Frankfurter Allgemeine Zeitung - 11.03.2020

(Greg DeLong) #1

Die Scala in Mailandgeschlossen, Mün-
chen alsAusweichquartier? Zumindest
zeigt sich der Intendant der Bayerischen
Staatsoper,Nikolaus Bachler,stets be-
strebt, denRufMünchens als eines der füh-
rendenSängeropernhäuserderWeltzu
verteidigen. Hiergabesbei der Premiere
vonGiuseppeVerdis „I Masnadieri“unter
der Leitung desDirigenten Michele Ma-
riotti einenAbendvollendetenSänger-
theatersbei samtig-üppigem Orcheste r-
klang und mitgetragenvoneinem Chor
(Einstudierung:StellarioFagone),der an
Präsenz undWuchtweder den Solisten
nochdem Orcheste rnachstehenwollte.
Volle Flucht nachvorn: Daswaroffen-
bar dieStrategie des Hauses,umdie Auf-
führungvonVerdis „I Masnadieri“über-
hauptzurechtfertigen.Denndie Oper, de-
renLibretto auf Friedrich Schillers Drama
„DieRäuber“ basiert, istwederbekannt,
nochgehör tsie zuVerdis besten. Si eent-
stand unterVerhältnissen, die selbstfür
den alsarbeitswütiggeltendenVerdinur
als „höchstkompliziert“ zu bezeichnen
sind.
1845 hatteVerdi aus London einenAuf-
tragfür eineneueOper erhalten. Im Laufe
der Zeit entschied er sichfür den „Räuber“
-Stoff und spekulier te darauf, diese Oper
auchfür einenAuftrag aus Florenzfür das
Jahr1847 nutzenzukönnen.Florenz aber
entschied sichfür „Macbeth“.Verdi unter-
brac hdie Arbeit an „IMas nadieri“ nach
dem ersten Akt, schob „Macbeth“ein und
brachteersteinmal dieseOper in Florenz
zur Uraufführung.Dannreisteernach
London und schrieb die „Masnadieri“fer-
tig.Gleichzeitig saß ihm ein schon 1844
geschlossenerVertragfür eine Oper in
Neapel imNacken (ausdem 1848„Luisa
Miller“ wurde). Nach derUraufführung
der„Masnadieri“ in London im Juli
ging es fünfTagespäter zurücknachParis,
zu der, natürlichvon Verdidirigierten, Ur-
aufführung von„Jérusalem“. Dakann
docheinmal, durchauswörtlich, etwasauf
der Streckebleiben.Bei „I Masnadieri“:
die dramatische Dichte,die Verdi-typisch
kraftvolleZeichnung der Charaktere.
Dennochsind die „Masnadieri“ nicht
zu unterschätzen.Verdi warein Mann, der
jederzeit über die entscheidendenKompo-
nenten undEingebungengebot, um dar-
aus einefunktionierendeOpermit zün-
dender, den HöreranpackenderMusik zu-


sammenzusetzen.Erhätte zwar auchdie-
seOper besser durchges talten ,die Menge
an Konflikten –zwischen den Brüdern
Carlo (dem Guten) undFrancesco Moor
(dem Bösen),derenVaterMassimiliano
sowi eder zwischenallen stehenden einzi-
genFrauenfigurder Oper, Amalia–weni-
gerindie Handlung und tieferindie Perso-
nen legenkönnen.Aber unter demDruck
der Zeit vertrauteerden Ablaufder Dinge
komplett seinem LibrettistenAndrea Maf-
feian, derfreilic hein wenig versierter
Operndramatikerwar. Ausder Fülle an
Arien machteVerdi dasBeste: emotions-
pralle Musik, jedemder Darsteller in die
Kehle geschrieben, Delikatessen derho-
hen Kunstdes Gesangs.
Unddie bekommtman in München
auchgeboten. Diana Damrau als Amalia
und CharlesCastronovoals C arlo sind ein
Liebespaarauf der Bühne, dassich im
Stimmcharakter nahekommt.Mit großer
Strahlkraft, ja, aberimmer mit einem
dunklenTon in denHöhen. Gebrochen-
seinschwingtdarin, Verzweiflung,Unge-
wissheit.Damraukommtmit der hoch-
gelegenen,für dieextrem eKoloraturfes-
tigkeit derUraufführungs-AmaliaJenny
LindgeschriebenenPartie hervorragend
zurecht.Sie macht kein Geheimnis dar-
aus, dassentfesselter Koloraturzauber
nicht ihreSache ist.Stattdessengibtes
konzentrierte, präzisgesetz te und geform-
te Töne,indenenechte Glutschimmert.
Das GleichegelingtCharles Castrono-
vo.Ersingt wie aufeinemeinzigenAtem.
Einmalangesetzt, wirdCastronovosTe-
nor getragenvonscheinbargrenzenloser
Energie undherrlichschillernden Farben.
Demgegenüber knickendie äußersten Hö-
hen ein,werde nnicht nurdunkel, son-
dernauch etwasstumpf. Das sindaber Lu-
xusprobleme undfallennur auf,weil die
Basis so phantastischausgeformt ist.Der
Bariton Igor Golovatenkoist ein Frances-
co vonebensoschneidender wiegewalttä-
tiger Bösartigkeit, offenkundigverschla-
genund seineMachenschaften genau kal-
kulierend. Der Bass Mika Karesals Herr-
scher undVaterMassimilianogestaltet sei-
ne Szenenmit einer Mischungaus Sorge
und geradezugespenstischerWürde ,dass
einemraschSchauer über denRücken lau-
fen. Zumalerimdritten AkteinenAuf-
trit tmit or gelnd-hohlerStimme hat, der
an MozartssteinernenGasthat denken
lassen.Dass aufMünchensBesetzungslis-

te hier nochlangenicht Schlussmit Spit-
zenqualitätist,davon zeugen die kleine-
renRollen des DienersArminio (Kevin
Conners), des Priesters Moser (Callum
Thorpe)und desRäubersRolla (Dean
Power).
Unddie Inszenierung? Diegestaltete
Regisseur Johannes Erath klug,weit ent-
ferntvon allemRäuberischen und damit
verbundener Natur-Romantik.Alles
bleibt in einemfiktivenPalast-Raum aus
dem neunzehnten Jahrhundertund da-
mitkonzentriertauf dasWesentliche:

die optimale Entfaltung der Sänger.Die
agieren nicht zuletzt in denWahnvorstel-
lungen und Schuldgefühlen desFrances-
co, die ihmVisionenvonCarlo und sei-
ner Bande als Gespensterzuspielen.
Grellweiß leuchtet ihm der Sargdes ver-
meintlichgetöteten Vaters entgegen, al-
les im Schwarzweiß einer Szenerie, die
aus Nosferatu und derAddamsFamily
vertraut und beliebt ist. Inszenierung
und Raum, die denRahmen setzen, aber
keine Hindernisse für ein Sängerfest an
der Isar. LASZLOMOLNAR

In diesem Land istdas Auto gerade jetzt
Statussymbol,motorisiertesSinnbild
der Selbstbestimmung. Deshalb kauft
man es lieber neu alsgebraucht, auch
wenn das Schulden bedeutet,und trägt
dafür Sorge,dassesimmer blitzblank in
der Sonneglänzt.Man: Das meint die
Frauen des Landes.
Damit dasAuto strahlenkann, muss
es auf Asphaltfahren, schlammigeZu-
fahrtswegesind schlecht, besonders
wenn sie zum einzigen Krankenhausdes
Ortesführen und es sichbei demFahr-
zeug um dasAuto der Ärztin handelt,
die sichschon eineganze Weile für drin-
gend nötigeModernisierungen einsetzt,
stattdessen aberPatienten auf klappri-
genTransportliegen entgegennimmt,
die bei ihrem Anblickzeternund nachei-
nem männlichen Arztverlangen.
Vieles in diesem Land istfür Frauen
auchaußerhalb desFilmsheikel: bei ei-
ner städtischen Behörde anrufenund
sichüber fehlendeUnterstützung des Ge-
sundheitswesens beklagen; insAusland
fliegen, um an einer internationalen
Konferenzteilzunehmen.Dabrauchten
Frauen bisvorMonatendie Einverständ-
niserklärung eines männlichen Vor-
munds, so wie sie überhauptfür jedegrö-
ßereEntscheidungvonder Job- bis zur
Partnerwahl eine brauchen, und sind
dennochder Willkür der Grenzbeamten
ausgeliefert. DerKönig und seinKabi-
nett haben zwar imAugustveranlasst,
dassFrauen jetzt selbständigreisen dür-
fen, aber imFilmverpasst die ÄrztinMa-
ryam ihren Flieger,weil Rashid, Cousin
ihresVaters und ein hohesTier in der
Gemeindeverwaltung,sagt:„Ichbin vol-
ler Achtung deinen Elterngegenüber –
und es tut mir leid, ichkann nichts tun.“
Es gibt auchnochnicht langeKinos in
diesem Land, erst seit 2018, und der
Film über die Ärztin soll auchdortge-
zeigt werden, das mussman wissen,
wenn man sichbeim Schauen nachmehr
erzählerischer Raffinesse und techni-
schem Experiment sehnt.2012 hat die
Regisseurin Haifaa Al Mansour „Das


MädchenWadjda“ in diesem Landge-
dreht, undweil es um ein Mädchengeht,
das unbedingtRadfahren will und sich
die Argumente, diegegendas Radfahren
sprechen, außerhalb des Landesrecht
groteskanhören, wurde derFilm eingro-
ßer Erfolg. Jetzt also „Die perfekte Kan-
didatin“,eine ArtFortsetzung der Er-
mächtigungsgeschichtevon damals: Ma-
ryam, die Heldin,fliegt nicht zurKonfe-
renz, kandidiert für den Gemeinderat
und bringt den Ortgegen sichauf.
In den acht Jahren seit dem Erschei-
nenvonAlMansourserstemFilm hat
sichinSaudi-Arabien vielgetan. Kron-
prinz Muhammad Bin Salman will das
Landverändernund dieWirtschaftstär-
ken, dafür braucht er dieFrauen. 2018
warein Viertelder weiblichen Bevölke-
rung berufstätig, einFortschritt.Frauen
können jetzt in Hotels und anSträ nde ge-
hen, ohne Einverständniserklärungstu-
dieren undAuto fahren. Ganz langsam

erhebensie sichaus demStatus der Min-
derjährigen, aber das Bewusstsein, das
hinkt hinterher.Die Frauen müssen erst
fühlen lernen, dasssie ihreneuenRech-
te verdienen und siewahrnehmen, und
darumgeht es in Haifaa Al Mansours
Film.
WarumwagtMaryam, Tochter eines
Musikersund einer Sängerin und älteste
vondreiSchwestern, für die Asphaltie-
rung einerStraße zu einem Kranken-
haus den Schritt in diePolitik?Woher
nimmt sie das Selbstbewusstsein, am
Flughafen einen erfolgreichen Arzt nach
einem Job zu fragen? Sie hat dieKämpfe
ihrer Mutter erlebt.„Das wirddas Glei-
chewie bei Mama“, klagt die kleine
Schwester, „sie werden alle lästern“. Der
Vatersteht zwar hinter seinerTochter,
aber als sie ihn für ihreKampagne
braucht, isterauf Tournee. Musiker ha-
ben in Saudi-Arabien ihre eigenen
Kämpfe auszutragen.Unddie Schwester

Sara, eineFotografin, leiht ihr das nöti-
ge Geld und fragt: „Bistdubereit, dich
wieder solchen Blickenauszusetzen?“
Der Blickder Öffentlichkeit trifft in
Saudi-Arabien besondershart. Die spot-
tende Gemeinschaftgilt alsRegulativ.
Für ihrWahlkampfvideo, das Maryam
nachdem Vorbild eines Lokalpolitikers
der Republikaner ausTennessee mit ei-
ner Millionen Klicks plant, erwartet
manwerweiß was. Dannruft die kleine
Schwester: „Man erkennt dich,verdeck
deineAugen“, und so zeigt derFilmei-
nen sprechenden GeistinSchwarz vor
durcheinander wirbelnden Blumen. In
denKommentaren wirddennochvon
mangelndem Respekt die Rede sein:
„Wie langemüssen wir ertragen, dass
eineFrau sichsoschamlos präsentiert?“
Es gibt eine Szene in „Die perfekte
Kandidatin“, da manifestiertsichdas
Schicksal der saudi-arabischenFrau: Ma-
ryam begleitet ihreSchwester Sarazuei-
ner Hochzeit, auf der sie filmt.Der
Raum istschon voller Frauen anrunden
Tischen, es isteiner der seltenen Momen-
te,indenen sie ausgelassenfeierndür-
fen, jedenfalls so lange, bis das Braut-
paarvorbeischaut und man sichverhül-
len muss.Frau Doktor,rufteine, der
Lautsprecher funktioniert nicht, ob sie
nicht einmal nachder Technik sehen
könne?Undsogeht Maryam, die Ärztin,
hinaus zurKammer desTontechnikers,
der nicht in dieFrauengesellschaftplat-
zen darf, und lässt sichvon ihm erklä-
ren, waszutun ist, damit die anderen
Frauen dieFeier genießenkönnen.
Das istdie StärkediesesFilms der klei-
nenRevolutionen, der leisenTöne und
nuancenfreien Dialoge:Wähle deinen
Kampf, denkt sichMayram undwartet,
bis ihr die Männer bei einemWahlkampf-
termin, dem sie zugeschaltet wird, den
Tonabdrehen, umvorsie zu treten und
sie zurRede zustellen. Dassihr tr otzdem
keiner zuhört, istunerheblich,weil sie
sichnicht beirrenlässt.Die Botschaftlau-
tet: durchhalten. Derweil sitzt die Aktivis-
tin Loujain al-Hathloul, die für das
Recht, Autozu fahren,kämpfte, nochim-
mer im Gefängnis. ELENAWITZECK

Wähle deinen Kampf


Der Film „Die perfekteKandidatin“vonHaifaa Al Mansour isteine Ermächtigungsgeschichteder leisenTöne


Bereit für denAuftritt derPolitikerschwester: Sara(Nora Al Awadh) FotoNeue Visionen

Hauptsache,


es wirdschön


gesungen


GiuseppeVerdis seltengegebene Oper


„I Masnadieri“ zum ersten Mal an der


BayerischenStaatsoper in München


Klang der Brunft: Charles Castronovo singt Diana Damrau an. FotoWilfried Hösl

M

an kann derzeitnich toft ge-
nug daran erinnern,wie die
Kultur-und Meinungskämp-
fe vordreißig Jahren aussa-
hen. Jedenfalls in meiner österreichischen
Jugend. Dauerndwollten dieRechtskon-
servativenetwasweghaben undverbieten,
Elfriede Jelinekwarihnen zu männerhas-
send, dieWienerGruppe zu ordinär und
Thomas Bernhard ein unerträglicher Nest-
beschmutzer, weil er seine wuchtige
Schreibfaust direkt in dieverborgene Nazi-
wunde der Alpenrepublik bohrte.Manch-
malmusst eman es selbstden eigenen El-
tern erklären:Du musst da ja nicht hinge-
hen,wenn die Schauspieler nackt sind und
obszöne Sachen schreien.Aber es musser-
laubtsein,sogar im Burgtheater.Man
nennt dasKunst- und Meinungsfreiheit,
es is tein hohes Gut.Das Gegenteil sind
verbrannteBücher.
Alsviel später MartinWalsersText
„Tod einesKritikers“schon vorabinLite-
raturkreisen zirkulierte,konnteman von
Herzen abgestoßen sein.Dochfür dessen
Veröffentlichungwärenwir demonstrie-
rengegangen!Natürlichgibt es immer Ein-
zelne, die in solchem Fall ihrenVerlag pro-
tes tierendverlassen oder einen Preis zu-
rückgeben,weil ihnen ein spätererTräger
politischnicht passt.Individuelle Grenz-
ziehungen bleiben jedem unbenommen.
DenAufgebrachten und Empörten stellt
sich,weil es vonihnen selbstein Opferfor-
dert, damitgleichzeitig die entscheidende
Frage: Istes mir das wirklich wert?Oder
bleibe ichlieber doch ein Suhrkamp-oder
Rowohlt-Autor, auchwenn ichdie Bücher
vonXYneben meinen dulden muss?
Jedegiftige, böseoder einfachnur kon-
troverseKunstmuss–solangesie keine
Gesetze bricht–hinaus in dieWelt, in die
öffentliche Arena,damitalle, die es inter-
essiert, darüber sprech en, diskutieren,
streiten können.
Das giltebenso für politischeMeinun-
gen. Mankann sichgegen Thilo Sarrazin
die Finger wundschreiben, aberermuss
seine Bücherveröffentlichen dürfen, eben-
so, wie er seine Thesenöffentlichvertre-
tenkönnensoll. Demonstrationvor, politi-
scher Gegner in der Buchhandlung,soist
das gedacht und richtig geregelt. Man
nennt das Pluralismus.Das Gegenteil sind
Systeme wiein China,Nordkoreaoder
Iran. Der arme, nicht einmalvonVoltaire
stammende Satz istbis zum Erbrechen zi-
tiert,mussaber dieRegelbleiben,wenn
uns unserefreiheitliche Gesellschaftsord-
nungnocheinenPfifferlingwert ist: Ich
missbilligeIhreMeinung,aber ichwürde
Ihr Recht, sie zu äußern,mit meinem Le-
ben verteidigen.
Der Fall Woody Allen, der mitgroßer
Wahrscheinlichkeit einFall MiaFarrow
ist, istnun garkein echtes Beispiel für das
schwierigeThemaKunst- und Meinungs-
freiheit. DieserFall is tweniger,und damit

mehr:Die Memoiren einesFilmemachers
vonWeltrangsollenverhindert werden,
weil der AutoreinesVerbrechens bezich-
tigt wird, für das ihnkein Gericht jemals
angeklagthat.Mehrmalshaben amerika-
nische Behörden undStaatsanwaltschaf-
tenintensiv ermittelt, ob derRegisseur am


  1. August1992 seine damals siebenjährige
    Adoptivtochter Dylan sexuell missbraucht
    hat.Viele Gegner dieser Darstellung,dar-
    unter der damals anwesende vierzehnjäh-
    rige Adoptivsohn Moses,glauben, dasses
    sichumeine Erfindung MiaFarrowshan-
    delte, die sichmit Allen in einem erbitter-
    tenTrennungsstreit befand. Mit Erfolg:
    Farrow bekam das alleinigeSorgerecht für
    die Kinder zugesprochen. Andererseits
    waresWoody Allen und seinerjetzigen
    Frau spätermöglich, selbstzweiKinder zu
    adoptieren.
    Seit damals istder Regisseur einer im-
    mer wieder neu aufflammendenKampa-
    gne ausgesetzt,die mitRechtsstaatlichkeit
    nichts mehr zu tun hat.Ermag juristisch
    unbelangtsein, gesellschaftlichist er erle-
    digt.Inzwischen leisten–wie imStalinis-
    mus –Schauspieleröffentlich Abbitte,
    dasssie je mit ihmgearbeitethaben. Sein
    leiblicher SohnRonan, der zumZeitpunkt
    der angeblichenTatvier Jahrealt warund
    seither zu seinemVaterkeinenKontakt
    hatte, wurde als Journalistzum heldenhaf-
    tenAufdeckerder völlig andersgearteten
    AffäreHarveyWeinstein. Das verleiht
    ihm jedochkeine Unfehlbarkeit in einem
    Fall, in den er massiv persönlich involviert
    ist.
    Da derFall Allen–Farrow vomheimi-
    schen Sofaaus nicht zu entscheiden ist,
    den Moralrichterndie rechtliche Lage(kei-
    ne Anklage,keine Verurteilung)aber ein-
    fach nichtgenügen mag,kehren wir zum
    ThemaKunst- und Meinungsfreiheitzu-
    rück: Selbstwenn Woody Allen einverur-
    teilter Kinderschänderwäre, wäre es zuläs-
    sig, seineMemoirenzuverlegen. Die Ge-
    schichte istvoll vonsolchen Büchern. So
    wie jeder Menschdas Rechtauf Strafver-
    teidigung undAussageverweigerung hat,
    hat er dasRecht, sic hmündlichund schrift-
    lichbesser darzustellen, als er ist.Wenn er
    sich, wieWoody Allen, mit demkünstleri-
    schenWerk längstunsterblichgemacht
    hat, wirdesihm vermutlichauchjemand
    druc ken.
    Ebensokennt die GeschichtekrasseFäl-
    le vonFalschbeschuldigungen. Der
    WhistleblowerJulianAssange, der mit
    konstruierten Vergewaltigungsvorwürfen
    seit neun Jahren erbarmungslos gejagt
    und nun als angeblicher Spion mit Auslie-
    ferung in dieVereinigtenStaaten und 175
    Jahren Haftbedroht wird, dürfteder scho-
    ckierendste Fall sein, unsereDreyfus-Affä-
    re.Vergewaltigung und Kindesmiss-
    brauch,Taten, die jahrzehntelangschwei-
    gend toleriertwurden und nun endlichge-
    bührend verfolgtund bestraftwerden,
    sind damitleider automatischauchzuden
    wirksamstenVerleumdungswerkzeugen
    geworden.
    Den sechzehn Rowohlt-Autoren, die
    ihrenVerlag öffentlich als „unethisch“
    geißelnund genaues „Fact-Checking“
    eines Memoirenbandesfordern, seiversi-
    chert, dasswir für ihrRecht, of fene Briefe
    zu schreiben, jederzeit demonstrieren wür-
    den. Andersals Woody Allens amerikani-
    scherVerlag HachettestorniertRowohlt
    aber keine seit langem geschlossenen
    Verträge.Und daskönntenicht zuletzt
    einem der sechzehn irgendwann zugute-
    kommen. EVA MENASSE


VonEva Menasse erschien zuletzt derRoman
„Tierefür Fortgeschrittene“ (2017).

Man nennt es


Pluralismus


175 YEARS


T0 221 -9 2572 9- 32 —[email protected]
JOSEPHBEUYSOHNE TITEL.1961. ÖLFARBE (BRAUNKREUZ)AUF ZEITUNGSPAPIER
17,5X26,3CM.AUKTION 28. MAI

EINLIEFERUNGEN


WILLKOMMEN


In derKampagne


gegenWoody Allen soll


Rechtdurch Moral


ersetztwerden.Wer


nocheinen Pfifferling


aufunsere freiheitliche


Grundordnunggibt,


darfdas nicht dulden.


FRANKFURTER ALLGEMEINE ZEITUNG Feuilleton MITTWOCH, 11.MÄRZ 2020·NR.60·SEITE 11

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