istMobilitätswirtschaftaus-
schließlichder motorisier te Individualver-
kehr.“ Auchdeshalb habe die Klimapoli-
tik das ThemaVerkehr bislang nochnicht
eingeschlossen.
Es steht zu befürchten,dassFinkelstein
vorallem jene Leser erreicht, die bereits
vonihren treffenden Argumenten über-
zeugt sind. Dabeiwäre es wünschens-
wert,dassihreErörterungen im Diskurs
über urbane Mobilität mehr Gehörfinden
–etwasobald es um den Irrglaubengeht,
Elektroautos würden das Gros der
Schwierigkeiten imStraßenverkehr behe-
ben: „Zwar istesgut, wenn man alsFahr-
radfahrer nicht mehrvonAbgaswolken
umgeben ist, sondernvon summenden
Elektromotoren. Allerdingskönnen der-
zeit marktübliche E-Autosviele andere
durch Automobilitätgeschaffene Proble-
me nicht lösen.“ PHILIPPKROHN

T

homas Piketty istdabei, der
Karl Marxdes 21. Jahrhun-
derts zuwerden. DerTitelsei-
nes ersten populären Buches,
„DasKapital im 21. Jahrhundert“, konn-
te deutlicher nicht sein. Eswarseine
Version derVerelendungstheorie,wo-
nachsteigendeVermögenskonzentrati-
on die meritokratische Gesellschaftun-
terminiertund zurückindie Welt des
neunzehnten Jahrhunderts führt, in der
funktionsloserReichtum die Armut der
Mehrheit ausbeutet.
Heuteerscheintdie deutscheAusgabe
eines nochumfangreicherenWerks, das
derWirtsc haftswissenschaftlervonder
ParisSchool of Economics imvergange-
nenHerbst veröffentlichte. Esrekonstru-
iertWeltgeschichte als Geschichte von
Rechtfertigungsideologien derUngleich-
heit.Man kann das Programm alsUmfor-
mulierungvon Marx’berühmter letzter
These überFeuerbachlesen: „DiePhilo-
sophen (und Ökonomen)habendie
Weltverschiedeninterpretiertundsieda-
durchverändert; es kömmtdrauf an, sie
gleicherzumachen.“ Demnachist und
waresdie praktische Macht der Interpre-
tationen, die unsglauben macht, dass

Gleichheit zuwenigAnreizefür Arbeit
undAnstrengung gibt, diesozialeOrd-
nunggefährde toder zuwenig Raum für
Individualität lässt.
Piketty zeigt,dass mit diesen Argu-
menten historischeAusprägungenvon
Ungleichheitverteidigtwurden,die uns
heut eskandalöserscheinen: dieUn-
gleichheit zwischenAdel undBürger-
tum, Klerus undLaien volk,Kolonisato-
renund Kolonisierten, oberenund unte-
renKasten, Sklavenhalternund Versklav-
ten. Selbst diebestehendeUngleichheit
derGeschlechteramArbeitsplatzkann
heut enicht mehrdamitgerechtfe rtigt
werden, dass nurMännerverantwortli-
chePositionen ausfüllenkönnen; man
muss vielmehrbehaupten, dassFrauen
sich zu wenigfür gutbezahlte Positionen
interessieren.
Piketty beginnt seine Geschichte mit
der,trifunktionalen Gesellschaft‘ des eu-
ropäischen Mittelalters.Sie warvon den
Unterschiedenzwischender militäri-
sche nMacht desAdels, dergeistlichen
Machtdes Klerus und der Ohnmacht des
drit tenStandesgeprägt.Leibeigenschaft
undSklaverei, imWesteuropa des elften
Jahrhundertsnoch weit verbreitet,wur-
denzur Ausnahme;die Idee der,freien
Arbeit‘war mit diesem trifunktionalen
Schema besservereinbar, auch wenn die
GroßePestinder Mittedes vierzehnten
Jahrhundertsetwas nachhalf: In nurfünf
Jahrenstarb ein Drittel derBevölke-
rung, wasdie Verhandlungsposition der
überlebenden Arbeitskräfte stärkt e.
Eine andere Ideewar dasGebot des
Zölibats in derkatholischen Kirche,
durchdas sichder Klerusvon denübri-
gendreiStänden unterschied. DieAbwe-
senheit legitimenNachwuchses begüns-
tigt edie Entwicklung eines modernen
Eigentumsbegriffs,der Verwaltungdes
Eigentums(Management)von seinen
Begünstigungen (fürdie Anteilseigner)
trennt.Vermutlichentwickelten Franzis-
kanermönche im dreizehntenJahrhun-
dertlegaleVorformen für ein nichtindivi-
dualistisches Eigentumsrecht.
Mili tärische undgeistlicheMachtwar
offenkundig wirtschaftliche Macht. Um
1380 erreichtendie beidenprivilegier-
tenStände inFrankreich, dem bevölke-
rungsreichs tenLand Europas, nochge-
schätzte3,5 Prozent der Gesamtbevölke-
rung. AmVorabendder Französischen
Revolution lag der Anteil derAdligen
undder Kleriker bei 1,5Proz ent, wobei
aufjedender beidenStände einetwa
gleicherAnteil entfiel.Dieseabnehmen-
de undverschwindend kleine Elitebe-
saß fast die Hälftedes Landes, derKle-
rusetwasweniger als derAdel. Mitder
absolutistischenMonarchie wardie Mit-
gliedschaft im Adel exklusiver gewor-
den. DerAdel hattebegonnen, sich‚mal-
thusianisch‘ zuverhalten: DieGeburten-
zahl fiel, unddas Erbe wurde nicht mehr
aufg eteilt, sondernging an den erstgebo-
renenSohn.Die Nachkömmlinge,die
leer ausgingen, wurdeninmöglichst
wohlhabendesBürgertum verheiratet
oder besetzten die zahlreichen Kirchen-
ämter. Die FranzösischeRevolutio nbe-
endete schließlichdie Privilegien des
Klerus undkonfiszierte denkirchlichen
Landbesitz,währen ddas Bodeneigen-
tumdes Adels nurhalbiertwurde und
späterwiederanstieg.

AuchaußerhalbderwestlichenHemi-
sphäre finden sichdie sozialen undideo-
logis chen Mechanismen zurVerteidi-
gung undStabilisierungvonUngleich-
heit.Dazu gehöreninsbesonderedie or-
ganisierteVerheiratungunterseinesglei-
chen beziehungsweisedie Rechtferti-
gungvonPrivilegien alsTeil einerprim-
ordialen Ordnung.Indien istfür Piketty
einbesondersinteressanterFall,weiler
auch hierdastrifunktionaleUngleich-
heitsregimefindet:Krieger kasten, Pries-
terkastenund dergroße, vielfältigeRest.
Es reicht weit in dievorkolonialenZeit
zurü ck undexistierte, be voresinEuropa
erstmals erwähnt wird (im zehnten und
elften Jahrhundert). DiesesRegime
trif ft dann auf diekoloniale Eigentümer-
gesellschaft. Das Britische Reicher-
strecktesich auf 75 Prozent desindi-
schenSubkontinents,indemesmit den
Eliten der zahllosen Fürstentümerteilte
und herrschte. Aber anstatt dieUngleich-
heit aufzulösen,verfestigtedie britische
Regierung mit ihrenVolkszählungendie
Kategorisierung derindischen Bevölke-
rung inKasten–im Dienste derkolonia-
lenHerrschaftüber eine aufständische
Bevölkerung.
Erst nach derUnabhängigkeit Indiens
konntenRegierungenversuchen, diese
regressiveFestschreibungeiner sozialen
Ungleichheitsordnung aufzulösen.Die-
se Versuche dauernan, werden aberin-
zwischenüberlagertvon einemTrendzu
steigender Einkommensungleichheit.
Miss tman diese als den Einkommensan-
teil, der demreichstenZehntelder Bevöl-
kerung zufällt, istIndien heute unglei-
cher al sdie VereinigtenStaaten undChi-
na:Die EinkommenseliteIndiens eignet
sich rund 55 Prozentdes Volkseinkom-
mens an,vergliche nmit knappfünfzig
Prozentinden VereinigtenStaaten und
etwasüber vierzig Prozentin China.
Ideologien müsseninPikettysGe-
schichte viel leisten.Sie erklären,warum
jeder Gesellschaftdie ihr eigene Un-
gleichheit einleuchtetund sie sichdaher
Veränderung widersetzt.Ihre histori-
scheVeränderlichkeit gibt Piketty aber
auch die Hoffnung, dassIdeologien Mo-
torder egalitärenVeränderungwerden
können. Die ersten vieramerikanischen
Präsidentenwaren alle Sklavenhalter,
doch die Neuerungder ökonomischen
undpolitischen Ordnung,für die sie als
Staatsoberhäupter eintraten, warnicht
vereinbar mit derUnfreiheitvonSkla-
ven. Pi ketty rekonstruiert, wie die Expan-
sion in denWesten,nicht bloßdie Aus-
einandersetzung zwischen Süd-und
Nordstaaten,diesenWiderspruc heska-
lier te.ImEinklang mitden Normen der
siegreichen Eigentümergesellschaft
musstendie freigesetzten Sklaven ihre
ehemaligen Besitzer dann allerdings ent-
schädigen. Dasmündete oftineineArt
Schuldknechtschaft.Die Gleichheitvor
demGesetzkonntenichtverhindern,
dass dieNachfahrenalltä glichemRassis-
musausgesetzt blieben.
Hautfarbe istinden westlichen Län-
dern ein Merkmal, dasobenund unten
trennt, obwohl das inkapitalistischen
Demokratien eigentlichkeine Rolle spie-
len sollte. Piketty geht diesemNebenwi-
derspruch, wiemarxistischeAutorenihn
nennen, unter dem Begriff des „Sozialna-
tivismus“ nach: Damit unterscheidenPo-
puli sten diejenigen, die angeblich wirk-
lich zureinheimischenBevölkerungge-
hören, vondenen, dieAußenseiter sind
undbleiben sollen.

I

nseiner Geschichteverfolgt Piket-
ty alle möglichen Ideologien und
Manifestationen vonUngleich-
heit, um zu sagen, dassesim21.
Jahrhundertfür siekeine Rechtferti-
gung mehr gibt.Zugleichmussererklä-
ren, warumdas egalitäreWachstum in
der westlichen Hemisphäre der frühen
Nachkriegsjahrzehntenicht angehalten
hat.Warum istUmverteilung und
Wachstumspolitik politischnicht popu-
lärer? Das Scheiternder kommunisti-
schen Planwirtschafthat sicherlich
nichtgeholfen, wie er in dem betreffen-
den Kapitel über derenUngleichheiten
zeigt.Erdokumentiert, dasssichauf
sozialdemokratischer SeiteArbeiterpar-
teien in Akademikerparteien verwan-
delt haben. Da hilftnur eineradikale
Alternative: Im Schlusswortteilt er uns
mit, dassseine historischenForschun-
genihn, den linksliberalen Ökonomen,
zum Sozialistengemacht hätten.
Sein partizipativer Sozialismuskon-
vergiertfreilich mit einemradikal-libera-
len Kapitalismus, wie ihn JohnStuart
Mill hätte unterstützenkönnen.Starke
Mitbestimmungsrechteder Arbeiter-
schaftinBetrieben und hoheBesteue-
rung vonBesitz und Einkommensollen
die Sozialverpflichtung desEigentums
institutionalisieren. Piketty is tbewusst,
dass dieser meritokratische Sozialismus
nicht nationalstaatlich zu haben ist. Na-
tionalstaatenund die EuropäischeUni-
on müssten alsNational- undRegional-
versammlungenTeil einer transnationa-
len Demokratiewerden.Die politischen
Ebenen, auf denen entschiedenwerden
soll,variiertendann mitdem Kollektiv,
das vonder Entscheidung betroffenist,
etwa in den Genuss eines öffentlichen
Gutes kommt.Für dieWeltgemein-
schaftist das der Klimaschutz, aber
auchdie Besteuerung sehr hoherVermö-
genund Einkommensowie transnatio-
nalerUnternehmen.Als derMarxdes


  1. Jahrhunderts willPiketty daskapita-
    listische System gerechtermachen–was
    radikaleVeränderungen des politischen
    Systems derNationalstaatenerfordern
    würde. WALTRAUDSCHELKLE


Michael G.Fritz:
„AuffliegendePapageien“.
Roman.
MitteldeutscherVerlag,
Halle 2019. 256 S.,
br., 14,– €.

Kerstin E.Finkels tein:
„Straßenkampf“.Warumwir
eine neueFahrradpolitik
brauchen.
Ch. LinksVerlag, Berlin


  1. 184 S., br., 15,– €.


Thomas Piketty:
„Kapitalund Ideologie“.
Ausdem Französischen
vonA.Hansen, E. Heine-
mann,St. Lorenzer,
U. Schäfer undN.Dresler.
C. H. BeckVerlag,
München 2020.1312S.,
geb., 39,95 €.

Treudeutschessen, sozialistischlieben


Eine paradoxe Post-DDR im Havelland? DerRoman„AuffliegendePapageien“vonMichael G.Fritz


Auch Elektroautos sind keine Lösung


Die Neuvermessung desStraßenverkehrs:Kerstin Finkelstein wirbt für Mobilität auf zweiRädern


Zukunftsorientierte stadtplanerische Idee: Die Berliner Linienstraße wurde 2008fahrradfreundlichumges taltet. Fotodpa

In der Märzausgabe des
F.A.Z.-Bücher-Podcasts:
Hashtagsgegenden Ausfall
der Buchmesse, Literatur in
einfacher Sprache und Ingo
Schulzes „Dierechtschaffenen Mörder“.

blogs.faz.net/buecher-podcast

Gerecht möge der


Kapitalismus werden


NeuimLiteratur-Podcast


Dempartizipativen


Sozialismus entgegen:


Thomas Piketty


schreibt eine


Globalgeschichte


der Ungleichheit als


Schlachtfestder


Ideologien.


SEITE 10·MITTWOCH,11. MÄRZ2020·NR.60 Literatur und Sachbuch FRANKFURTER ALLGEMEINE ZEITUNG

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